In der liberalen Schmollecke

Gefördert von der Friedrich-Naumann-Stiftung hat die Publizistin Ulrike Ackermann das Buch Eros der Freiheit vorgelegt. Der Band zeigt vor allem, dass es um den sich als liberal begreifenden Gegenwartsdiskurs in Deutschland nicht gut bestellt ist

Es ist schwer zu sagen, ob in Deutschland die Neigung, das Kind mit dem Bade auszuschütten, größer ist als anderswo. Ausgeprägt ist sie auf jeden Fall. Das Umfrageinstitut Allensbach stellte 2007 diese Aussage zur Debatte: „Ich frage mich, was das für eine Freiheit sein soll, in der Millionen arbeitslos sind, immer mehr Leute von Sozialhilfe leben müssen und die Großindustrie Rekordgewinne macht. Auf so eine Freiheit kann ich verzichten.“ Volle 62 Prozent der Befragten sahen das ebenso. Gemäß einer Erhebung in den neuen Bundesländern wiederum erklärten im Herbst dieses Jahres 52 Prozent der Ostdeutschen, die Marktwirtschaft sei „untauglich“ und habe „abgewirtschaftet“. Zu 43 Prozent erklärten die Bürger auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sogar, sie hätten lieber ein „sozialistisches Wirtschaftssystem“ zurück, weil dieses „die kleinen Leute vor Finanzkrisen und Ungerechtigkeiten schützt“. Dass sich Ansichten dieser Art im Laufe der jetzt heraufziehenden schweren Weltrezession verfestigen und ausbreiten dürften, liegt auf der Hand.

Was bedeutet Freiheit? Was ist sie uns wert?

Die Idee der freiheitlichen Gesellschaft in Deutschland steht also vor einer echten Bewährungsprobe. Ist sie uns wirklich wichtig, dann muss sie gerade in schwierigen Zeiten unerschrocken verfochten und von ihren ideenpolitischen Grundlagen her neu begründet werden. Ganz so wie die Rezession nach rechtzeitiger und gezielter antizyklischer Fiskalpolitik verlangt, erfordert auch der gesellschaftliche Diskurs jetzt energische antizyklische Interventionen, wenn die Debatten nicht hoffnungslos aus dem Ruder laufen sollen. So gesehen kommt Ulrike Ackermanns Buch Eros der Freiheit (Stuttgart: Klett-Cotta 2008, 168 Seiten, 19,90 Euro) auf den ersten Blick gerade recht. Verfasst noch vor dem offenen Ausbruch der gegenwärtigen Weltrezession, verfolgt es den inzwischen umso dringlicher gewordenen Zweck, den fundamentalen Wert der Freiheit neu herauszuarbeiten. Es sei höchste Zeit, „uns selbst darüber aufzuklären, was Freiheit bedeutet und was sie uns wert ist“, schreibt die Autorin in der Einleitung ihres von der liberalen Friedrich-Naumann-Stiftung finanziell geförderten Bandes.


Die Absicht ist begrüßenswert. Warum auch der demnächst in die Arbeitslosigkeit entlassene Ingenieur in Sindelfingen, die junge türkischstämmige Verkäuferin in Kreuzberg oder der unfreiwillige Frührentner mit 400-Euro-Job in Cottbus allen Widrigkeiten zum Trotz am Prinzip der freiheitlichen Gesellschaft gelegen sein sollte – auf diese Frage müssen Freunde der Freiheit möglichst griffige Antworten bereithalten, wenn sie in wirtschaftlich und sozial schwierigen Zeiten nicht unter die Räder geraten wollen. Diese Frage ist damit zugleich der Praxistest, den Ulrike Ackermann mit ihrem Plädoyer für die Freiheit bestehen muss.


Überzeugend gelingt ihr das nicht. Wer andere für die erstrebenswerte Sache der Freiheit einnehmen will, der täte zum einen gut daran, wirklich offensiv zu plädieren und sich dabei die Begeisterung für die eigene Sache anmerken zu lassen; und der sollte zum anderen nicht mögliche Bündnispartner unnötig vor den Kopf stoßen. Ulrike Ackermann hat sich merkwürdigerweise in beiderlei Hinsicht anders entschieden. Ihr „Plädoyer“ ist gar keines, sondern fällt über viele Seiten verblüffend wehleidig aus. Bereits mit dem ersten Satz ihres Buches beginnt das Lamento: „Warum ist die Freiheit in unserem Land so unbeliebt und liberales Denken so schwach verankert?“ In diesem larmoyanten Ton geht es weiter mit den zeitlosen Parolen des mittelständischen Stammtisches. Über „des Bürgers Sehnsucht, von der Wiege bis zur Bahre versorgt zu werden“, wird da gejammert und die Neigung der Deutschen bedauert, sich „im Zweifelsfalle gegen die Freiheit zu entscheiden“: „Keiner will vertraute Sicherheiten aufgeben zugunsten einer riskanten Freiheit mit offener Perspektive, die naturgemäß ein Scheitern ebenso einschließen kann.“ Überall macht die Autorin „Hass auf den Bürger“ und, viel schlimmer noch, „bürgerlichen Selbsthass“ aus, immerzu triumphiere „Gottvater Staat“. Zugleich wachse „bei Bürgern und in der politischen Klasse wieder das antikapitalistische Ressentiment“. Schuld an der Misere seien nicht zuletzt die „Leistungsträger“, denen unglücklicherweise die „historische und ideengeschichtliche Grundlage des Kapitalismus abhanden gekommen“ sei, weshalb sie an der Aufgabe scheiterten, „Kapitalismus und Freiheit offensiver zu verteidigen“.

