Gegen den Burnout der Progressiven
Auch vereinzelte tröstende Erfolge wie bei der Europawahl in Deutschland und Italien oder lokal beim Kampf um Bürgermeisterposten täuschen nicht darüber hinweg: Dies ist keine Zeit der progressiven Mitte. Die Sozialdemokratie ist vielmehr in nahezu allen Demokratien auf dem Rückzug. Politisch steht sie mit dem Rücken zur Wand, erschöpft und entkräftet. Kollektiver Burn-out, von Skandinavien bis auf die Iberische Halbinsel.
Die Folge: Obwohl die Mitte-rechts-Parteien keine echte Herausforderung darstellen, sondern im Gegenteil eher wie eine Kopie der verblassenden Sozialdemokratie mit vergleichbaren Krisensymptomen wirken, sind eigene Mehrheiten für die Erben der Arbeiterbewegung und der Aufklärung außerhalb der Reichweite. Und parlamentarische Bündnisse der Linken sind angesichts der Zersplitterung des „Lagers“, das keines mehr ist, nur schwer oder gar nicht herstellbar. Hinzu kommt, dass selbst da, wo „progressiven“ Parteien der Durchbruch ins politische Machtzentrum gelingt, dies ohne spürbare politische Konsequenzen bleibt. Besonders krasse Beispiele: das Frankreich des etwas desorientiert wirkenden Sozialisten François Hollande und vor allem die Vereinigten Staaten des als Hoffnungsträger der westlichen Linken gestarteten, aber an der Blockadepolitk der amerikanischen Rechten aufgeriebenen „Yes, we can“-(Sozial-)Demokraten Barack Obama. Weit und breit keine Spur von jener „kulturellen Hegemonie“, die man einst mit Trotz und Stolz und Aussicht auf Erfolg beansprucht hatte. Kein echter Lichtstreif, nirgends.
Natürlich fällt auf, dass der historische Niedergang der progressives zusammenfällt mit dem Aufstieg der populistischen Bewegungen und Parteien innerhalb der Demokratien des globalen Kapitalismus, auch links, vor allem aber rechts der politischen Mitte. Das Phänomen beobachten wir in Europa spätestens seit der Jahrtausendwende. Die Vorboten sind schon etwas länger unterwegs. Begonnen hat es in Wien. Noch vor der großen europäischen Wende mit all ihren legitimen aber auch trügerischen Hoffnungen, erblühte in Österreich die Sumpfblüte des Rechtspopulismus.
Jörg Haider aus Kärnten, profiliert als Provokateur wider die berüchtigte Konsensherrschaft der Wiener Großparteien, international aber bald bekannter als gelegentlicher Nazisprücheklopfer, hatte sich in den späten achtziger Jahren gemeinsam mit ein paar rechtsradikalen Kameraden die ehemalige Altnazi-Partei FPÖ gekapert und machte sie innerhalb einer Dekade zur europaweit berüchtigten Urzelle des völkisch-rabiaten Populismus. Neben Umberto Bossi, dem Gründer der regionalistischen Lega-Nord in Italien, wurde Haider zum ersten rechtspopulistischen Trendsetter in Europa. Radikale Rechtsparteien fassten bald darauf nahezu überall Fuß. Ein Vierteljahrhundert danach ist die aggressive Melange aus EU-feindlichen Nationalisten, antidemokratischen Rechtspopulisten und offen rassistischen Rechtsextremisten aus der europäischen Landschaft nicht mehr wegzudenken. Und wie es aussieht, ist diese Geschichte noch nicht zu Ende erzählt.
Denn dass diese Gegen-„Kultur“ zur ernsthaften Herausforderung für Europas Demokratien werden kann, ist angesichts neuer Bündnisversuche offenkundig. Die gegenseitigen Sympathiesignale von Wladimir Putins „Eurasien“-Propagandisten und Marine Le Pens antidemokratischen Los-von-Amerika-Predigern erinnern stark an vergleichbare Herrschaftsutopien aus den dreißiger Jahre, als autoritäre und faschistische Bewegungen überall in Mitteleuropa starken Zulauf hatten. Adolf Hitler und die Nazis waren keine Einzelgänger. Sie waren nur radikaler und brutaler als die anderen. Und sie alle nährten sich aus denselben trüben philosophischen Quellen. Der faschistoide Putin-Flüsterer Alexander Dugin schwärmt öffentlich von den reaktionären deutschen Vordenkern des frühen Nationalsozialismus.
Wie Beteiligungswünsche missbraucht werden
Es ist – bei aller historischen Ironie – gewiss kein Zufall, dass die nostalgisch-autoritären Träumer und Tabubrecher aus der EU und die nostalgisch-zaristischen Großmachtfantasten aus Russland sich neulich in der alten geopolitischen Mitte trafen, in Wien: diese kleine, eher zufällig bekannt gewordene Geheimsession der neuen Loge ist nicht so kurios, wie sie beim ersten Anschein anmutet. Dieses Treffen der Neomachiavellisten, der erwähnte Dugin aus Moskau mitten drin, bestätigt vielmehr die Vermutung, dass wir uns in einer Zeit des Übergangs befinden.
Wir sind Zeugen eines historischen Prozesses, der tendenziell mehr und folgenreicher sein könnte als der oft zitierte populist moment, mit dem der amerikanische Politologe Lawrence Goodwyn die sozialhistorischen und psychologischen Entstehungsbedingungen von Protestbewegungen zusammengefasst hat. Wir sollten heute präziser von einem potenziellen „autoritären Moment“ sprechen. Dass die Akteure ihre Kampagne gegen die liberale Demokratie als Kampf um mehr oder um wahre Demokratie tarnen, tut nichts zur Sache. Selten ist vor allem die legitime Forderung nach mehr direkter Beteiligung der Bürger so missbraucht worden wie von den Rechtspopulisten, unbeschadet der Tatsache, dass Demokratiedefizite und entsprechender Reformbedarf zweifellos bestehen. Der Politikwissenschaftler Frank Decker mahnt in diesem Sinne davor, dass es nicht weit sei „von der populistisch dominierten plebiszitären Demokratie zum quasi-demokratischen Autoritarismus“.
