Heimathafen im Auge des Shitstorms - »Metzer Eck«
Jetzt weiß Wolfgang Thierse, wie sich ein Shitstorm anfühlt. Mehr als 3 000 wütende E-Mails hat er seit Anfang des Jahres erhalten. Alles Reaktionen auf ein Interview in der Silvester-Ausgabe der Berliner Morgenpost. „Ich wünsche mir, dass die Schwaben begreifen, dass sie jetzt in Berlin sind und nicht mehr in ihrer Kleinstadt mit Kehrwoche“, hatte Thierse gesagt. Und: „Ich ärgere mich, wenn ich beim Bäcker erfahre, dass es keine Schrippen gibt, sondern Wecken.“ Es folgte ein Aufschrei der Schwaben: Wie sich Thierse erdreisten könne, Deutschlands Südwesten so zu kritisieren? Wo sie doch durch ihren Fleiß und ihre Sparsamkeit die Hauptstadt finanzierten.
Ein Freitagnachmittag im Januar. Der Vizepräsident des Deutschen Bundestages sitzt in seinem Lieblingslokal, dem Metzer Eck. Draußen liegt beißende Kälte über schneebedeckten Straßen, aber an den schweren Holztischen hier drinnen ist es warm und gemütlich. Das Metzer Eck ist eine der letzten Altberliner Kneipen im Prenzlauer Berg, in diesem Jahr wird das Hundertjährige gefeiert. Alte Fotos und Zeichnungen an den Wänden beglaubigen die lange Geschichte des Lokals. Der Stolz des Hauses ist ein Originalbrief des Berliner Milieu-Zeichners Heinrich Zille an den Wirt, datiert vom 12. Oktober 1927. „So viel Beständigkeit ist bei all der Veränderung schon ein Wert an sich“, sagt Thierse. Bereits zu DDR-Zeiten sei er gern ins Metzer Eck gegangen. „Die haben hier mein geliebtes tschechisches Budweiser.“ Für die Kneipe spreche zudem die Nähe zu seiner Wohnung: Seit 1964 wohnt Thierse nur 200 Meter entfernt von hier am Kollwitzplatz.
Vor dem Fall der Mauer, erzählt er, habe im Prenzlauer Berg eine hochinteressante soziale Mischung bestanden aus Studenten, jungen Familien, Künstlern und Resten des alten Proletariats. „Damals hieß es unter SED-Ideologen bedrohlich, dieser Bezirk sei keine Wohngegend, sondern eine Weltanschauung.“ Nicht von ungefähr seien im Vorfeld der Revolution von 1989 die hiesige Zionskirche und die Gethsemanekirche als Horte des Widerstands gegen das DDR-Regime berühmt geworden. Doch nach 1990 habe sich der Prenzlauer Berg schneller verändert als jeder andere Bezirk. Ganz vorneweg der Kollwitzplatz: „Früher gab es vor meiner Haustür nur eine Kneipe und ein Geschäft.“ Heute ist der Platz eine Touristenattraktion; Läden mit Olivenöl und Wein reihen sich an Bars und Restaurants.
Für Thierse hat dieser Wandel eine freundliche Vorderseite: Der Verfall sei aufgehalten, Lücken seien bebaut und Häuser renoviert worden. Aber es gebe eben auch eine unfreundliche Rückseite: Verdrängung durch Verteuerung. Rund 90 Prozent seiner Nachbarn seien erst nach 1990 an den Kollwitzplatz gezogen. „Diese Homogenisierung, das ist schon ein Verlust“, sagt Thierse. Zumal einige Neuanwohner ein „gewisses Dominanzverhalten“ an den Tag legten. „Es geht zu weit, wenn beim Bäcker plötzlich Pflaumen-Datschi statt Pflaumenkuchen angeboten wird.“ Auch halte er es für „einigermaßen lächerlich“, wenn in Berlin plötzlich ein Rosenmontagsumzug stattfinde. „Es muss in Deutschland nicht überall das Gleiche geben. Kulturelle, regionale Vielfalt und nicht McDonaldisierung der Kultur – das ist mein Ideal.“ Ebenso kritisch sieht er die übertrieben luxuriöse Sanierung von Straßen mit öffentlichen Mitteln. Im Bezirk grassiere die „Polleritis-Krankheit“: Die Gehwege würden mit Pollern übersäht, damit Fußgänger möglichst bequem „lustwandeln“ könnten. „Was soll das?“ Eine Stadt, die kein Geld habe, müsse Prioritäten setzen, findet Thierse. Er jedenfalls leide weniger unter Löchern in der Straße als an Löchern in Schuldächern.
