Hoffnungsträger Syriza? Ja!
Syriza ist das gemeinsame Produkt der Krisenpolitik der EU seit Ausbruch der Finanzkrise und der Reaktionen der griechischen Regierungen darauf. Seit 2008 und der drohenden staatlichen Insolvenz Griechenlands 2010 wird die EU-Politik im Wesentlichen von Bundeskanzlerin Angela Merkel gestaltet. Allerdings hat die deutsche Sozialdemokratie mit Peer Steinbrück und Olaf Scholz 2008 in erheblichem Maße die Bankenkrise abgewehrt und die Voraussetzungen für den raschen Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft nach dem Einbruch geschaffen.
In der politischen Verantwortung der kleinen Koalition unter Angela Merkel wurde seit 2010 die Bankenkrise zur so genannten Eurokrise umdefiniert. Diese umfasst mehrere Merkmale: eine (Staats-)Schuldenkrise, eine Wirtschaftskrise als Folge der Bankenkrise – und weiterhin eine Bankenkrise. Übrig blieb der Begriff der Staatsschuldenkrise. Die politischen Maßnahmen konzentrierten sich daher vor allem auf die Konsolidierung der Haushalte durch Ausgabenkürzungen. Verantwortlich für ökonomische Fehlentwicklungen waren nun nicht mehr die Banken, sondern einzelne Staaten und Politiker. Dies war und bleibt das Einfallstor für nationale Vorurteilsdeutungen.
Die soziale Schlagseite der Sparpolitik
Zugleich hatte die Sparpolitik von Anfang an eine soziale Schlagseite zulasten öffentlicher Güter wie Bildung und Gesundheit – und damit der Menschen, die auf diese Güter angewiesen waren. Eine Haushaltskonsolidierung mittels Steuererhöhung wurde angesichts der damaligen konservativen politischen Mehrheiten abgelehnt. Im Gegensatz zur Austeritätspolitik fand die Alternative des Deficit-Spending zugunsten von Wachstum und Schuldentilgung keine Mehrheiten.
Seit 2013 wird vermehrt argumentiert, dass diese einseitige Politik gravierende Konsequenzen hat, die sowohl die EU (beziehungsweise den Euro) als auch demokratische Politik in Misskredit bringen und den ohnehin schwachen Volkswirtschaften weiter schaden. Da die Austeritätspolitik der EU unter maßgeblichem Einfluss Deutschlands den europäischen Staaten vorgegeben wurde, vermischten sich mehr und mehr soziale und nationale Proteste gegen die europäische und die deutsche „Bevormundung“. Herausragendes Bespiel dafür ist der Front National in Frankreich. Protestbewegungen wurden zunehmend unter den Begriff des „Populismus“ subsumiert – mit der Unterscheidung zwischen Rechts- und Linkspopulismus. Um aus diesem Phänomen heute die politisch angemessenen Folgerungen zu ziehen, ist es wichtig, Fallstricke zu vermeiden.
Die erste Falle droht, wenn man ohne Kontextbezug die Koinzidenz von Links- und Rechtsextremismus in den dreißiger Jahren – zum Beispiel gegen die Demokratie der Weimarer Republik – mit einer wesentlichen Koinzidenz von heutigem Links- und Rechtspopulismus gleichsetzt. Der Linksextremismus des vergangenen Jahrhunderts baute auf die kommunistische Vision der klassenlosen Gesellschaft und auf die Weltmacht Sowjetunion, die vorgab, diese Vision zu realisieren. Dieser ideologische und machtpolitische Kontext fehlt dem heutigen Linkspopulismus und damit auch das Gefahrenpotenzial des vergangenen kommunistischen Linksextremismus.
