Im Osten lernen, heißt siegen lernen!
Der Satz, mit dem Tobias Dürr sein Editorial für die vergangene Ausgabe der Berliner Republik schließt, hat es in sich: „Als ‚Regionalpartei West‘ wird die SPD keinen weiteren Kanzler der Bundesrepublik Deutschland stellen.“ Zitat Ende. Ich teile diese Analyse und ergänze: „Im Osten lernen, heißt siegen lernen!“
Solchen Thesen könnte in einigen Regionen des Westens unserer Republik allerdings ein gewisses Befremden entgegenschlagen. „Wir holen doch unsere Wahlkreise direkt.“ Und: „Wir haben doch mehr Mitglieder als da drüben ein ganzer Landesverband!“ Warum sollen denn ausgerechnet die Regionen mit (derzeit noch) guten SPD-Wahlergebnissen von den Regionen mit zum Teil desaströsen Wahlergebnissen lernen? Antwort: Weil Tobias Dürr und die vielen klugen Autorinnen und Autoren des Schwerpunktthemas der vergangenen Ausgabe der Berliner Republik Recht haben: Als Westpartei ist die SPD bei gesamtdeutschen Wahlen verloren! Ich will deshalb in dieser Response aus der Sicht des Bundesschatzmeisters darlegen, wie sich die „Regionalpartei West“ zu einer gesamtdeutschen Partei entwickeln könnte. Um es gleich vorweg zu sagen: Dieser Weg wird ein weiter sein …
Eigentlich wissen wir ja, dass sich bestimmte Rahmenbedingungen, mit denen die SPD in den östlichen Bundesländern zu kämpfen hat, zeitversetzt auch im Westen in vergleichbarer Weise ausprägen werden: der Zerfall traditioneller sozialdemokratischer Milieus, flexibleres Wahlverhalten, Parteienferne. Und wenn wir uns im Westen einmal ehrlich in die Augen schauen, wissen wir auch, dass unser immer noch männlich geprägter „Funktionärskörper“, bestehend aus langjährigen verdienten Genossen, allein aus demografischen Gründen binnen kürzester Zeit nicht mehr das Rückgrat unserer Handlungsfähigkeit vor Ort sein wird. Was die Zahl der wirklich aktiven Mitglieder angeht, mit denen neue Wählerschichten erreicht werden können (besonders die dringend benötigten jungen Frauen), wird sich der Westen dem Osten schneller annähern, als manch einer glauben mag.
Warum gestehen wir uns nicht endlich ein, dass die Probleme des Ostens unser aller Probleme sind? Wann nehmen wir zur Kenntnis, dass wir eben keine 800 000-Mitglieder-Partei mit 40-Prozent-Wahlergebnissen mehr sind? Wann hören wir auf, uns mit dem Hinweis auf die Agenda 2010 in rückwärtsgewandten Debatten zu ergehen? Wann akzeptieren wir, dass wir uns in unserem Habitus ändern müssen, weil die Menschen heute von der SPD ganz andere Dinge erwarten als 1998?
Christian Demuth bringt es in seinem Beitrag auf den Punkt: „Die Bundes-SPD darf keinen West-Blick, aber auch keinen Ost-Blick mehr haben, sondern braucht eine umfassende Perspektive auf die spezifischen Gegebenheiten von demokratiefernen und verunsicherten Bürgern.“ Trotzdem – oder besser gesagt: genau deshalb sollte die gesamte SPD gemeinsam im Osten lernen, wie wir wieder Menschen für unsere Ideale und Werte gewinnen können, die uns jetzt (noch) mit großem Abstand fernstehen, aber auch nicht fest an eine andere Partei gebunden sind.
Ich bin ein großer Freund unserer föderalen deutschen Tradition, aber in meiner neuen Funktion als Bundesschatzmeister erlebe ich manchmal auch in unserer Partei eine gewisse „Kleinstaaterei“. Wir haben starke Landesverbände und sehr erfolgreiche Ministerpräsidenten. Aber sollte uns das genügen? Wo sind diejenigen, die sich mit Herzblut und Energie der Aufgabe verschreiben, konsequent an der bundesweiten Machtperspektive der Sozialdemokratie zu arbeiten?
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Die SPD muss eine lokale und regionale Vielfalt pflegen, um nah bei den Menschen sein zu können. Aber sie darf sich damit nicht begnügen! Wir sollten das Ziel einer sozialdemokratischen Gesellschaft nicht aufgeben. Diese „Hegemonie“ kann nur eine Partei erlangen, die gesamtdeutsch und europäisch überzeugt.
Die gute Nachricht ist, dass es im Osten viel für uns zu lernen gibt. Die schlechte Nachricht lautet, dass für diesen notwendigen und gewiss manchmal auch schmerzhaften Lernprozess kein Patentrezept existiert. Dennoch möchte ich mit den folgenden Thesen aus Sicht des Bundesschatzmeisters meinen Beitrag zu einer hoffentlich nicht folgenlosen Diskussion leisten.
Erstens: Raus aus der Langeweile – rein in spannende Debatten um konkrete Politikansätze! Es gab mal Zeiten, in denen die SPD interessant war, weil dort Dinge diskutiert wurden, die die Menschen (und zwar auch ohne Parteibuch!) bewegten. Wir brauchen keine Flügelkämpfe – aber ebenso wenig brauchen wir Friedhofsruhe! Der Parteivorstand muss einen Rahmen für – auch kontroverse – Zukunftsdebatten auf allen Ebenen der Partei schaffen. Allerdings benötigen wir keine Selbstbeschäftigung, sondern eine Diskussion mit den Protagonisten des Neuen in der Gesellschaft. Dafür müssen wir aber selbst für Neues offen sein, auch wenn es alte, angenehme sozialdemokratische Gewissheiten ankratzt!
