Hohmann light

Bundestagsvizepräsident Dr. Norbert Lammert hat eine Rede zum Thema Antisemitsmus gehalten, die zu Unrecht kaum Beachtung fand. Ihre erschreckende Botschaft: Die Ideen Martin Hohmanns gelten in der CDU offenbar als durchaus tolerabel

Norbert Lammert ist ein freundlicher Mensch. Der Vizepräsident des Bundestages gilt als humorvoll, seine Debattenleitung als neutral. Norbert Lammert hat am 11. Dezember 2003 eine Rede zum Thema Antisemitismus gehalten. Eine höchst problematische, ja schlimme Rede. Und das weitgehend unbemerkt.

Man mag sich daran stören oder nicht, dass der Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann, dessen antisemitische Äußerungen an diesem Tag Anlass der Debatte waren, in Norbert Lammerts Rede mit keinem Wort Erwähnung fand. Stören muss man sich jedenfalls daran, dass der Bundestag von Lammert Thesen zu hören bekam, wie man sie sonst eher in der Rechtspostille Junge Freiheit zu lesen gewohnt ist.

Drei Kernaussagen enthielt Norbert Lammerts Rede: Erstens sei Antisemitismus keine ernsthafte Herausforderung des demokratischen Gemeinwesens in Deutschland; anderenorts stelle er eher als hier zu Lande ein Problem dar. Zweitens gebe es eine besondere, historisch begründete Verantwortung für die Bekämpfung von Antisemitismus in Deutschland nicht. Und drittens schädige die Beschäftigung mit Details der NS-Vergangenheit die Selbstachtung der deutschen Gesellschaft, weshalb sie eher unterbleiben sollte.

Um diese unsäglichen Thesen zu belegen, präsentierte Norbert Lammert drei Zitatgeber: Robert Goldmann ("der amerikanische Journalist"), Andrzej Szczypiorski ("großer polnischer Autor") und Adolf Muschg ("Schweizer Präsident der Berliner Akademie der Künste"). Mit geliehener Autorität und streckenweise unredlich bemäntelte Lammert die auch im Diskurs der rechtsintellektuellen Szene zu findenden zentralen Sentenzen seiner Ausführungen.

Rhetorisch geht das so: Zunächst erklärt Lammert, dass es "in Deutschland nach wie vor Antisemitismus gibt - wie anderswo auch". Dann stellt er die sachlich unzutreffende und wissenschaftlich widerlegbare Behauptung auf, "dass Antisemitismus in Deutschland weniger stark zum Ausdruck kommt als in den meisten anderen europäischen und außereuropäischen Ländern". Im Anschluss daran fällt das erste Zitat (Goldmann), wonach "im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern ... die deutschen Behörden tatkräftig" seien und "die öffentliche Debatte ... dem Thema hohe Priorität" gebe.

Entwarnung geben oder Sorgen machen?

Andere Redner der Debatte wiesen darauf hin, dass ein für antisemitische Thesen aufgeschlossenes Bevölkerungspotential von 20 Prozent durchaus ein Problem darstelle. Lammert gibt lieber Entwarnung - wenngleich er Verständnis dafür äußert, dass "eine besondere Sensibilität nicht nur der jüdischen Öffentlichkeit für Ereignisse und Entwicklungen in Deutschland" bestehe. Dass es eigentlich selbstverständlich ist, dass Diskriminierung nicht nur den Diskriminierten, sondern als antidemokratische Erscheinung der gesamten Gesellschaft Sorgen machen muss, sei nur am Rande angemerkt.

Eine spezifische Notwendigkeit, dem Antisemitismus im Nachfolgestaat eines Landes zu begegnen, in dem Antisemitismus Regierungsprogramm war, zieht Lammert später wieder in Zweifel, indem er minutenlang aus den KZ-Erinnerungen Andrzej Szczypiorskis zitiert und dessen Ausführungen, die individuelle Sicht eines Opfers, regelrecht missbraucht, um historische Verantwortung zu relativieren.

Einige Auszüge: Der "Lager-Kapo, der kein Deutscher war, sondern Franzose". - "... sah Polen, die mich im KZ verfolgten." - "Ich wurde geschlagen von einem Holländer." - "Ich sah, wie ein Deutscher einen Deutschen quälte, ein Pole einen Polen, ein Holländer einen Holländer, ein Franzose einen Franzosen; so, wie ich zwei Jahre zuvor auf einer Warschauer Straße gesehen hatte, wie ein Jude einen anderen Juden den deutschen Gendarmen auslieferte." Dann folgt das entscheidende Zitat Szczypiorskis, das Lammert sich anzueignen berechtigt sieht: "Ich interessiere mich nicht für die Vergangenheit der Deutschen, der Holländer, der Polen. Ich weiß nur, was ich nicht vergessen habe: die Menschen und die Unmenschen."