„Yes, we can“ geht anders

Wer ließe sich wohl so für die Sache der Freiheit gewinnen? Abgesehen davon, dass sich der Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Formkrise nun wirklich nicht besonders attraktiv ausnimmt, markiert das gleich mehrfach gebrauchte Oxymoron „offensive Verteidigung“ exakt das Problem der Autorin. Es findet seine Entsprechung nicht von ungefähr in der aktuellen Verunsicherung, die – allen lautstarken Sprüchen zum Trotz – auch im Fall der FDP spürbar wird. Zwar weist die ganz auf Guido Westerwelle reduzierte Partei derzeit günstige Umfragewerte auf. Dennoch ist ihr die tief sitzende Angst anzumerken, sie könnte in der Wirtschaftskrise mit ihrer ganz aufs Ökonomische verengten Freiheitsrhetorik ins Hintertreffen geraten. Also traut man sich einen entschlossenen Vorwärtskurs nicht mehr so richtig zu – aus Furcht, die in Freiheitsfragen der Abgeschlafftheit verdächtigten Bürger würden als Mitstreiter ausfallen, sich feige in die Büsche schlagen oder gleich ganz zu „Vater Staat“ überlaufen. Heraus kommt, jedenfalls bei Ulrike Ackermann, ein ziemlich „defensives Verteidigen“ der Freiheit, das sie mit übellauniger Publikumsbeschimpfung aus der liberalen Schmollecke kombiniert – insgesamt das denkbar schlechteste Rezept, um die Deutschen gerade jetzt zu einem dezidiert staatsfern begriffenen Freiheitsgeist aufzurütteln. „Yes, we can“ geht anders.

Das wirkliche Problem liegt im toten Winkel

Weit offene Türen rennt Ulrike Ackermann dagegen ein, wenn sie als besonders schwere Herausforderung der Freiheit den islamistischen „Hass auf den Westen“ identifiziert. Wer würde widersprechen? Irgendeinen praxistauglichen Vorschlag, wie dieser Bedrohung zu begegnen wäre, hat die Autorin aber nicht im Köcher. Der wohlfeile Schulterschluss mit dänischen Provinzkarikaturisten und das Anprangern einer angeblichen „Appeasement-Haltung“ innerhalb der europäischen politischen Klasse mögen das rechtschaffene Gratisgefühl verschaffen, im Angesicht des Bösen die Stimme erhoben zu haben. Das wirkliche Problem jedoch, wie sich in freiheitlichen Gesellschaften womöglich doch noch Schritt für Schritt das Zusammenleben mit muslimischen Einwanderern sowie deren Nachfahren auf freiheitliche Weise verwirklichen lassen könnte, liegt bei Ulrike Ackermann komplett im toten Winkel. Selbstverständlich muss die von ihr bejubelte Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali das Recht haben, in Berlin oder anderswo Reden zu halten, in denen sie das „Recht zu beleidigen“ postuliert. Für dieses Recht einzutreten, ist die selbstverständliche Pflicht jedes Freiheitsliebenden. Aber ist es auch klug, solche Reden zu halten? Ist es weitsichtig? Schießen sich die Verfechter der Freiheit nicht gerade mit Frivolitäten dieser Art in die eigenen Füße?

Timothy Garton Ash als Freiheitsverräter?

Keinen Grund zur Sorge bereitet der Autorin merkwürdigerweise die Dialektik von Terrorismus und regressiver Reaktion in den westlichen Gesellschaften, obgleich die größten Freiheitsbedrohungen unserer Zeit gerade aus diesem Wechselspiel erwachsen. Tatsächlich bewegen sich Ulrike Ackermanns Ausführungen selbst mitunter hart an der Grenze zur Regression. Dass sie unter der Kapitelüberschrift „Multikulturalismus und westlicher Selbsthass“ ausgerechnet Timothy Garton Ash, einen der scharfsinnigsten freiheitlichen Denker in Europa, als kulturrelativistischen Verräter an der Sache der Freiheit denunziert, ist zweifellos ein törichter Tiefpunkt dieses Buches. Gerade wer unter den realen Bedingungen des 21. Jahrhunderts die Freiheit bewahren will, muss sich schon mit Wirklichkeitssinn auf die tatsächliche Komplexität der Verhältnisse einlassen. Garton Ash, Autor von Büchern wie Zeit der Freiheit und Freie Welt, tut genau das, wenn er schreibt: „Eine Politik, die auf der Annahme beruht, Millionen Muslime könnten auf einen Schlag den Glauben ihrer Väter und Mütter aufgeben, ist einfach unrealistisch. Wenn wir ihnen die Botschaft vermitteln, dass sie ihre Religion ablegen müssen, um Europäer zu werden, dann werden sie eben keine Europäer sein wollen.“ Den Schaden hätten wir alle zusammen; den Schaden hätten unsere freiheitlichen Gesellschaften; den Schaden hätte die Freiheit selbst.


