Island an der Themse?
Die Briten seien eine "Nation von Ladenbesitzern und Kunden", schrieb der große Ökonom Adam Smith, was Napoleon in die verächtliche Bemerkung von der "Nation der Krämer" abwandelte, die er leicht zu besiegen hoffte. Im Dauerboom der letzten 15 Jahre traf Smiths Beobachtung mehr denn je zu. Rasant hat sich Großbritannien in eine Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft verwandelt. Der Anteil von Manufakturen und produzierendem Gewerbe liegt bei gerade noch 13 Prozent des Bruttosozialprodukts. Die Konjunktur wurde zuletzt vor allem vom privaten Konsum getragen, der wiederum zu einem guten Teil auf exzessiver privater Verschuldung basierte. Nun ist die heimische Nachfrage weggebrochen. Die Nation hat das Heulen und Zähneklappern erfasst.
Die Folgen sind überall zu besichtigen. In den Highstreets sind immer mehr Schaufenster mit Spanholzplatten verrammelt. Dem Konkurs der Traditionskette Woolworth folgten Dutzende andere Geschäfte: Mode-, Möbel- und Musikläden, Baumärkte und die zahllosen Geschenkshops, die überflüssige Nichtigkeiten verkauften und heute nur noch wie Sumpfblüten einer überhitzten Kultur des Shoppings wirken.
"Albert, was ist los? Ich bin völlig allein."
Der Traum ist aus, in der Provinz wie in der Metropole. Besonders hart vom Konjunktureinbruch betroffen sind Restaurants und Kneipen, denen das Rauchverbot ohnehin arg zugesetzt hatte. Albert, ein Kopte, der vor 30 Jahren aus Ägypten eingewandert ist und heute ein griechisches Restaurant im Londoner Vorort Ealing managt, hebt den Blick, als wollte er den Himmel anrufen. "Ganz plötzlich, fast schlagartig" seien die Gäste nach dem Sommer 2008 weggeblieben, nun sei die Lage katastrophal. Ein schwacher Trost, dass es der Konkurrenz genauso geht. Die Besitzerin eines benachbarten Cafés habe ihn angerufen und gefragt: "Albert, was ist los? Wo sind die Kunden? Ich bin völlig allein!"
Die Antwort ist einfach. Die Briten haben entweder kein Geld mehr, um auszugehen, oder schlicht Angst. Jeden Tag verlieren rund 1.500 Menschen ihren Job. Im Durchschnitt machen täglich 15 Unternehmen zu, und das längst nicht nur in der Londoner City mit ihrem aufgeblähten Finanzsektor, wo sich Zehntausende nach Jahren üppiger Boni auf der Straße wiederfanden. Es hat alle Zweige getroffen, auch die britische Exportindustrie, die eigentlich gehofft hatte, vom dramatischen Verfall des Pfunds zu profitieren. Die Nachfrage ist überall weggebrochen.
Dass das Pfund gegenüber dem Dollar und dem Euro rund 30 Prozent eingebüßt hat, ist ein Warnsignal: Großbritannien hat dramatisch an Bonität verloren. Seine Position auf den Finanzmärkten, wo die Londoner Regierung mit anderen Staaten um Anleihen ringen muss, hat sich verschlechtert. Die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt könnte Bankrott gehen " diese unausgesprochene Furcht treibt Gordon Brown zu immer hektischerer Aktivität. Seit längerem geistert das böse Wort vom "Island an der Themse" durch die Medien.
