Her mit den jungen Wilden!
Die Bundestagswahl 2002 ist Geschichte. Das Ergebnis - ein knappes. Die rot-grüne Regierung wurde wiedergewählt. Verluste der SPD im Westen und Süden wurden durch Gewinne im Osten ausgeglichen. 39,7 Prozent erreichten die Sozialdemokraten in den neuen Ländern. Ein Ergebnis, das noch wenige Monate zuvor niemand für möglich hielt. Noch dazu, nachdem die SPD im April 2002 in Sachsen-Anhalt spektakulär die Regierungsverantwortung verloren hatte. Gerettet wurde die Regierung Schröder durch den Absturz der PDS. Die verlor 600.000 Stimmen - 24 Prozent ihrer Wählerinnen und Wähler von 1998. Die Hälfte von ihnen ging nicht wählen, die andere Hälfte wechselte zur SPD. Für die PDS ist das Ergebnis eine Katastrophe. Aus dem Bundestag heraus katapultiert, kann sie ihre bundespolitischen Ansprüche erst einmal vergessen.
Die latente Proteststimmung in Ostdeutschland war in den letzten Monaten vor der Wahl verflogen. Fraglich ist, ob dies so bleibt. Klar ist andererseits, dass die PDS für die Ostdeutschen in den vergangenen Jahren zunehmend eine normale Partei geworden ist, ihre Vergangenheit spielt eine immer kleinere Rolle. Und in den Ländern, den Städten und Gemeinden existiert die PDS weiter. Nach wie vor ist sie die mitgliederstärkste Partei im Osten.
Spannend ist nun die Frage, welchen Nutzen die SPD aus dem Scheitern der PDS ziehen kann? Kann es den Sozialdemokraten gelingen, Wähler und Anhänger der Postkommunisten dauerhaft an sich zu binden? Grob gesprochen lassen sich die Anhänger der PDS in drei Gruppen einteilen, von denen der Erfolg der Partei bislang abhing: die alte Garde, die jungen Wilden und die Unzufriedenen.
- Die alte Garde ist die Voraussetzung dafür, dass die PDS als Partei überhaupt funktioniert. In der Partei selbst dominiert diese Gruppe. 67 Prozent der Mitglieder sind über 60 Jahre alt. Sie entstammen noch der SED, haben die DDR mit verwaltet, mit zu Grunde gerichtet. Sie gehören zur alten Funktionselite der DDR, haben nach der Wende nicht immer den Job, durchweg aber Status und inneren Halt verloren. Mit dem neuen System haben sie ihre Probleme. Dennoch: Über die PDS wurden sie in die Bundesrepublik integriert. Das ist vielleicht die historische Leistung der PDS. Für diese Gruppe ist die PDS Anwalt und Brücke zum alten Leben. Innerhalb der PDS sind die Alten noch immer die Aktiven, die Flugblätter verteilen, in Vereinen mitmischen, Vor-Ort-Beratungen machen. Doch die Genossen werden alt. Wer steigt mit 70 schon noch auf Laternen, um Plakate zu installieren? So brechen der PDS in den nächsten Jahren die Aktiven weg.
Banken privatisieren mit der PDS
- Die jungen Wilden. Sie sind die Newcomer der PDS. Die Partei hat es verstanden, über ihre Oppositionsrolle viele linksalternative junge Menschen anzusprechen. Das war, denkt man an die "Friedenspolitik" der SED, historisch nicht immer ganz geradlinig. Doch die PDS nutzte virtuos und erfolgreich die NATO- und West-Ressentiments der Ostdeutschen aus. In jüngster Zeit allerdings hat die PDS ihre neue Unschuld verloren. Mit den Regierungsbeteiligungen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern musste sie von ihrer strikten Oppositionsrolle Abschied nehmen. Sie hat die Steuerreform im Bundesrat mit getragen, genau wie die neue kapitalgedeckte Rente oder das CDU-freundliche Zuwanderungsgesetz. Statt Banken zu verstaatlichen, privatisiert die PDS in Berlin gerade eine. Und in ihrer Opposition gegen den Krieg hatte die PDS, zumindest was den Irak angeht, plötzlich einen unerwarteten Verbündeten - den Kanzler persönlich.
Insgesamt wollte die PDS in den letzten Jahren nicht mehr abseits stehen. Die Fleischtöpfe der Macht waren zu verlockend. In ihrem Streben, irgendwann irgendwie mitzuregieren, wurde sie Stück für Stück zu einer "normalen" Partei. Und damit austauschbar. Und so letztlich unattraktiv für junge Linke, die hofften, mit der PDS protestieren zu können. Vorbei das Verruchte, das Wilde an der PDS.