Das gefällt Norbert Lammert offenkundig so gut, dass er mit eigenen Worten nachsetzt: "Darum ... geht es im Kern: um die Menschen, nicht um Deutsche oder Polen, um Juden oder Christen." Dass all das, was Szczypiorski schildert, seinen Ursprung im deutschen Unrechtsstaat hatte, fällt da mal eben unter den Tisch.

Einmal abgesehen davon, dass Antisemitismus unter Juden nicht sehr verbreitet ist, entspricht Lammerts Aussage der Argumentation seines Ex-Fraktionskollegen Hohmann, der am 3. Oktober 2003 unter anderem zu dem Fazit kam: "Daher sind weder ‚die Deutschen‘, noch ‚die Juden‘ ein Tätervolk. Mit vollem Recht aber kann man sagen: Die Gottlosen mit ihren gottlosen Ideologien, sie waren das Tätervolk des letzten, blutigen Jahrhunderts."

1000 Jahre Geschichte - auf 12 geschrumpft

Man muss nur den Begriff der "Gottlosigkeit" durch den der "Unmenschlichkeit" ersetzen. Es waren also nicht Deutsche, die Leid über Europa brachten, sondern Unmenschen. Und die gab es, so der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, woanders ja auch. Und deshalb wohl glaubt Lammert, noch auf Folgendes hinweisen zu müssen: "Dieses Land ... trägt auch das Erbe zweier Diktaturen in Deutschland, die aber eben nicht die ganze deutsche Geschichte sind. Deswegen ist es intellektuell nicht redlich und politisch unverantwortlich, die tausendjährige Geschichte auf wenige Jahre reduzieren zu wollen."

Da hätte der Abgeordnete Hohmann wohl geklatscht, wenn er denn im Saal gewesen wäre. Eine von Hohmanns paranoiden Kernthesen war schließlich die Behauptung, die Wahrnehmung Deutschlands werde auf die NS-Zeit reduziert. Wer das tut, sagte Hohmann nicht. Lammert auch nicht. Zugleich bringt es Lammert aber zusätzlich fertig, das Nazi- und das SED-Regime auf eine Stufe zu stellen - und damit die monströse Einzigartigkeit der NS-Diktatur zu relativieren.

Geradezu "Hohmann pur" ist dann Lammerts letzte These: Eben weil es mit Blick auf die NS-Zeit nicht um deutsche Verantwortung, sondern recht eigentlich um supranationale Unmenschlichkeit gehe, müsse man sich heute nicht mehr so genau mit dieser Vergangenheit beschäftigen. Das geht bei Lammert so: "Der Schweizer Präsident der Berliner Akademie der Künste, Adolf Muschg, hat ... in der öffentlichen Debatte über jetzt bekannt gewordene NSDAP-Mitgliedschaften prominenter deutscher Literaturwissenschaftler die ‚Exzesse der Korrektheit‘ kritisiert, welche ‚die Gesellschaft unfrei machen‘, unfähig sogar zum Respekt vor ihrer eigenen Leistung′. Diese Mahnung ist sicher berechtigt. Aber sie ist sicher nicht nur für Walter Jens zutreffend."

Widerspruch gab es bei dieser Äußerung nur vom Autor dieses Textes, der voraussichtliche Bundespräsidenten-Kandidat Wolfgang Schäuble hingegen rief nach dem Protokoll des Bundestages: "So ist der Punkt."

Bloß kein "Übermaß der Wahrheiten"

Der zentrale Punkt ist allerdings, dass Bundestagsvizepräsident Norbert Lammert kurzerhand die fortlaufende Aufarbeitung der NS-Geschichte als Zumutung bezeichnete, der man sich nicht aussetzen solle. Denn letztlich sei "Deutschland ein großartiges Land, auf das viele Menschen überall in der Welt mit Respekt und gelegentlich mit Bewunderung blicken". Die Beschäftigung mit deutscher Vergangenheit schadet da offenkundig. Übrigens: Es war der Abgeordnete Hohmann, der in seiner Rede vom 3. Oktober 2003 glaubte, vor einem vermeintlichen "Übermaß der Wahrheiten über die verbrecherischen und verhängnisvollen 12 Jahre der NS-Diktatur" warnen zu müssen.

Norbert Lammert hat im Bundestag über das Thema Antisemitismus gesprochen. Er hat eine schlimme Rede gehalten. Er hat dabei vor allem relativiert: Das Problem des Antisemitismus, die historische Schuld Deutschlands sowie die besondere Verantwortung, die sich heute aus der deutschen Geschichte ergibt. Martin Hohmann wird diese Rede nicht als Distanzierung von seinen Positionen erlebt haben - im Gegenteil: Sie dürfte ihm gefallen haben. Gedankengut der Marke "Hohmann light" ist in der CDU offenkundig tolerabel. Das gibt Anlass zur Sorge.

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