Alles wie in Reykjavik. Nur größer
Der Eisberg, der Island versenkte und nun Irland bedroht, mit seinem lange Zeit verborgenen "toxic debt" unter der Meeresoberfläche, könnte Großbritannien nun das gleiche Schicksal bescheren und die Regierung zwingen, den Internationalen Währungsfonds um Rettung zu ersuchen. Erstaunliche Parallelen zwischen den beiden Ländern lassen sich nicht leugnen: Wie Island hat auch Großbritannien eine maßlos aufgeblähte Finanzindustrie mit einem Umsatzvolumen, das bis vor kurzem dem fünffachen Wert des britischen Bruttoszialproduktes entsprach. Das Land hat ein chronisches Zahlungsbilanzdefizit, und während Islands private Verschuldung im Jahr 2008 dem doppelten Wert seines Bruttosozialproduktes entsprach, lag sie in Großbritannien zuletzt immerhin bei 170 Prozent des Bruttosozialproduktes. Wie die isländische Krone befindet sich der Pfund Sterling auf steiler Talfahrt. Die Senkung des britischen Leitzinses auf ein Prozent wird diese Entwicklung eher noch beschleuigen. Und schließlich hat sich Gordon Brown wie Islands Regierungschef damit gebrüstet, die ökonomischen Zyklen, "boom and bust", abgeschafft zu haben.
Die Wirtschaftskrise hatte den Premier im vergangenen Herbst vor dem Sturz durch die eigene Partei bewahrt und ihm die unerwartete Chance eröffnet, als erfahrener Krisenmanager vielleicht doch noch einen Wahlsieg einfahren zu können. Diese Hoffnung ist längst zerstoben. Im Parlament rutschte Brown, es war ein Freudscher Versprecher par excellence, der Satz heraus, er habe "die Welt gerettet", als er an die 37 Milliarden Pfund teure Rettungsaktion für britische Banken Ende 2008 und die von ihm initiierte Übernahme der verschuldeten schottischen Riesenbank HBOS durch die Lloyds TSB erinnerte. Die Aktion ist längst wirkunglos verpufft. HBOS erweist sich als Fass ohne Boden, mit "giftigen Schulden" von über 350 Milliarden Pfund, und droht Lloyds TSB mit in den Abgrund zu ziehen. Gordon Browns langjährige Freundschaft mit Sir Fred Goodwin ist zerbrochen, dem gigantomanen Chef von HBOS, der noch riesige Summen für marode Banken ausgab, als die Bankenkrise nicht mehr zu übersehen war. Die Regierung Brown stimmte den schamlos hohen Pensionsregelungen für den vormaligen Bankenboss zu, dessen Größenwahn die Steuerzahler ausbaden müssen " was das Wahlvolk, das nach dem Blut der verhassten Bankiers dürstet, dem Premier anlastet.
Ungeachtet der enormen Summen, die der Staat in die Finanzindustrie pumpt, haben die britischen Unternehmen nach wie vor enorme, oft unüberwindliche Schwierigkeiten, dringend benötigte Kredite zu erlangen. Die Banken sind immer noch zu schwach, um auf eigenen Füßen zu stehen und der britischen Wirtschaft die Liquidität zu verschaffen, die sie braucht, um einigermaßen normal zu funktionieren und die drohende Depression abwehren zu können. Londoner Regierung und Zentralbank, Finanzaufsicht und die Banken selbst hatten das Ausmaß der "giftigen Schulden" massiv unterschätzt.
Großbritanniens Vorteile sind verspielt
So ist ein Ende der Krise der Banken noch immer nicht in Sicht. Um den Kollaps der Finanzindustrie zu verhindern, muss die Regierung immer mehr Geld aufbringen; allein die staatlichen Garantien, eine Art Versicherung gegen "toxic debts", belaufen sich mittlerweile auf 360 Milliarden Pfund. Vor dieser Aktion hatte sich der britische Staat bereits dazu verpflichtet, britischen Banken mit der schwer vorstellbaren Summe von 500 Milliarden Pfund in Darlehen, Garantien und Kapitalinjektionen unter die Arme zu greifen.
Kein Wunder, dass die Verschuldung des Staates nun steil nach oben schießt. Damit verliert Großbritannien einen Pluspunkt, der es positiv von anderen europäischen Ländern unterschied. 1997, im ersten Jahr der Labour-Regierung lag die britische Gesamtverschuldung bei 38 Prozent des Bruttosozialproduktes und damit deutlich niedriger als etwa in Deutschland und Frankreich. Als Schatzkanzler hatte Gordon Brown in den vergangenen Jahren diesen Vorteil schon verspielt: Er hatte den Ausgabenhahn immer stärker aufgedreht, zudem durch Public Private Partnerships staatliche Schulden versteckt, nichts für schwierige Zeiten zurückgelegt und bis vor kurzem die Briten zu der unverantwortlich hohen privaten Verschuldung indirekt ermuntert.
