Höchste Zeit für ein neues Bündnis
Machen wir uns nichts vor: Für Sozialdemokraten, progressive Liberale und multikulturelle Kosmopoliten aller Lager der ehedem ziemlich breiten und linken Mitte sind dies schwierige Zeiten. Die Stimmung in den Demokratien ist säuerlich geworden. Die öffentliche Unzufriedenheit wächst. Der Unmut äußert sich auf den Straßen, das Misstrauen gegenüber den traditionellen politischen Eliten ist unübersehbar. Zugleich verlieren die politischen Institutionen und Autoritäten an Ansehen, nicht zuletzt die Medien. Dies ist keine Zeit für Aufklärer.
Es ist, als bereite die Gesellschaft sich auf eine neue historische Veränderung vor. In künftigen Geschichtsdarstellungen wird dieser Prozess im Rückblick dann vielleicht als Übergangsphase beschrieben werden: als die Phase des Wandels von der einstigen Erfolgskombination von parlamentarischer Demokratie, Sozialstaat und Rechtsstaat zu einer anderen, einer „neuen Demokratie“ mit anderen Prioritäten. Vorrangig wären in diesem neuen Aggregatzustand der „Demokratie“ Effizienz und Führungsstärke. Als entscheidende stimmungspolitische Eckwerte würden wieder, wie früher, das „gesunde Volksempfinden“ und die Wertvorstellungen einer homogenen Nationalkultur dienen. In den historischen Rückblicken würde an die Verdienste der völkisch-abendländischen Erneuerungsbewegung in Ostdeutschland erinnert werden und gewiss auch daran, dass der Tsunami-artige Zustrom an morgenländischen Zuwanderern die Veränderung gleichsam erzwungen hätten. Zugegeben, ein zugespitztes Szenario. Ein Alptraum. Er möge es bleiben.
Aber wie bekommt man unter den gegenwärtigen Bedingungen – Migrationsdruck, Bürgerkriege, Terrorismus, populistischer Aufruhr – die inneren sozialen Spannungen wieder unter Kontrolle? Dazu braucht es eine demokratische Fortschrittskoalition der Besten und Klügsten. Und Mut, Kreativität, Ausdauer, Kraft. Die Progressiven haben sich selbst stets gerne so gesehen, nicht immer, aber doch immer wieder mal zu Recht. Das friedliche Ende des Kommunismus war nicht zuletzt das Ergebnis der Hartnäckigkeit und Risikobereitschaft progressiver Politiker in Westeuropa. Um diese Gruppe steht es aktuell aber nicht zum Besten. Ihre politische Glanzzeit hat sie hinter sich. Aber wer, wenn nicht sie, soll die Implosion der sozialstaatlichen Demokratien verhindern? Etwa die scheinstarke Achse Cameron – Merkel / Schäuble – Rajoy – Juncker / Tusk, im Bund mit dem Scheindemokraten Orbán?
Der Widerstand gegen die Entdemokratisierung der Demokratie kann nur auf der Basis eines breiten politischen Bündnisses der progressiven, kosmopolitischen und sozialliberalen Kräfte erfolgreich sein. Der Gedanke liegt nahe, dass die Führungsrolle dabei der Sozialdemokratie zukäme. Sie hat die längste historische Erfahrung. Ja, das schon. Aber hat sie auch die Kraft und die Leute dafür? Sie ist bereits geschwächt durch den historischen Verlust der Öko-Generation. Inzwischen treten zudem neue linkssoziale Protestparteien wie die Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien als Konkurrenten auf den Plan, die Umfragen zufolge jetzt schon stärker sind als die alten Arbeiterparteien. Setzt sich also die notorische Zersplitterung der politischen Linken fort?
Den unreifen Streit um die Frage, wer die „bessere Linke“ vertritt, können sich die – unterschiedlich progressiven – Parteiführer der Linken, von Miliband, Hollande, Renzi und Gabriel bis Tsipras (Syriza) und Iglesias (Podemos) politisch nicht leisten. Sie dürfen die Arbeit an einer Welt der sozialen Gerechtigkeit, der kulturellen Toleranz und des Gewaltverzichts nicht dem argentinischen Papst überlassen. In dieser historischen Auseinandersetzung mit den Kräften des Autoritarismus und der national-konservativen Engstirnigkeit braucht die demokratische Idee ein Bündnis aller progressiven Kräfte, der politischen Profis mit den fortschrittlichen Denkern und Akteuren in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Sozialarbeit, in der Zivilgesellschaft insgesamt.
Ein Bündnis der reinen Lehre wird das nicht sein können. Kompromisse werden unverzichtbar sein. Aber so hätte die demokratische Linke an der Gestaltung der Zukunft mehr Anteil als in der Rolle des Juniorpartners und Sozialkorrektivs der Konservativen. Und nur so wird den Demokraten die Entschärfung der aktuellen politischen Zeitbombe gelingen.