Von Hamburg lernen heißt siegen lernen

Mit seinem Wiederwahltriumph hat Olaf Scholz gezeigt, dass Sozialdemokraten auch heute noch erfolgreich sein können. Bei allen lokalen Besonderheiten: Einige grundlegende Schlüsse lassen sich aus dem Hamburger Exempel ziehen

Bei der Hamburger Bürgerschaftswahl vom 15. Februar hat die SPD unter Olaf Scholz mit 45,6 Prozent der abgegebenen Stimmen einen sensationellen Wahlerfolg erzielt. Er stellt, nach dem vorangegangenen 48,4-Prozent-Sieg von 2011, erneut alles in den Schatten, was die SPD sonst auf Landes- und erst recht auf Bundesebene an Wählerrückhalt zu mobilisieren vermag. Und dies ist umso beeindruckender, weil das Hamburger Wahlergebnis in einer stark volatilen großstädtischen Wählerschaft und bei einem Sechsparteien-Parlament erzielt wurde.

Wie gute Strategien gebildet werden

Zur Erklärung sind schnell Ergebnisse der Umfrageforschung bei der Hand, die durch Nachwahlbefragungen gewonnen werden. Zusammen mit der Wahlforschung sucht man die Gründe für den Wahlausgang bei den Wählerinnen und Wählern, wobei ihren Präferenzen einerseits und ihren Bewertungen der Kompetenzen der konkurrierenden Parteien und Spitzenkandidaten andererseits größtes Gewicht beigemessen wird. Umgekehrt untersucht die strategische Wahlanalyse die gegeneinander antretenden Akteure, also die reflektiert handelnden Personen und Teams in den Parteien, die durch Einsatz geeigneter Mittel realistische Machterwerbs- und Wahlziele verfolgen. Diesen Akteuren wird dabei unterstellt, dass sie auf die Meinungsbildung und auf das Wahlverhalten der Bürger relevanten Einfluss ausüben.

Strategisch durchdachtes, zielstrebiges Handeln setzt vier Elemente miteinander in Beziehung: die vorgefundene Situation oder Lage, das angestrebte Ziel, die Handlungsoptionen und greifbaren Mittel sowie die Strategie selbst. Grundlegend für Wahlstrategien ist die umsichtige Einschätzung der Lage in einem dynamischen Wettbewerbsfeld. Dabei müssen viele Faktoren berücksichtigt werden: die Aufteilung und Veränderlichkeit der Wählerschaft, der Fluss von Problemen und Erwartungen, die allgemeine Stimmungslage, die Medien und die hergestellte öffentliche Meinung, die eigene organisatorische Strategiefähigkeit und Wählerstärke, aber auch die politische Ausrichtung und strategischen Optionen der Konkurrenzparteien.

Auf die Strategiebildung folgt schließlich der Prozess strategischer Steuerung. Sie erschöpft sich nicht in der starren Durchführung des beschlossenen strategischen Konzepts. Vielmehr handelt es sich um jederzeit flexibles operatives Handeln, welches an veränderte Lagen und die strategischen Schachzüge der Konkurrenzparteien angepasst werden kann.

Fünf entscheidende Weichenstellungen

Wendet man die Elemente der politischen Strategieanalyse auf den Wahlerfolg der SPD bei der Hamburger Bürgerschaftswahl 2015 an, lässt sich dieser im Wesentlichen auf fünf strategische Weichenstellungen zurückführen.

Erstens: Die auf Olaf Scholz zentrierte Personalisierungsstrategie. Bereits der Wahlkampf der SPD im Jahr 2010, die darauf folgende Regierungsübernahme 2011, die Regierungsarbeit und schließlich der Wahlkampf 2014 /15 wurden extrem personalisiert und auf Olaf Scholz als beherrschender Führungsfigur zugeschnitten. Partei, Fraktion und Senat blieben gegenüber dem Ersten Bürgermeister im Hintergrund und bildeten keine Akteure mit eigenständigem Gewicht.

Personalisierung ist bekanntermaßen kein neues Phänomen, findet aber in Olaf Scholz eine auf die Spitze getriebene authentische Einheit von Führungseigenschaften und „Impression-Management“. Scholz’ Führungsstil ist eher nicht repräsentativ, sondern kraftvoll mit betonter Effizienz und Leistungsautorität. Er verkörpert den Chef, den Hamburger Kapitän, nach dem Motto: „Alles hört auf mein Kommando!“.

Seinen Führungs- und Kommunikationsstil mit dem von Angela Merkel gleichzusetzen, trifft nicht den Punkt. Beide teilen zwar einen lösungsorientierten Pragmatismus, aber Merkels öffentliches Auftreten ist gewöhnlich unbestimmt und unverbindlich, während Scholz bestimmt und verbindlich als „entschiedener Entscheider“ auftritt.

