In der ostdeutschen Achterbahn
Bekanntlich endete das erhoffte Revival der SPD als „30-Prozent-Partei“ bei der letzten Bundestagswahl an der Marge von 25,7 Prozent. Wie Pattex klebt das Ergebnis bis heute an der Partei, die erneut zu Merkels Regierungspartner aufgestiegen ist. Schon etwas abgedroschen, aber immer noch stichhaltig sind die Erklärungen, die der SPD nach dem enttäuschenden Wahlausgang 2013 ins Stammbuch geschrieben wurden. Peer Steinbrück war der falsche Kandidat für eine an sich richtige Strategie: Zu versuchen, abspenstig gewordene „Wähler im Wartestand“ mittels eines Gerechtigkeitswahlkampfs zurückzugewinnen. Doch die SPD-affinen Nichtwähler ließen sich nicht in erhoffter Anzahl mobilisieren. Angesichts eines allgemeinen Wohlgefühls und der gleißenden wirtschaftlichen Großwetterlage fehlte dem Ansatz ohnehin die erforderliche düstere gesellschaftliche Kulisse.
Auch der Einfluss des Kampagnen-Journalismus mit der Zielscheibe „Pannen-Peer“ sollte nicht übersehen werden. Wichtig war zudem der Merkel-Faktor, also das Popularitätsgefälle zwischen Kanzlerin und ihrem Herausforderer. Ferner gelten der nach wie vor beschädigte Markenkern der SPD und das Kompetenzgefälle gegenüber der Union als wichtige Gründe für das schlechte Ergebnis. Hinzu kommt die erfolgreiche Strategie der Union, beim politischen Gegner gezielt Themen zu klauen und in den politischen Domänen von SPD und Grünen zu wildern. Darüber hinaus ist es der SPD nicht hinreichend gelungen, die Gruppe der Arbeiter zurückzugewinnen. Und dass die SPD die Mitte nicht erfolgreich genug angesprochen hat, zählt ebenfalls zu den Dauerbrennern der Wahlnachlese.
Regionen mit unterschiedlichen Traditionen
Ein Jahr nach der Bundestagswahl fällt es der Parteiführung schwer, aus diesen teils spekulativen, teils gesicherten Gründen für die Wahlniederlage die richtigen strategischen Lehren zu ziehen. Überhaupt ist fraglich, ob die vorwiegend aus demoskopischen Individualdaten abgeleiteten Erklärungen vollständig und hinreichend sind, um die SPD daran zu hindern, strategische Fehler zu wiederholen.
Jedenfalls wird bei der Suche nach Gründen nicht genügend bedacht, dass sich die Wähler auf unterschiedliche Landstriche und Regionen verteilen mit je gesonderten, eigentümlichen Traditionslinien und identitätsprägenden Erfahrungswelten, Lebensumständen und Mentalitäten. Die Parteien mit ihrer jeweils eigenen Herkunft, sozialen Lagerung und ihrem Repräsentationsprofil sind – mehr oder minder intakt – mit einem heterogenen gesellschaftlich-kulturellen Wurzelgrund verbunden. So erklären sich die charakteristischen regionalen Wählerschwerpunkte und die elektoralen Ausdünnungszonen der konkurrierenden Parteien. Während die SPD in den Großstädten große Erfolge verbucht, finden CDU und CSU ihren stärksten Rückhalt im ländlichen und kleinstädtischen Raum. Zugleich weisen die Parteien aber auch ein ziemlich stabiles regionales Gefälle hinsichtlich ihrer Wählerverankerung auf.
Warum der Osten Wahlen entscheidet
Der eher protestantisch geprägte Nordwesten mit den Stadtstaaten Hamburg und Bremen, mit Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ist traditionell ein Schwerpunktgebiet der SPD, was sich bei der jüngsten Bundestagswahl mit Stimmenanteilen von mehr als 30 Prozent erneut ausgezahlt hat. In den mehrheitlich katholisch geprägten südlichen Ländern Baden-Württemberg und Bayern ist die Partei dagegen schon seit Längerem gut bedient, wenn sie die 20-Prozent-Hürde deutlich überschreitet, ob bei Landtags- oder bei Bundestagswahlen. Dieser Umstand zieht das Gesamtergebnis der SPD strukturell nach unten. Das Nord-Süd-Gefälle ist über die Jahre hinweg ziemlich stabil geblieben. Und wenn es im Süden Ausreißer nach unten oder oben gibt, haben diese Stimmen bei Bundestagswahlen kaum Einfluss auf Sieg oder Niederlage der SPD.