Für die Jungen im Osten war Stoiber nichts
Die Konsequenz war bei der Bundestagswahl zu besichtigen. Die PDS brach massiv bei den jungen Wählerinnen und Wählern ein. 9 Prozent verlor sie bei den Wählern unter 30 Jahren. Denn bei dieser Wahl kam noch etwas dazu: der Stoiber-Effekt. Der Bayer war bei den Jungen im Osten besonders unbeliebt. Und als sich die Machtfrage stellte, wurde klar, dass Stoiber letztlich nur mit der SPD wirksam verhindert werden konnte.
- Die Unzufriedenen. Groß geworden ist die PDS Anfang der neunziger Jahre. Mit der ostdeutschen Wirtschaft ging es immer mehr bergab, die Arbeitslosenzahlen stiegen und stiegen. Der Bund sah zu und meinte, mit seinen Milliardentransfers genug geleistet zu haben. Abseits von Solidaritätszuschlag und Solidarpakt war von Solidarität mit den neuen Ländern nicht viel zu spüren. Geschweige denn von neuen Ideen oder neuen Initiativen. Die Menschen im Osten hatten oft das Gefühl, der Osten komme in der "neuen" Bundesrepublik kaum vor - oder sei noch gar nicht angekommen. Zwar profitierte die SPD vom Frust über die Kohl-CDU, doch am eindrucksvollsten legte die PDS zu. Schließlich brauchte sie kaum Kompromisse mit den Westdeutschen einzugehen, keinen Spagat halten zwischen den Interessen in Ost und West. Mit der PDS hatte man den Osten pur.
Das brachte der Partei neue Wähler. Doch auch hier gab es Grenzen. Die waren schon im April 2002 in Sachsen-Anhalt zu erkennen. Die Unzufriedenheit mit der Höppner-Regierung traf nicht nur die SPD. Auch die PDS, die ja tolerierungshalber mit im Boot saß, verlor viele Stimmen. Erstmals konnte die PDS von der Proteststimmung im Osten nicht profitieren. Spätestens da hätte den Postkommunisten klar werden müssen, dass sie es mit ihrer Strategie des Sowohl-als-auch bei der Bundestagswahl schwer haben würden.
Gysis Abgang - das Ende von etwas
Der Rücktritt von Gregor Gysi als Berliner Wirtschaftssenator tat ein Übriges. Im Osten, wo Personen bei Wahlen eine größere Rolle spielen als Parteiprogramme, kam dieser Schritt nicht gut an. Gysi war doch das personifizierte Gewissen der Ossis. Überhaupt erst mit den Schwierigkeiten in den neuen Ländern war er groß geworden. Niemand sonst in der Republik konnte mit so viel Charme die ostdeutschen Befindlichkeiten zum Ausdruck bringen. Und auf einmal sollte damit Schluss sein? Aber vielleicht ist der Gysi-Rücktritt ja auch nur ein Zeichen dafür, dass die Unterschiede zwischen Ost und West sich vielleicht doch anders kanalisieren lassen als über Talkshows und ein wenig Populismus. Und vielleicht sah Gysi selbst ja sein Ende als Robin Hood des Ostens heraufziehen.
Mit dem Hochwasser entlang von Elbe und Mulde wurde die ostdeutsche Sonderrolle der PDS dann einfach hinweg gespült. Der Kanzler packte beherzt zu, und es sah so aus, als wären Ost- und Westdeutsche ein großes Stück zusammengerückt. Die schlechte Stimmung in den neuen Ländern war dahin, vorerst. Und der wenig charismatischen "Viererbande" der PDS um Gabi Zimmer gelang es nicht im Ansatz zu verdeutlichen, wofür sie stand und wo sie hinwollte.
Hinzu kam Edmund Stoiber, den der Osten nicht mochte. Schon vor dem Wahltag wurde klar, dass der Bayer nur qua Sieg der SPD nach Hause geschickt werden konnte. Sprüche wie "Wir machen jedem Kanzler Druck" mussten den Untergang der PDS da nur noch beschleunigen. Denn den Ossis war es eben nicht egal, wer Kanzler sein würde. Die Aufspaltung der PDS-Anhänger war perfekt.
Ein Modrow bei der SPD? Undenkbar!