Zweitens: Die reduktionistische Themensetzungsstrategie. Die Hamburger SPD unter Scholz setzte bereits im Bürgerschaftswahlkampf 2011 auf eine vote getting-Strategie, die sich von einem Branding à la „Partei der (neuen) Mitte“ lossagte. Stattdessen verfolgte sie unideologisch und pragmatisch eine reine Themen-Offerten-Strategie, fokussiert auf wenige konkrete Anliegen (Studiengebühren abschaffen, Kitagebühren beseitigen, bezahlbaren Wohnraum schaffen), die für breite Wählerkreise einen alltagsweltlich greifbaren, hohen Nutzen versprachen. Die SPD beanspruchte für diese Themen damals Lösungskompetenz, wofür ihr mit 48,4 Prozent Stimmenanteil ein überragender Vertrauensvorschuss gewährt wurde. Der Bürgerschaftswahlkampf 2014 /15 stützte sich ausschließlich auf die erfolgreiche Verwirklichung dieser Wahlversprechen.

Wirtschaftskompetenz als Trumpf

Abgerundet wurde diese minimalistische Themensetzung durch eine wirtschaftsfreundliche Ausrichtung der SPD, wodurch der Wirtschaftsstandort Hamburg als Hafenstadt (Elbvertiefung) und damit der Erhalt von Arbeitsplätzen gesichert werden sollte. Als Trumpf konnte Scholz im Wahlkampf 2011 den parteiungebundenen Vertreter der Hafenwirtschaft und ehemaligen Präses der einflussreichen Handelskammer, Frank Horch, als zukünftigen Senator für Wirtschaft präsentieren. Die Wähler bewerteten die Wirtschaftskompetenz der SPD denn auch ausgesprochen hoch. Die Wirtschaftsnähe der SPD lief dabei aber nicht auf eine wirtschaftsliberale Politik hinaus, was sich im Kauf von öffentlichen Anteilen an der Reederei Hapag-Lloyd oder dem Einsatz für eine Mietpreisbremse kundtat.

Die Lager überwindende Themensetzungsstrategie kennzeichnet weder ein unbegrenzter catch-allism noch ein gezieltes Wähler-targeting. Im Gegenteil: Sie macht den Wählern des links- und grünalternativen Milieus von Hamburg keinerlei Avancen, sondern überlässt sie den Grünen oder der Linkspartei. Mit der „middle of the road“-Strategie lässt die Hamburger SPD zugleich aber auch ihre klassische Rolle als „Schutzmacht der kleinen Leute“ hinter sich.

Drittens: Die Strategie des „ordentlichen Regierens“. Olaf Scholz trat bereits 2011 mit dem Versprechen vor die Wähler, „ordentlich zu regieren“. Hierdurch setzte sich die Scholz-SPD bewusst von der gescheiterten schwarz-grünen Vorgängerregierung unter Ole von Beust ab. Mit dem ordentlichen Regieren verbinden sich zwei Botschaften. Einmal ist da das Versprechen, handwerklich gut, reibungslos und effizient zu regieren; Scholz selbst bürgt mit seiner Persönlichkeit für die Einlösung dieses Versprechens. Zum anderen besagt der Slogan, im Sinne von good governance anständig, verlässlich und frei von Affären und Skandalen regieren zu wollen. Somit setzt der Slogan der Glaubwürdigkeitskrise der Politik, dem verbreiteten Misstrauen gegenüber „korrupten“ Politikern, die ihre Versprechen brechen, sowie nicht an Lösungen interessierten, streitsüchtigen Parteien die Devise entgegen, zu seinem Wort zu stehen und keinen Unterschied zwischen „Talk“ und „Action“ zu machen: Getan wird, was versprochen wurde, und darauf ist Verlass! Die auf Scholz konzentrierte Wahlkampagne von 2014 /15 legte deshalb eine Leistungsbilanz mit dem Motto vor „Versprochen und gehalten“, und bat mit dem Slogan „Hamburg weiter vorn“ um die Erneuerung des Vertrauens.

Wie die Konkurrenz entmutigt wird

Viertens: Die kompetitive Entwaffnungsstrategie. Die Erfolgsformel für Wahlerfolge ist einfach und hat es zugleich in sich: Halte deine Wähler und gewinne neue dazu. Genauer, verhindere die Abwanderung deiner Wähler zur Konkurrenz oder ins Nichtwählerlager und mache umgekehrt der Konkurrenz Wähler abspenstig. Vor diesem Hintergrund zielt eine Entwaffnungsstrategie darauf ab, die Konkurrenz an der Mobilisierung der eigenen Wähler und am Eindringen in das eigene Wählerrevier zu hindern.

Zwei strategische Varianten lassen sich dabei unterscheiden: Die Merkel-Strategie der so genannten asymmetrischen Demobilisierung dringt in die Themen-Domänen der Konkurrenz ein und übernimmt deren Lösungsansätze (Atomausstieg, Elterngeld, Mindestlohn, Mietpreisbremse). Sie nimmt ihren Konkurrenten dadurch die Fähigkeit zur Eigenprofilierung und Wählermobilisierung gegen die Union. Die Scholz-Strategie der entwaffnenden Demobilisierung beeinträchtigt die Fähigkeit der Konkurrenz zur Politisierung eines Themas auf andere Weise, nämlich indem man mit Hilfe von early warning und rapid response einem Problem prompt ein attraktives Lösungskonzept entgegensetzt, es dadurch kanalisiert und neutralisiert, bevor es sich zum Missstands- und Versagensthema entwickelt. Die Konkurrenz wird dadurch entmutigt und um ihren Mobilisierungselan gebracht, weil sie die regierende Partei nicht vor sich her treiben und in die Defensive drängen kann. Dies ließe sich an Beispielen wie der gescheiterten Stau-Kampagne der Opposition, der Lösung des „Rote Flora“-Problems sowie den Auseinandersetzungen um die so genannten Lampedusa-Flüchtlinge in Hamburg anschaulich illustrieren.