Ganz anders sieht es mit dem elektoralen Einfluss Ostdeutschlands aus: Das Abschneiden der SPD (und der Union) im Osten schlägt dermaßen stark durch, dass dadurch wiederholt das Gesamtergebnis entschieden wurde. Um dies für die SPD zu belegen, ist ein Ost-West-Vergleich notwendig. In der folgenden Tabelle wird zunächst das Abschneiden der SPD im Bundesgebiet bei den Bundestagswahlen seit 1998 aufgezeigt und das Gesamtergebnis dann getrennt nach der Stimmenverteilung im Westen und Osten aufgeschlüsselt. Wie stark dabei die ostdeutschen Stimmen für Wahlsiege und Wahlniederlagen der SPD auf Bundesebene zu Buche schlagen, wird durch das Stimmengewicht bestimmt, welches sie im Verhältnis zu den West-Stimmen auf die Waage bringen. Um dies zu ermitteln, wird sowohl auf absolute Zahlen als auch auf Prozentwerte zurückgegriffen.
Mit der deutschen Einheit erweiterte sich die Wählerlandschaft um das ostdeutsche Wahlgebiet, in dem nach 12 Jahren NS-Regime und 40 Jahren SED-Herrschaft der Faktor Religion und historisch gewachsene Milieus ihre Prägekraft weitgehend eingebüßt hatten. Insofern waren für die SPD ihre einstmaligen Wählerhochburgen in Sachsen und Thüringen mittlerweile zu sehr erodiert, um im Osten an ihre alten Wahlerfolge aus kaiserlicher und Weimarer Zeit anschließen zu können. Zusätzlich machte ihr die PDS die Position als Interessenvertretung der – im Übrigen aufgrund der massiven Deindustrialisierung dezimierten – städtischen Industriearbeiterschicht streitig.
Schwache Bindung, hohe Wechselbereitschaft
Die schwächere Bindung an Parteien und die hohe Wechselbereitschaft der Ostdeutschen macht die Wählerlandschaft im Osten zu einer hochmobilen, dynamischen Fließmasse. Als einzig verbliebener stabiler sozialdemokratischer Eckpfeiler trotzt Brandenburg diesen starken Fließbewegungen der ostdeutschen Wählerlandschaft, während die SPD im Norden (Mecklenburg-Vorpommern) und Süden (Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt) unter die 20-Prozent-Marge gedrückt wird. Als Schlusslicht gelingt es der sächsischen SPD seit 2009 nicht einmal mehr, ihren Kleinparteienstatus abzuschütteln: Ihr Wähleranteil liegt bei unter 15 Prozent.
Die deutsche Einheit brachte die SPD zunächst ins Hintertreffen. Die Sozialdemokraten erreichten bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990, die von der Kohlschen Einheitspolitik dominiert wurde, in Ostdeutschland nur einen Stimmenanteil von 24,3 Prozent – ein krasser Rückstand gegenüber dem Ergebnis im Westen von 35,7 Prozent. Die Union hingegen schnitt im Osten mit 41,8 Prozent (Westdeutschland: 35,5 Prozent) glänzend ab und trug so gesamtdeutsch (also inklusive der CSU) mit 43,8 Prozent einen überraschend hohen Sieg davon. Die SPD landete wegen ihrer „Ostschwäche“ mit dem Gesamtergebnis von 33,5 Prozent abgeschlagen auf den Plätzen.
Die SPD in der ostdeutschen Achterbahn
Dies änderte sich im Laufe der neunziger Jahre erst, als die hohen Erwartungen einer raschen wirtschaftlichen Angleichung an das Westniveau enttäuscht wurden. Von der Desillusionierung der ostdeutschen Bevölkerung profitierte die SPD. Von einem niedrigen Ausgangsniveau aus wuchsen ihre Stimmenanteile im Osten stetig, was ihr 1998 einen fulminanten Wahlsieg von insgesamt 40,9 Prozent ermöglichte. Noch allerdings fuhr die Partei im Westen mit 42,3 Prozent deutlich bessere Werte ein; im Osten war ihr Stimmenanteil aber immerhin auf 35,1 Prozent gestiegen.
Im Jahr 2002 konnte die Schröder-SPD mit 38,9 Prozent der Wählerstimmen nochmals knapp an der Union (38,5 Prozent) vorbeiziehen. Während sie im Westen 4,0 Prozentpunkte einbüßte, ist es dem Zuwachs von 4,6 Prozentpunkten im Osten zu verdanken, dass die Partei die Nase vorn behielt. Im Osten kam die Union nur auf 28,3 Prozent der Stimmen. Die ostdeutsche Wählerschaft honorierte damit den beherzten Kampf der Regierung Schröder gegen die Elbhochwasser und Irak-Krieg.