Als Gordon Brown noch die Welt rettete
Nun bleibt ihm nichts anderes übrig, als auf rücksichtsloses deficit spending zu setzen, auf "kruden Keynesianismus", wie der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück spöttelte. Und Nicolas Sarkozy befand, Browns Rezept, die Mehrwertsteuer vorübergehend um zwei Prozent zu senken, bringe rein gar nichts. Leider behielt der französische Präsident mit Recht: Die Nachfrage wurde nicht angekurbelt, zumal viele Unternehmen die geringere Mehrwertsteuer gar nicht an die Kunden weitergeben. Gordon Browns wirtschaftspolitischer Ruf ist ziemlich ruiniert. Er verschlimmert seine Situation durch die Unfähigkeit, Fehler oder Fehleinschätzungen einzuräumen.
Browns mangelnde emotionale Intelligenz ist wohlbekannt. Noch im Jahr 2008 hatte er immer wieder verkündet, sein Land sei besser gerüstet als andere, die globale Krise zu überstehen. Ein Satz, der ihm nun immer wieder vorgehalten wird. Brown hat Recht, wenn er, den G20-Gipfel Anfang April im Visier, eine "koordinierte, internationale Antwort" sowie eine neue Regulierung für die globale Finanzindustrie fordert. Insgeheim treibt ihn die gleiche Angst um wie alle Regierenden in Europa. Die Politiker wissen nicht, ob die Rettungspakete, die sie für die Banken geschnürt haben, Wirkung zeigen werden. Sie fürchten, dass weitere Hiobsbotschaften auf sie zukommen. Sie haben keinen Schimmer, wie das alles enden wird, ob "nur" in einer tiefen Rezession oder in einer ausgewachsenen Depression, der am Ende vieleicht doch die Hyperinflation folgen wird. Die Ratlosigkeit teilen sie mit Bankiers und Otto Normalverbraucher, der sich fragt, wie er sein Erspartes am besten sichern kann.
Die Experten operieren an den Grenzen des Wissens. Alles, was die Regierungen tun, beruht zwangsläufig zu einem Gutteil auf dem Prinzip des trial and error. Und dann ist da noch die Furcht vor der Wut der Wähler: Proteste und Demonstrationen von Island bis Griechenland könnten nur das Vorspiel sein. In Großbritannien gab es wilde Streiks. Gordon Browns populistischer Ausspruch "britische Jobs für britische Arbeiter" aus dem September 2007, mit dem er eine Popularitätsdelle ausgleichen wollte, fällt ihm nun mit Vehemenz auf die Füße. Umso schlimmer, dass fast 90 Prozent aller Arbeitsplätze, die in elf Jahren Labour-Regierung neu geschaffen wurden, an Einwanderer aus Übersee und der EU gingen. Nun rächt sich, dass New Labours Reformansatz, Sozialleistungen an die Bereitschaft zu knüpfen, eine Arbeit anzunehmen, verwässert und nicht energisch vorangetrieben wurde " wegen des wachsenden Widerstandes von Traditionalisten und gewerkschaftlichen Kreisen.
Was wird, wenn die Zahl der Arbeitslosen, die sich derzeit beängstigend rasch der Marke von zwei Millionen nähert, in diesem Jahr auf drei Millionen steigt? Der Zorn der Menschen ist überall zu spüren. Die Wähler suchen nach Sündenböcken, während sie die eigenen Sünden verdrängen, nicht zuletzt ihre Bereitschaft, über die eigenen Verhältnisse zu leben und Schulden aufzuhäufen. Die Wut auf gierige Banker, die auch jetzt noch riesige Boni kassieren, schürt einen "emotionalen Bolschewismus", der letztlich der extremen Rechten zugute kommt. Selbst wenn Großbritannien der staatliche Bankrott erspart bleibt " die Steuerzahler müssen die Zeche zahlen.