Zweitens: Fortschritt nur mit uns! Was macht Sachsen stark? Was macht Nordrhein-Westfalen stark? Oder umgekehrt gefragt: Was macht Deutschland schwach? Thomas Falkner gibt in seinem Beitrag die richtige Antwort: Die zunehmende soziale wie regionale Ungleichheit ist die entscheidende Bremse für eine gute Entwicklung unseres Landes. Die SPD sorgt für Fortschritt, weil sie Deutschland stärker macht, indem sie es gerechter macht. Wir sollten uns einen solchen Wurf ruhig zutrauen. Die Leute mögen vielleicht keine abstrakten Steuererhöhungsdebatten, aber wenn wir konkret aufzeigen, wo wir in eine bessere Infrastruktur oder in bessere Bildungschancen investieren wollen, damit es allen besser geht, können wir in der Bevölkerung auch auf offene Ohren in der Frage der Finanzierung hoffen.
Drittens: Die moderne Mitgliederpartei ist möglicherweise klein – aber sie ist zugleich fein! Angesichts der sinkenden Mitgliederzahlen und schwieriger Rahmenbedingungen könnte der eine oder die andere versucht sein, die SPD als Mitgliederpartei aufzugeben. Davor kann ich nur warnen. Deutschland ist nicht Amerika. Eine hoch professionell gestylte Kampagne mag vielleicht der entscheidende Punkt in der Wählermobilisierung sein, aber sozialdemokratische „Durchdringung“ und „Wirkmächtigkeit“ erfordert in einer modernen Gesellschaft mehr als geschulte Wahlkampfmanager. Weil wir eben nicht um des Regierens willen regieren, sondern die Lebenswirklichkeit der Menschen zum Guten verändern wollen, brauchen wir aktive Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die von ihrer SPD überzeugt sind und genau deshalb viel glaubwürdigere Botschafter unserer Ideen und Werte sein können als jede teuer eingekaufte Werbekampagne.
Wir müssen uns daher eine „strategische Geduld“ erarbeiten und in die „Ertüchtigung“ der Mitgliedschaft investieren. Bessere Mitgliederbetreuung, attraktive Schulungsangebote, eine Kultur der Wertschätzung für unsere ehrenamtlichen Mitglieder, gezielte Personalentwicklung, Feminisierung und Verjüngung der Partei, aber auch jederzeit vorbildliches Verhalten hoher Repräsentanten der Sozialdemokratie sind gefragt. Es ist keine Hexerei, mit weniger Mitgliedern dennoch politisch erfolgreich zu sein. Und wer sagt denn, dass dieser Weg der Erneuerung uns am Ende nicht wieder mehr Mitglieder bringt, wenn sich herumspricht, wie sexy es ist, einer erneuerten und weniger langweiligen SPD anzugehören?
Viertens: Mehr Nestwärme durch mehr Professionalität! Wenn unsere Mitglieder unser höchstes Gut sind, wenn wir sie fördern und fordern wollen, wenn wir auch da auf sie bauen, wo wir uns in der Diaspora befinden, dann müssen wir unsere Mitglieder von allem entlasten, was sie von kreativer und bürgernaher politischer Arbeit abhält. Gleichzeitig müssen wir aber auch unsere Hauptamtlichen in der Fläche von allem entlasten, was sie davon abhält, sich intensiv um die Ermöglichung politischer Arbeit vor Ort zu kümmern. Kurzum: Wenn wir nicht auf allen Ebenen professioneller werden und unsere begrenzten finanziellen Mittel nicht optimal einsetzen, indem wir unsere Kräfte bündeln, wird es an der Nestwärme und Unterstützung fehlen, um unsere Mitglieder in dem Maße zu ertüchtigen, wie es für die Renaissance der SPD im Osten und Westen erforderlich ist.
Wie kann das Willy-Brandt-Haus als Dienstleister für andere Parteigliederungen fungieren? Welche Arbeiten müssen wir zentralisieren, um aktive Haupt- und Ehrenamtliche in der Fläche zu entlasten? Wie erreichen wir mit weniger Mitgliedern trotzdem eine bessere Kampagnenfähigkeit? Wie können wir moderne Kampagnen-Apps entwickeln, die unseren Mitgliedern vor Ort die politische Arbeit erleichtern? Wie schaffen wir ein bundesweit attraktives Berufsbild eines SPD-Hauptamtlichen? Was könnten regionale Service-Center an Arbeitserleichterungen bringen? Wie steigern wir unsere Einnahmen durch mehr Beitragsehrlichkeit? Wie machen wir die Schwierigkeiten der SPD in bestimmten Regionen zum Generalthema einer lernenden Gesamtorganisation? Sollten Bundespartei und Landesverbände über all diese Fragen Zielvereinbarungen miteinander erarbeiten?
Dies sind keine abgehobenen „technischen Fragen“. Es sind Fragen, denen wir uns stellen müssen, um am Ende wieder das zu werden, was uns auf den Weg zur bundesweiten Mehrheitsfähigkeit zurückbringen wird: eine gesamtdeutsch denkende, solidarisch handelnde, professionell agierende Sozialdemokratie, die die Menschen einnimmt für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.