Drei Jahre später wendete sich jedoch das Blatt. Die SPD brach im Osten mit minus 9,3 Punkten überproportional stark ein. Im Westen begrenzte sich der Stimmenverlust auf minus 3,2 Punkte. Hiervon profitierte vor allem die PDS, deren Anteile im Osten von 16,9 auf 25,3 Prozent der Wählerstimmen anstiegen. In den umfangreichen Wählerumschichtungen bilden sich die Reaktionen auf Gerhard Schröders Agenda-Reformen ab, die speziell bei den Wählern im Osten auf massive Ablehnung stießen. Abgeschlossen war das Kapitel damit nicht, zumal die Nachwirkungen der Agenda-Politik, nochmals befeuert durch die Rente mit 67, bis zu den Wahlen von 2009 anhielten. Diese endeten für die SPD mit einem Desaster: Die Partei stürzte auf insgesamt 23,0 Prozent (-11,2 Punkte) ab. Im Osten wurde sie sogar auf einen noch miserableren Stimmenanteil von 17,9 Prozent (-12,5 Punkte) zurückgeworfen, während die CDU in Ostdeutschland Zugewinne von 3,5 Prozentpunkten verbuchte.
Bei der jüngsten Bundestagswahl 2013 hat sich für die SPD im Osten mit 17,5 Prozent nichts zum Besseren verändert, so dass die leichten Zugewinne in Gesamtdeutschland um 2,7 Punkte auf 25,7 Prozent allein auf den Anstieg der Wählerstimmen im Westen um 3,3 Punkte zurückgehen. Ein besseres Ergebnis blieb also deshalb aus, weil die ostdeutschen Wähler der SPD einen Strich durch die Rechnung machten. Dass die Unionsparteien mit gloriosen 41,5 Prozent an längst vergangen geglaubte Hochzeiten anschließen konnten, haben sie vor allem dem überproportional guten Abschneiden der Merkel-CDU in Ostdeutschland zu verdanken: Dort stiegen die Stimmenanteile der Union von 29,8 auf 38,5 Prozent.
Somit legte die SPD in Ostdeutschland bei den Bundestagswahlen seit 1990 eine Achterbahnfahrt hin: Im Aufstieg 1998 und 2002 fuhr sie zwei gesamtdeutsche Wahlsiege ein, 2002 war das ostdeutsche Stimmenübergewicht sogar ausschlaggebend für das Gesamtergebnis. Im Jahr 2005 setzte mit dem wegfallenden Rückenwind aus dem Osten der Abstieg ein, was die SPD um ihren Vorsprung gegenüber der Union brachte. Die erdrutschartigen Verluste von über 10 Prozent im Jahr 2009 waren in Ostdeutschland ebenfalls stark zu spüren. Kurzum: Seit 2005 zieht der Osten die SPD überproportional stark herab und hinderte sie 2013 an einem kräftigeren Wiederaufschwung. Angesichts der chronischen Schwäche in Bayern und Baden-Württemberg ist an einen Sprung über die 30-Prozent-Marge allein durch eine Steigerung der Stimmen in Westdeutschland nicht zu denken.
Es geht um Wahrnehmung und Wertschätzung
Seit 1998 hat die SPD bis zur letzten Bundestagswahl 2013 insgesamt 8,9 Millionen Wählerstimmen verloren – ein Minus von 44,2 Prozent. Davon gehen 7 Millionen auf das Konto des Wahlgebiets West, wo die SPD 41,4 Prozent ihres Stimmenpolsters von 1998 wieder einbüßte. Im Osten verlor die Partei im selben Zeitraum 2 Millionen Wählerstimmen und musste einen Stimmenverlust von 58,5 Prozent hinnehmen. Die Auszehrung der sozialdemokratischen Wählerschaft in Ostdeutschland drückt sich auch darin aus, dass diese Region 2013 nur noch 12,3 Prozent zu den insgesamt gewonnenen Wählerstimmen beitrug. Im Jahr 2002, bevor die Talfahrt begann, lag der Anteil noch bei 18,7 Prozent.
Längst ist Ostdeutschland für die SPD zum Diasporagebiet verkommen. Das hindert die gesamtdeutsche Partei am Wiederaufstieg. Diese Tristesse wird anhalten, wenn die Sozialdemokratie nicht bis zur nächsten Bundestagswahl 2017 ihre Repräsentationsdefizite gegenüber der ostdeutschen Wählerschaft offensiv abbaut. Bei einer Wählerlandschaft im Fluss, deren wechselhafte Strömungen mal der einen, mal der anderen Partei zum Vorteil gereichen können, ist das durchaus möglich. Dabei wird es aber nicht ausreichen, sich im Wahlkampf 2017 zum paternalistischen Fürsprecher des Ostens aufzuschwingen. Sondern es geht grundsätzlich darum, wie die SPD zum Osten steht und inwieweit sie der ostdeutschen Bevölkerung eine Projektionsfläche bietet, bei der diese sich wiederfinden kann. Der Fauxpas von Peer Steinbrück im letzten Bundestagswahlkampf, Kanzlerin Angela Merkel ihre DDR-Biografie vorzuhalten, hat einen enormen Flurschaden angerichtet. Unausweichlich ist deshalb eine mühsame Missionsarbeit, die das Selbstwertgefühl der Ostdeutschen stärkt und ihnen mit einer „The east is beautiful“-Kampagne die Wertschätzung zukommen lässt, die die SPD für diese Region empfindet.