Beide Phänomene – der Bevölkerungsaustausch und das Nettmachen der Straßenzüge – erzeugten bei vielen das Gefühl, „dass einem die Heimat fremd wird“. Diesem Gefühl habe er mit seinen Bemerkungen Ausdruck verliehen. Der Begriff „Schwabe“, sagt er, sei doch nur eine ironische Metapher für den dramatischen Wandel. „Die Schwaben haben das Pech, dass man sie erkennt: Sie können alles außer Hochdeutsch!“
Noch sind wir die einzigen Gäste im Metzer Eck. Kellnerin Kerstin kommt an den Tisch. Kurze, herzliche Begrüßung des Stammgastes. Thierse wirft einen Blick in die Karte. Das Tagesangebot ist Eisbein mit Kartoffeln, Sauerkohl und Erbspüree für 9 Euro. „Klingt lecker, aber ich habe schon warm gegessen“, sagt Thierse. Er entscheidet sich – nicht ausgedacht – für einen Latte Macchiato. Will der Medienprofi Thierse mit dieser Bestellung eine Botschaft senden? „Ich habe doch überhaupt nichts gegen die Veränderungen im Prenzlauer Berg“, beteuert er. „Es ist Quatsch zu glauben, man hätte über einen zentrumsnahen Stadtbezirk eine Käseglocke stülpen und daraus ein Museum des real-sozialistischen Verfalls machen können.“ Als Wahlkreisabgeordneter habe er den Wandel sogar aktiv gefördert, etwa als er Ende der neunziger Jahre für die Sanierung der heutigen Kulturbrauerei an der Schönhauser Allee eingetreten sei, gegen Widerstände aus der Bevölkerung samt persönlicher Anfeindungen.
Im Übrigen sei Berlin immer eine Stadt des Zuzugs gewesen. Thierse selbst ist in Breslau geboren, im Thüringer Eichsfeld aufgewachsen und kam erst zum Germanistikstudium nach Berlin. „Schon Kurt Tucholsky hat geschrieben, dass der richtige Berliner entweder aus Posen oder aus Breslau stammt – insofern bin ich Urberliner.“ Ihm sei auch bewusst, dass man die „Gentrifizierung“ einzelner Stadtteile nicht verteufeln dürfe. Für das nördliche Neukölln sei es ein Segen, dass es in den vergangenen Jahren viele junge Leute anziehen konnte. Denn: „Wenn in einem sozial schwachen Gebiet kein Austausch stattfindet, versteinern die Probleme.“ Allerdings müsse die Stadt dafür sorgen, dass die Verdrängten anderswo in Zentrumsnähe bezahlbaren Wohnraum finden. Dies sei im Prenzlauer Berg, der Vorhut der Gentrifizierung, verpasst worden.
Gerade weil er den Wandel seiner Heimat differenziert betrachtet, ärgert ihn die einseitige Berichterstattung nach dem Silvester-Interview. „Der Vorgang sagt auch etwas über den verluderten Journalismus in Deutschland aus“, sagt Thierse. „Journalisten fordern immer, dass Politiker kantig sein sollen. Aber wehe, sie äußern sich kantig – dann stürzt man sich drauf und schlägt die Kanten weg.“ Peer Steinbrück habe als Spitzenkandidat der SPD ja eine ganz ähnliche Erfahrung gemacht.
Ich frage Thierse, ob er als Intellektueller und hoher Repräsentant des Staates eigentlich eine Distanz verspüre zu den alteingesessenen Berlinern. „Auch das verstehen die Feuilletonisten nicht“, poltert Thierse. „Man kann durchaus zugleich Intellektueller sein und Bodenhaftung haben.“ Knapp 23 Jahre lang sei er unermüdlich im Wahlkreis unterwegs gewesen. Die FAZ habe sogar einmal geschrieben, er kenne jede Mülltonne im Prenzlauer Berg. „Außerdem bemühe ich mich um eine Sprache, die die Leute verstehen.“
Inzwischen hat sich das Lokal gefüllt. Am Tisch neben uns sitzen zwei junge Männer im Studentenlook. Im hinteren Schankraum haben überwiegend ältere Gäste Platz genommen. Die Kundschaft des Metzer Eck verändere sich mit der Zeit, hatte Kerstin mir zuvor erzählt: „Das Stammpublikum wird weniger, aber immer mehr junge Leute finden den Weg hierher.“
Auch für Thierse persönlich steht eine Veränderung an: Im September wird der 69-Jährige aus dem Bundestag ausscheiden. Was kommt dann? „Ich habe mich vor der Politik nicht gelangweilt und werde es auch danach nicht tun“, sagt er. „Aber ich bin neugierig, ob dann noch jemand etwas von mir wissen will.“ Er sei am Kollwitzplatz fest verwurzelt und möchte dort wohnen bleiben. Ein Umzug sei schon wegen seiner vielen Tausend Bücher faktisch ausgeschlossen. „Ich wohne ja im ersten Stock“, sagt Thierse, „ich glaube, dass ich da auch mit 80 noch hochkomme.“