Zweitens geht die Gefährdung demokratischer Politik heute – anders als im vergangenen Jahrhundert – auch von einer ökonomischen Globalisierung aus, die den Primat der Politik gegenüber dem globalen Kapitalismus infrage stellt. So entsteht eine Gemengelage, in der kapitalistische Lobbyarbeit demokratische Entscheidungsträger transnational unter Druck setzt. Eine analoge transnationale politische Demokratie fehlt bisher. Sie wird unter dem Namen „Good Global Governance“ mit Hilfe der organisierten Zivilgesellschaft in mühsamen Schritten entwickelt, kann aber die intransparente Verwobenheit von Politik und Wirtschaft bislang nicht überwinden – und damit den Primat der Politik nicht wiederherstellen.
Wenn Bürger heute in „populistischer“ Weise die demokratische Politik skeptisch sehen, indem sie die Souveränität ihrer eigenen Bürgerschaft, von politischen Wahlen und demokratischen Entscheidungen infrage stellen, dann haben sie damit intuitiv nicht Unrecht. Es reicht deshalb nicht mehr aus, sie auf die Verfassung demokratischer Rechts- und Sozialstaaten zu verweisen, weil diese für sich allein den Herausforderungen der ökonomischen Globalisierung aus systemischen Gründen nicht mehr gerecht werden können.
Wo die Linkspopulisten richtig liegen
Hier ist es wichtig, paradigmatisch zwischen Links- und Rechtspopulismus zu unterscheiden. Zwar nimmt der Linkspopulismus in Europa auch nationalistische Züge an und verbündet sich zum Teil mit Rechtspopulisten. Dies geschieht aus der Aversion gegen eine langjährige, freilich nicht notwendige Politik der EU, die gerade in Krisenländern die nationale Souveränität massiv eingeschränkt und die Lasten der Krisen sozial ungerecht verteilt hat. Aber während Rechtspopulisten den Gleichheitsgrundsatz und die Universalität der Menschenrechte prinzipiell ablehnen, ist dies beim Linkspopulismus nicht der Fall. Damit bietet er die Chance, politisch und global als Vehikel gegen soziale Ungerechtigkeit einbezogen zu werden und den reaktionären Rückfall in Nationalismus und Chauvinismus zu vermeiden.
Für sozialdemokratische Parteien, die seit ihrem Ursprung für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gekämpft haben, stellt sich deshalb jetzt die Aufgabe, politische Strategien zu verfolgen und Bündnisse zu schmieden, um soziale Schieflagen europäisch und global zu überwinden und damit Linkspopulisten als Verbündete auf dem Weg zu einer demokratischen und gerechten, europäischen und globalen Governance zu gewinnen. Es wäre ein kapitaler Fehler, durch irreführende historische Gleichsetzungen, die für die aktuellen Herausforderungen blind machen, die neuen Chancen für die Verwirklichung sozialdemokratischer Werte zu vergeben und nicht zuletzt den Kontakt zu weiten (jungen!) Teilen der Gesellschaft zu verlieren. Im Ergebnis würde die Sozialdemokratie in selbstgewählter Isolierung langsam politisch irrelevant werden.
Eine rückwärtsgewandte Politik der Bündnisse von „Gemäßigten“ gegen rechte und linke Populisten – praktisch eine Große Koalition auf Dauer – würde überdies die „Alternativlosigkeit“ der Politik zementieren und die Demokratie, die von Alternativen lebt, vollends diskreditieren. Für die Europäische Union würde eine solche Entwicklung ebenfalls in einer Delegitimierung enden.