Wer nicht provoziert, kann nicht mehr gewinnen
Ist die Entwicklung zu stoppen? Gewiss nicht ohne demokratischen Widerstand und politischen Kampf. Und nur unter Verzicht auf Illusionen. Eine davon ist der Irrtum, dass die Allesversprecher, Wutverstärker und Hassprediger der „reaktionären Internationale“ (taz) aus Putinisten, Órbanisten und LePenisten mit klassischen Wahlkampagnen zu stoppen sind. Die guten alten Zeiten, in denen politischer Machtkampf mit modernen Bildern, flotten Sprüchen und möglichst präsentablen Kandidaten entschieden wurde, sind vorbei. Gewiss kann man mit einer ungeschickten und kleinlauten Kampagne eine Niederlage geradezu erzwingen. Aber die nostalgische Beschwörung von Willy Brandts erfolgreichem Wahlkampf des Jahres 1972 (Rekordergebnis: 45,8 Prozent) ist die falsche Pille gegen die aktuellen Probleme der liberalen Demokratien.
Die Bedingungen der politischen Meinungsbildung haben sich seither gründlich geändert. Die gewandelte Medienlandschaft unserer Demokratien bevorzugt mehr denn je diejenigen, die das Reizschema der auf Ablenkung und Unterhaltung gepolten Talkshow-gewohnten Öffentlichkeit besser bedient. Das Geschäft der Aufklärung ist schwieriger geworden. Wer nicht zu provozieren versteht, hat mit dem nüchternen Mix aus Wahrheit und Ehrlichkeit gegenüber populistischen Hütchenspielern und Trickbetrügern große Nachteile. Die Demokraten der Aufklärung müssen auf anderen Feldern punkten. In der Gesellschaft. Im Alltag. Zwischen den Wahlen. Der gesellschaftliche Machtkampf wird nicht am Wahlsonntag entschieden. Noch wichtiger sind die Jahre davor.
Die demokratischen Volksparteien, vor allem die Mitte-links-Volksparteien, müssen akzeptieren, dass die nächste Runde am Tag nach dem Wahltag beginnt. Das bedeutet nicht Dauerwahlkampf, aber die Beschäftigung mit den aktuellen politischen Fragen der Gesellschaft – auf allen Ebenen der Politik; in der Nachbarschaft und in der eigenen Partei; in der Zivilgesellschaft; in der breiten Öffentlichkeit, über Medien und in öffentlichen Auftritten; und nicht zuletzt in den sozialen Netzwerken!
Mit den Mitteln der Hamas zu neuen Erfolgen
Nur die häufige Präsenz und die glaubwürdige Bereitschaft, sich im Ernstfall um politische oder auch mal persönliche Problemfälle zu kümmern, erzeugt und sichert Vertrauen. Die Einwände gegen das Modell der „Kümmerer“-Partei sind bekannt. Parteimanager verdrehen die Augen: Der organisatorische Aufwand sei zu kompliziert, zu teuer, stehe in keinem Verhältnis zum Erfolg. Das dürfte ein Irrtum sein. Die NPD in Ostdeutschland oder Dortmund macht es anders und erzielt damit lokal Wirkung. Ebenso, beispielsweise, die ex-maoistische Sozialistische Partei in den Niederlanden, die sich auf kommunale Arbeit konzentriert. Oder die Hamas in Gaza. Das „Hamas“-Prinzip nennt der amerikanische Politologe Todd Gitlin dieses Modell: Helfen, Kümmern, als Basis für politische Unterstützung und Loyalität. Die Idee ist überall die Gleiche, ohne dass reine Mitmenschlichkeit dahinter steckte: Vertrauensarbeit und Solidarität beginnen daheim. Da, wo die Probleme sind. Und wo Helfen neue Freunde schafft.
Strategisch braucht die demokratische Linke aber neben der unentbehrlichen Sozial- und Vernetzungsarbeit im Alltag auch ein programmatisches Projekt für den Großkonflikt im Bereich der Ideen und Visionen, wenn die Rückgewinnung der kulturellen Hegemonie eine Chance haben soll. Die Auseinandersetzung mit dem wiedergeborenen Autoritarismus in Europa wird nicht allein mit dem Kampf um Mindestlöhne und um das Rentenalter gewonnen. Für diesen Großkonflikt gegen die antidemokratischen Demagogen braucht Europas Sozialdemokratie ein neues Projekt zur Stärkung, Weiterentwicklung und Vitalisierung der liberalen Demokratie. Es muss der Ehrgeiz ihrer nationalen Mitgliedsparteien sein, die Demokratieverachtung der Rechtspopulisten des Westens und deren „eurasischen“ Verbündeten ein für alle mal aus der politischen Arena zu jagen. Kleinlautes Schweigen als Reaktion auf rechtsradikale Wahlerfolge wäre ein schwerer Fehler. Der Versuch, die Populisten durch Anpassung, Imitation und Übernahme zentraler Wahlaussagen kaltzustellen, käme darüber hinaus einer Selbstaufgabe der Demokraten gleich. „Mehr Demokratie wagen“, der Kernsatz in Willy Brandts Regierungserklärung von 1969, ist aktueller denn je.