Hurra, wir leben noch?
Der kurze Wahlkampf des Sommers hat ein Substrat unserer Reformpolitik hervorgebracht, wie es wohl keiner von uns erwartet hatte. Auf einmal konnte gesagt werden, was zu vermitteln uns allen lange so schwer fiel: Unser Sozialstaat hat an vielen Stellen Löcher, die bereits über viele Jahre hinweg zu Ungerechtigkeiten führten. Und: Der Reformmotor für die Sozialdemokratie waren nicht Sparzwang und Ratlosigkeit, sondern der Wille, diesen Sozialstaat so zu verändern, dass er wieder als Garant und Partner für Gerechtigkeit und Chancen eintreten kann.
Im Wahlkampf helfen dabei auch immer die anderen: Der Wille zum kalten Kahlschlag, der auf der anderen Seite Einlass in die Themen fand, machte vielen deutlich, wo die Unterschiede zwischen beiden Lagern auch heute zu finden sind. Die CDU hat den Sprung zur modernen Volkspartei nicht geschafft. Im Wettstreit zwischen romantischem Konservatismus und Klientelpolitik (Seehofer/Stoiber) auf der einen, kalter Reform und Aufklärungseifer (Merkel/Kirchhof) auf der anderen Seite konnte kein Politikkonzept entstehen, das Perspektiven eröffnete oder Vertrauen einflößte.
Für die SPD ist das neu gewonnene Zustimmungsterrain ein deutlicher Auftrag: Die Reform unseres Sozialstaates muss seine Erneuerung zum Ziel haben. Ziele dieser Erneuerung sind die Bekämpfung von Armut und die gerechte Verteilung von Chancen. Die Reform der Arbeitsverwaltung steckt auf halber Strecke fest. Sie zügig und mutig voranzubringen, ist Kernaufgabe der Sozialdemokraten im neuen Kabinett. Dabei darf nicht aus Angst vor der altmodischen Rhetorik der PDS jeder Schritt der vergangenen Entscheidungen um die Hälfte reduziert werden. Die PDS kann auf Dauer nicht marginalisiert werden, indem Sozialdemokraten vor ihr zurückweichen, sondern indem Sozialdemokraten ihre Reformpolitik zum Erfolg führen. Die Tatsache, dass da eine Partei im Bundestag sitzt, die sich „links“ nennt und vor allem die Interessen der älteren, männlichen Berufsbiografien im Sozialstaat zu vertreten beansprucht, ist sogar eine Chance für die SPD. Sie bringt unsere personelle und programmatische Erneuerung in Schwung.
Wie der Sozialstaat dysfunktional wurde
Es ist in der SPD üblich geworden, jede Diskussion um eine neue sozialdemokratische Generation eher mit moralischen, denn mit politischen Argumenten zu zerpflücken. Denen, die sich ihren persönlichen Einfluss gegen die Jüngeren erhalten wollen, ist dafür kein Argument zu peinlich. Das bemerkenswerteste darunter, vorgetragen ausgerechnet von den „Enkeln“, der zerstrittensten aller SPD-Generationen überhaupt: Die jüngere Generation habe keine gemeinsame Generationserfahrung. Dabei eint die 30- bis 40-Jährigen in der SPD mehr, als sie trennt. Wir haben erlebt, wie der von unserer Partei erkämpfte und dann verteidigte Sozialstaat dysfunktional wurde. Wir erleben eine Gesellschaft, an deren unterem Einkommensende sich ein Drittel der Menschen zwar mit staatlichen Transfermitteln über Wasser hält, im Übrigen aber von gesellschaftlicher Teilhabe strukturell ausgeschlossen ist.