Nach dem Wahltag ist nicht nur das große Chaos ausgebrochen, sondern auch der Machtkampf in der PDS. Der Geraer Parteitag hat den Öffnungskurs erst einmal gestoppt und eine tief zerstrittene Partei hinterlassen. "Volle Kraft zurück" heißt die Parole für die kommende Zeit. Damit ist die PDS bundespolitisch vorerst gescheitert. Nicht mehr und nicht weniger. Gleichwohl: In den Ländern und Kommunen bleibt das Obstruktionspotential der PDS beträchtlich. Auf die SPD könnten auch deshalb ungemütliche Zeiten zukommen, weil der jüngste PDS-Parteitag eher die Anhänger eines strikten Oppositionskurses gestärkt hat, die eine härtere Gangart gegenüber den Sozialdemokraten bevorzugen. Umso wichtiger ist es, die Spannungen bei der PDS so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Dazu gehört, wo nötig, Abgrenzung, wie bei der Bündnisfähigkeit im Bund. Daneben hat sich aber - wie in Mecklenburg-Vorpommern zu besichtigen war - auch die Strategie des Umarmen-und-dabei-Erdrücken ausgezahlt. Ein Auseinanderbrechen der PDS ist ebenfalls nicht auszuschließen. Das Rumoren um die Gründung einer neuen Linkspartei oder spektakuläre Parteiaustritte zeugen davon. Auch die vielen Bürgermeister oder Landräte der PDS (von den Ministern zu schweigen) dürften noch eine Weile rätseln, von welcher Partei sie nun eigentlich Rückendeckung erhalten. Der Selbstzerlegungsprozess der PDS wird wohl noch eine Weile andauern.
Die SPD sieht erstmals eine ernsthafte Chance, der PDS-Anhänger im Osten dauerhaft habhaft zu werden. Und eine strukturelle Mehrheitsfähigkeit zu erlangen. Fraglich ist, ob diese Hoffnung ohne weiteres Zutun aufgehen wird. Die Angebote von Matthias Platzeck, Wolfgang Thierse und anderen jedenfalls, die PDS-Leute könnten auch in der SPD mitarbeiten, sind Propaganda. Die Aussagen sollen ein Symbol sein für die Öffnung der Partei. Keiner kann sich vorstellen, dass die alten PDS-Kader bei den Sozialdemokraten eine Chance haben. Niemand glaubt, dass sie wirklich kommen würden. Denn gerade die alte Garde ist am engsten mit der PDS verbunden. Ein Modrow bei der SPD? Nicht vorstellbar - und zwar für beide Seiten. Hingegen gibt es gute Chancen, dass die beiden anderen Gruppen - die Jungen Wilden und die Unzufriedenen - den Weg zur SPD finden können. Nicht unbedingt als Mitglieder, als Wähler schon.
Annäherung an das Unbekannte
Dafür wird die SPD allerdings einiges tun müssen. Sie muss die Fenster weit aufreißen und den Dialog aufnehmen, zum Beispiel mit jungen Bewegungen. Attac ist ein Beispiel. Aber auch andere Initiativen und Gruppen, die häufig mit logistischer und personeller Hilfe der PDS arbeiten, müssen angesprochen werden. Diese Annäherung ist für viele Sozialdemokraten nicht leicht, zu groß sind die kulturellen Unterschiede zu lockeren, manchmal anarchisch organisierten Gruppen oder Initiativen. Doch gerade sie könnten eine wichtige Frischzellenkultur für die ostdeutschen Sozialdemokraten sein. Einige gute Beispiele gibt es bereits. Das sächsische "Courage-Projekt" etwa organisiert sehr erfolgreich mit jungen Leuten zusammen Projekttage für Schüler, um mit ihnen über Rechtsextremismus, Demokratie und Ausländerfeindlichkeit zu sprechen. Die Sozialdemokraten haben in der Anfangszeit dieses Projekt mit getragen - zum großen Nutzen für die Partei, die PDS ist bisher dort kaum in Erscheinung getreten.
Jenseits dieser jungen und manchmal alternativen Gruppen muss die SPD in ihrer zweite Regierungsperiode die besondere Situation in Ostdeutschland stärker berücksichtigen. Denn trotz aller Gemeinsamkeiten in der neuen Republik gibt es im Osten eine Reihe von Problemen, die mit der gut geölten Politikmaschine des Westens nicht zu bearbeiten sind. Ganz vorne steht der massive Aderlass an jungen Leuten, den viele Regionen im Osten zu verkraften haben. Mittlerweile ist die Abwanderung das Thema Nr. 1 in den neuen Ländern, noch vor der Arbeitslosigkeit. Zukunftsperspektiven fehlen an allen Enden.