Doch so sieht Ulrike Ackermann die Dinge nicht. Überhaupt entgeht ihr, dass Freiheit dauerhaft immer nur dort errungen und bewahrt werden kann, wo man die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Freiheitsfähigkeit kontinuierlich erneuert. Lieber agitiert die Autorin wütend gegen die Ziele der sozialen Gerechtigkeit und Gleichheit, die angeblich „der fürsorgende und vorsorgende Sozialstaat durch Umverteilung realisieren“ will. Hier aber wirft sie kenntnisfrei Äpfel und Birnen durcheinander. Denn während der traditionelle deutsche Sozialstaat konservativ-bismarckscher Prägung in der Tat oft genug auf Fürsorge und passiv machende Sozialtransfers setzte, ist die moderne Sozialstaatsdebatte längst viel weiter vorangekommen – und zwar in eine Richtung, die für aufgeklärte Liberale im Grunde höchst anschluss- und zustimmungsfähig sein müsste. Die Idee des befähigenden und sozialinvestiven, des aktivierenden und ermöglichenden Sozialstaates zielt ja gerade auf Emanzipation ab, darauf nämlich, Menschen mit den Fähigkeiten auszustatten, ihr eigenes Leben aus eigener Kraft zu leben – also die notwendigen Voraussetzungen individueller Freiheit herzustellen und fortwährend zu erneuern.

Dahrendorfs Einsichten scheinen verschüttet

Unter den ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen unserer Zeit wird sich Freiheit auf Dauer nur dort aufrechterhalten lassen, wo auch dem Prinzip der Chancengleichheit offensiv Geltung verschafft wird. Gerade Liberale müssten daher heute die unbändigsten Vorkämpfer möglichst gleich guter individueller Bildungs-, Aufstiegs- und damit Lebenschancen für alle unabhängig von ihrer sozialen und ethnischen Herkunft sein. Solche Überlegungen in der guten liberalen Tradition Ralf Dahrendorfs sucht man bei Ulrike Ackermann vergebens. Stattdessen erläutert sie beispielsweise, „dass die Gründe für fehlgeschlagene Integration weniger in der sozialen Misere der Migrantenmilieus und mangelnder Bildung liegen“ als in „kulturell-religiösen Ursachen“. Also braucht man es mit Bildung, Arbeit und Aufstiegschancen gar nicht erst zu versuchen? Eine derart brüske Absage an das zutiefst freiheitliche Prinzip des Aufstiegs durch Bildung liest man in einem als „Plädoyer für eine radikale Aufklärung“ angepriesenen Buch denn doch mit erheblicher Irritation.

Warum Freiheit voraussetzungsvoll ist

Es wäre bedauerlich, sollten Ulrike Ackermanns Ausführungen Stand und Niveau des gegenwärtigen liberalen Freiheitsdiskurses in Deutschland widerspiegeln. Die Sache der Freiheit ist das politische Kernanliegen des politischen Liberalismus überhaupt. Gerade weil die Freiheitlichkeit unserer Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten unweigerlich schweren Gefährdungen ausgesetzt sein wird, verdient und bedarf das Thema weitaus gründlicherer Reflexion, als ihm in diesem Band zuteil wird. Dieses Nachdenken muss die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Freiheit stets im Auge behalten.


Kluge Anregungen dafür finden sich keineswegs nur bei Ralf Dahrendorf oder Timothy Garton Ash. Bereits in den Freiburger Thesen der FDP aus dem Jahr 1971 hieß es: „Freiheit und Glück des Menschen sind ... nicht einfach nur eine Sache gesetzlich gesicherter Freiheitsrechte und Menschenrechte, sondern gesellschaftlich erfüllter Freiheiten und Rechte. Nicht nur auf Freiheiten und Rechte als bloß formale Garantien des Bürgers gegenüber dem Staat, sondern als soziale Chancen in der alltäglichen Wirklichkeit der Gesellschaft kommt es ihm an.“ Ein politischer Liberalismus, der sich im 21. Jahrhundert energisch auf diese Traditionslinie besänne, würde unserer Gesellschaft Impulse geben, die sie unbedingt benötigt. Die Vordenker solch einer Erneuerungsdebatte im deutschen Liberalismus müssen sich erst noch finden. Dass zu ihnen Ulrike Ackermann zählen wird, ist eher unwahrscheinlich.

Eine deutlich kürzere Fassung dieses Textes erschien am 17. Januar 2009 in der Tagesszeitung „Die Welt“.

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