Migranten, Familien in mehreren Sozialhilfegenerationen, Jugendliche ohne stabilen familiären Hintergrund, Alleinerziehende – alle diese Menschen haben von diesem Sozialstaat vielleicht Alimentierung, aber keine Integration mehr zu erwarten. Schulsystem, Ausbildungschancen, Betreuungsangebote, Gerechtigkeit – all dies scheint nur für die anderen zwei Drittel der Gesellschaft da zu sein. Im unteren Bereich der Gesellschaft gibt es keine Gewerkschafts- oder Parteifunktionäre, keine Multiplikatoren, keine Vereinsmeier und keine Lobbyisten – und natürlich auch nicht viele Wähler. Aber es gibt soziale Ungerechtigkeit, Armut, Verzweiflung und ein durchaus rationales Verhältnis zum Sozialstaat: das Wissen, was dieser dem Geschickten an Transfer ohne Gegenleistung bieten kann.
Diese Gruppe hat aber für ein Deutschland in Wohlstand und Zukunftssicherheit sehr viel zu bieten: die zukünftigen Arbeitskräfte, die wir brauchen. Die Kinder, die fehlen. Und die Kräfte, die bereit sind, neue Wege einzuschlagen. Es gibt nicht nur soziale, sondern auch handfeste ökonomische Gründe dafür, diese Ungerechtigkeiten zu beseitigen und den Sozialstaat im Hinblick auf die Lebenschancen dieser Gruppen handlungsfähig zu machen.
Geduld haben und zusammenhalten
Die neue Generation der SPD stammt aus den Schichten der Gesellschaft, die in den vergangenen Jahrzehnten von sozialdemokratischer Politik profitiert haben – im Bildungssystem und in der Sozialpolitik. Es wäre verheerend, wenn in dieser Alterskohorte der Eindruck vorherrschte, jetzt könne die Leiter hoch gezogen werden. Im Gegenteil: Unsere neue Generation kann sich jetzt aufmachen, die Politik einer Bundesregierung unter SPD-Beteiligung und das programmatische Profil der Sozialdemokratie gleichermaßen zu gestalten – wenn man uns lässt. Dass diese Generation kleiner ist und deshalb rein zahlenmäßig die Parteiämter und Diskussionen nicht dominieren kann, ist bekannt. Diese Situation erfordert von der jetzigen Führungsgeneration der 60-Jährigen etwas, was sie in ihrer ganzen politischen Geschichte nicht gelernt haben: Teilen und Loslassen.
Für unsere Parteigeneration wiederum erfordert die Lage Fähigkeiten, die wir unsererseits von den Älteren nicht gelernt haben: sich einigen, Geduld haben, den Politikertrieb des Wegbeißens unterdrücken und zusammenhalten. Unsere Themen ergeben sich aus einer sozialdemokratischen Sicht auf die Gesellschaft. Wer Chancen für Menschen ermöglichen will, muss das Bildungssystem verändern, gute Betreuungseinrichtungen für Kinder schaffen und Einwanderern den Zugang zu Arbeit eröffnen. Bei der Aufteilung der Ministerposten im designierten Kabinett ist deutlich geworden, dass diese Einsichten noch nicht in der sozialdemokratischen Agenda verankert sind, anderenfalls hätte man auf wenigstens eines der Ressorts Familie oder Bildung bestanden. Letztlich erweist sich an der Bedeutung, die man diesen Themen beimisst, welche Zukunftsperspektive die Sozialdemokratie programmatisch hat. Lassen wir uns zwischen gewerkschaftlichen Interessen einerseits und PDS-Verteilungsrhetorik andererseits einmauern – oder wagen wir den qualitativen Schritt nach vorne zu einer modernen linken Volkspartei?
Es gibt eine neue Generation in der SPD, die längst begonnen hat, in der Partei Verantwortung zu übernehmen. Auf die alten Beißrituale sollten wir uns dabei nicht einlassen. Vor allem aber sollten wir uns keine Noten geben lassen – als „gute“ oder „schlechte“ Sozialdemokraten. Gehen wir lieber unseren Weg der sozialen Verantwortung und gestalten wir unser Land, unsere Zukunft und unsere Partei.