Fünftens: Die Strategie des Koalitionsbildungsspiels. Die Spekulationen über den Wahlausgang im Bürgerschaftswahlkampf 2014 /15 waren auf die Frage konzentriert, ob die Scholz-SPD ihre Alleinregierung fortsetzen könne oder ob sie eine Koalition eingehen müsse. Umfragedaten seit dem Herbst 2014 sagten den Verlust der absoluten Mehrheit für die SPD als wahrscheinlich voraus. Dies vor Augen legte sich Olaf Scholz fast ein halbes Jahr vor den Wahlen öffentlich auf die Linie fest, dass er als Wahlziel zwar eine Alleinregierung anstrebe. Aber: „Falls wir einen Partner brauchen, werden wir zuerst die Grünen fragen.“ Rot-Grün bildete laut Umfragen für 53 Prozent der Hamburger Wähler die Wunschkoalition. Wie schon 2011 war bei Scholz mit diesem Schachzug hinsichtlich der Koalitionsbildung das Kalkül erkennbar, die Abwanderung von potenziellen SPD-Wählern zu den Grünen zu verhindern. Zudem setzte er mit seiner frühen strategischen Vorfestlegung darauf, dass Wähler aus bürgerlich-wirtschaftsnahen Kreisen mit Blick auf die Rolle der Grünen in der schwarz-grünen Koalition unter Ole von Beust der CDU den Rücken kehren würden. Diese Wählerbewegungen bescherten der SPD demoskopisch ersichtliche Zuwächse.

Das Ziel, bürgerliche Wähler zur SPD zu ziehen, die eine rote Alleinregierung gegenüber einer Regierungsbeteiligung der Grünen bevorzugten, ging also durchaus auf. Gleichzeitig profitierten hiervon aber auch unerwartet stark die Liberalen, weil ein wachsender Teil der bürgerlichen Wähler auf eine rot-gelbe Koalition hoffte. Insofern kam Scholz’ öffentliche Absage an eine rot-gelbe Koalition eine Woche vor der Wahl zu spät, um den taktisch intendierten Wählerzulauf aus bürgerlichen Kreisen zur FDP noch wirksam abblocken und auf die SPD umlenken zu können. Am Ende fehlten zwei Abgeordnetensitze für den Erhalt der Alleinregierung.

Politische Strategie als Gesamtprozess ist, wie deutlich werden sollte, nicht allein auf die Phase des Wahlkampfs beschränkt. Sie ist ganz im Gegenteil zeitlich weit vorgelagert und beginnt, speziell für eine Regierungspartei, personell und richtungspolitisch mit frühen strategischen Weichenstellungen sowie Schwerpunktsetzungen auf der Grundlage von Nutzen- und Erfolgskalkülen. Wahlkämpfe bilden also so etwas wie die Zielgerade von strategischen Vorarbeiten, und der Wahlerfolg gleicht einer Siegprämie, durch die die Gesamtstrategie gekrönt wird.

Beherzt zupacken und Probleme lösen

Einige naheliegende und gar nicht so überaus originelle strategische Schlussfolgerungen lassen sich auch auf die Ausgangslage und Manövrierspielräume der SPD auf Landes- und Bundesebene übertragen. Zunächst: Der Wahlkampf beginnt am Tag nach den Wahlen. Die auf Olaf Scholz zentrierte extreme Form der Personalisierung ist dagegen eher der exponierten Stellung des Bürgermeisters bei Großstadtwahlen geschuldet. Wer dafür kandidiert, muss im öffentlichen Auftreten besonders glaubwürdig sein und seiner Persönlichkeit treu bleiben.

Probleme, die sich durch legitimes Zutun der Konkurrenz und der Medien zu politischen Brandherden entwickeln können, sollten nicht ausgesessen werden. Rasches Zupacken und beherztes Problemlösen dienen der entschlossenen Brandbekämpfung. Bei der Themensetzung ist Weniger und Konkretes mehr, als sich bei den Wahlkampfversprechen zu überheben und zu verzetteln. Doch zünden selbst konzentrierte Themenofferten nur, wenn sie aus Sicht der Wähler mit einem konkret greifbaren Nutzen verbunden sind. Erst dadurch werden die angestrebte Wirtschaftskompetenz und das Eintreten für soziale Gerechtigkeit zu wahlentscheidenden Faktoren. Und zu guter Letzt: Auf die von Parteien öffentlich verbreiteten Erwartungen und Versprechen sollte ohne Abstriche Verlass sein, damit ihnen die Wähler auch in Zukunft vertrauen und ihre Stimme geben.

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