Die Syriza-Wortführer optieren für Europa
Was folgt daraus für den Umgang mit Syriza? Zum einen ist mit der Bezeichnung „Linkspopulismus“ nichts gesagt. Syriza ist bisher ein Bündnis unterschiedlicher kommunistischer, sozialistischer, sozialdemokratischer, feministischer, grüner und nationaler Gruppierungen, die sich ebenso gegen die bisherige Behandlung durch die EU wie gegen die Ausbeutung durch korrupte griechische Eliten wenden, die ihrer Steuerpflicht nicht nachkommen. Alle gemeinsam lehnen sie die Troika und die EU-Politik ab – daher der betont nationale Akzent gegen die Demütigung von außen. Wie sich nach der Wahl gezeigt hat, optieren jedenfalls die Syriza-Wortführer – vor allem Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis – für Europa. Sie wollen in der Eurozone bleiben und versuchen, eine pragmatische Lösung zwischen den Forderungen der EU und den Erwartungen der griechischen Bevölkerung zu finden. Dass sie die gesellschaftliche Unterstützung nicht verlieren, liegt auch im Interesse der EU, die mit einer enttäuschten griechischen Nation, die zur Goldenen Morgenröte oder in die Anomie abdriften würde, erhebliche Schwierigkeiten hätte. Insofern hat Finanzminister Varoufakis Recht, wenn er die europäischen Partner davor warnt, die jetzige Regierung in eine unhaltbare Situation zu bringen.
Freilich hat man den Eindruck, dass gerade deutsche Politiker nur schwer der Versuchung widerstehen können, die aktuelle griechische Regierung vorzuführen. Wenn ältere deutsche Politiker Repräsentanten der griechischen Regierung etwa als „halbstark“ bezeichnen, ist das nicht nur im diplomatischen Sprachgebrauch eine völlig unzulässige Wortwahl, sondern auch ein Zeichen für die Geringschätzung der griechischen Wähler. Der Ausdruck lässt übrigens vermuten, dass hier „allzu Menschliches“ eine Rolle spielt. Es scheint, als sollten leichtfertige und voreilige Interpretationen von Äußerungen griechischer Kollegen vor allem den Beweis erbringen, dass man „den Griechen“ nicht trauen kann und deshalb ihre Unterstützung aufkündigen sollte. Die Folgen einer solchen Entwicklung werden dabei nicht bedacht.
Wenn Varoufakis trotz der getroffenen Vereinbarungen eine „Umschuldung“ als Ziel nicht aufgeben will, bedeutet dies keinen Bruch eines Versprechens. Vielmehr bleibt der griechische Finanzminister seiner Überzeugung auch öffentlich treu, dass Griechenland und damit auch die EU auf keinen grünen Zweig kommen können, wenn Athen seine unbezahlbaren Schulden zurückzahlen muss. Diese Überzeugung teilt er mit dem deutschen Ökonomen Hans-Werner Sinn, der daraus freilich andere Konsequenzen zieht: Er will die Griechen aus der Eurozone entlassen.
Trotz der subjektiven Erfahrung nationaler Demütigungen vermeidet Syriza konsequent rechtsnationalistische Versuchungen (der rechtskonservative Koalitionspartner ist nicht appetitlich, hat aber bisher wenig zu sagen und hilft bei der Flankendeckung, wenn Syriza gegenüber der EU die allseits erwarteten Konzessionen macht). Bedenkt man zudem, dass die EU mit den Syriza-Politikern ausgesprochen intelligente und kompetente Gesprächspartner hat, dass diese Regierung nicht in die historische Korruption der alten Eliten verwickelt ist und ihre Reformvorhaben jedenfalls die richtigen Prioritäten setzen, dann ist es mehr als angebracht, diesen Versuch, Griechenland aus der Misere zu führen, zu unterstützen.
Dabei müssen die Verabredungen durchaus genau überprüft werden. Aber man muss auch Fairness walten lassen und wissen, dass Verwaltungsreformen, zum Beispiel die Einführung eines Katasteramtes, nicht in vierzehn Tagen verwirklicht werden können, dass die Steuereintreibung der internationalen Kooperation bedarf (wie viele deutsche Steuerflüchtlinge gibt es?) und dass auch die Senkung der Korruption Jahre brauchen wird. Viel hängt davon ab, ob die griechische Regierung in dieser Hinsicht überzeugende Personalentscheidungen trifft und ob Europa – besonders Deutschland – zu einer in der Sache begründeten und nicht bloß auf die vermutete Wählermeinung schielenden Kooperation bereit ist. Die Chance dafür war noch nie so groß wie heute.
Pavlos Eleftheriadis´ Position zu Syriza finden Sie hier.