Der Osten verzeiht kein zweites Mal
In den vergangenen Jahren ist die Arbeitslosigkeit im Westen leicht gesunken, im Osten aber nochmals gestiegen - auf ein schwindelerregendes Niveau, dass es nach der Wende noch nicht gab. Ein zweites Mal werden die Ossis Gerhard Schröder nicht verzeihen. Der Schlüssel für den Abbau der latenten ostdeutschen Unzufriedenheit liegt beim Abbau der Massenarbeitslosigkeit. Hier müssen zumindest kleine fühlbare Erfolge her. Denn seit Ende der neunziger Jahre liegen die Wachstumsraten in Ostdeutschland unter den westdeutschen - mit der Folge, dass die Aufholjagd erst einmal vorbei ist. Mit einer zweiten Infrastrukturoffensive in den Kommunen und im Bildungssektor und einer intensiven einzelbetrieblichen Know-how-Förderung kann es gelingen, einen neuen Aufschwung im Osten herbeizuregieren.
Denn bei aller Freude über die Leipziger BMW-Ansiedlung: Allein Sachsen bräuchte 400 solcher Großprojekte um seine Arbeitsplatzprobleme zu lösen! Und wo die herkommen könnten, weiß nun wirklich keiner. Erschreckend ist die Ideenlosigkeit, wie es im Osten weiter gehen soll. Ein Zeichen zum Aufbruch könnte vielleicht eine Hartz-Kommission für den Osten sein. Doch materielle Rückschritte waren nur ein Teil der schlechten Stimmung im Osten. Der zweite, vielleicht noch wichtigere Aspekt ist psychologischer Natur. Nie wurde so intensiv über die neuen Länder geredet, wie während und nach der großen Flut.
Nur sind Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in vielen Bereichen bisher eben noch nicht zusammengewachsen. Nur vier der 62 Bundesminister und Staats-sekretäre kamen aus dem Osten, jetzt sind es immerhin neun. Wohin man schaut, Denkweise und Lebenserfahrung aus Ostdeutschland vermisst man fast durchgängig. Solange die primär "west-"deutschen Parteien nicht stärker "gesamt-"deutsch auftreten, braucht sich auch keiner zu wundern, wenn die PDS einen Alleinvertretungsanspruch für die Ossis reklamiert. Wer soll in Zeiten von härter werdendem Verteilungskampf die Interessen der Ossis vertreten? Denn auch in den Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften dominiert westdeutsches Denken. Die neuen Bundesbürger sind auch heute noch nicht in die seit Jahrzehnten gewachsenen Lobby- und Kommunikationskanäle der Bundesrepublik integriert. Es fehlt eine lautstarke Vertretung ostdeutscher Interessen. Wenn die SPD hier mutige Schritte macht, kann es ihr gelingen, der PDS auf einem ihrer ureigensten Felder dauerhaft Paroli zu bieten. Gebraucht wird dazu vor allem mehr Mut. Mut zu ungewöhnlichen Entscheidungen, auch zu ungewöhnlichen Personalentscheidungen. Die Ostdeutschen konnten noch keine 20 oder 30 Jahre Politik üben, wie ihre westdeutschen Konterparts. Und so lange sollten sie nicht noch warten müssen.
Es geht um mehr Sensibilität in der neuen Republik und darum, die Ostdeutschen mit einzubeziehen und sie sichtbarer zu machen. Zum Wohlfühlen reicht Geld allein nicht. Die ganz speziellen Lebenserfahrun-gen der Neufünfländer müssen integriert und nicht entwertet werden. Das wäre mindestens genauso gut angelegtes Geld wie die 156 Milliarden Euro aus dem Solidarpakt. Allerdings sollte sich die neue Republik damit keine Zeit mehr lassen. Denn von Verantwortung kann man sich nicht freikaufen.
Immerhin: Die SPD hat eine - auf absehbare Zeit einmalige - Chance. Wenn sie ihre Regierungsverantwortung offensiv und geschickt nutzt, kann sie der PDS in Ostdeutschland den Teppich unter den Füßen noch ein Stückchen weiter entziehen. Den Schlüssel zu den Anhängern der PDS hat die SPD bei der Bundestagswahl gefunden. Das Schloss muss sie aber erst noch knacken. Die SPD und der Osten haben nun noch vier weitere Jahre die Chance, sich gegenseitig kennen zu lernen. Eine Mehrheit für lange Zeit könnte das Ergebnis sein.