Israels Triumph und Tragödie
Triumph und Tragödie – in diesen beiden Begriffen fasst der namhafte israelische Journalist Ari Shavit die Geschichte seines Landes zusammen. Seinem „verheißenen Land“ singt der Autor ein Loblied und eine Wehklage zugleich. Auf der einen Seite stehen für Shavit die historischen Errungenschaften des zionistischen Israel, nämlich moralische und militärische Stärke. Auf der anderen Seite sieht er Israels Tragödie in der stetigen Bedrohung der Existenz seines Landes. Zwischen beiden Polen besteht aus Shavits Sicht ein äußerst spannungsreiches Verhältnis.
Das große Leitmotiv heißt: Angst
Ein Leitmotiv dabei ist Angst. Schon der erste Satz des Buches offenbart die Haltung des 1957 geborenen Autors zur israelischen Lage: „Solange ich mich erinnern kann, kenne ich Angst. Existenzielle Angst“. Shavit blickt auf die Geschichte Israels und sucht nach den Gründen dafür, dass das Land in eine dermaßen verfahrene Lage geraten ist: „Erst vor ein paar Jahren dämmerte es mir plötzlich, dass meine existenzielle Angst mit Blick auf die Zukunft meines Landes und meine moralische Empörung über die Besatzungspolitik meines Landes nicht unverbunden sind. Einerseits ist Israel die einzige Nation des Westens, die ein anderes Volk besetzt hält. Andererseits ist Israel die einzige Nation des Westens, die in ihrer Existenz bedroht ist. Beides, Besatzung und Bedrohtheit, macht Israel einzigartig. Bedrohtheit und Besatzung sind die beiden tragenden Säulen unserer Lage geworden. Die meisten Beobachter leugnen diese Dualität. Jene auf der Linken beklagen die Besatzung und übersehen die Bedrohtheit, jene auf der Rechten betonen unserer Bedrohtheit und missachten den Tatbestand der Besatzung. Die Wahrheit ist aber, dass man ohne die Berücksichtigung beider Elemente weder Israel noch den israelisch-palästinensischen Konflikt begreifen kann. Jede Denkschule, die nicht beide dieser fundamentalen Sachverhalte berücksichtigt, muss fehlerhaft und vergeblich bleiben. Nur ein dritter Ansatz, der sowohl Bedrohtheit als auch Besatzung einbezieht, kann sich als realistisch erweisen und Israels Geschichte richtig deuten.“
Doch wie sieht der dritte Erklärungsansatz aus? Auf welche Weise distanziert sich Shavit von den zwei angeblich konkurrierenden politischen Positionen? Stimmt es überhaupt, dass sich die Linkszionisten ausschließlich mit Israels Besatzungspolitik und deren moralischer Verwerflichkeit beschäftigen, dabei aber die außenpolitische Gefahr ignorieren? Und trifft es umgekehrt zu, dass die Rechtszionisten auf Israels Bedrohtheit fixiert sind und gleichzeitig die mit der Siedlungspolitik des Landes einhergehende Militarisierung verdrängen?
Dass die These von der Dualität zwischen Friedenspolitik und Siedlungspolitik im zionistischen Israel unhaltbar ist, zeigt schon die Geschichte der großen Koalitionen über die Jahrzehnte hinweg. Tatsächlich haben beide politischen Blöcke, die linkszionistische Avoda ebenso wie der rechtszionistische Likud, das zionistische Projekt aus Überzeugung verfolgt. Siedlung und militärische Stärke sind immer die zwei Grundpfeiler der israelischen Politik gewesen.
Der Niedergang des Linkszionismus
Mit seinen Ausführungen steht Shavit klar in der Tradition des Linkszionismus, also jener politischen Strömung, welche die zionistischen Ziele der Judaisierung Palästinas mit einem möglichen Frieden für vereinbar hielt. Er beschreibt, wie er selbst vom Friedensfreund zum Friedensskeptiker geworden sei. In Wahrheit verrät diese vermeintliche Gesinnungstransformation vor allem, wie stark der Linkszionismus in den Jahren seit 2000 verfallen ist: „Zwar war ich immer für den Frieden und unterstützte die Zweistaatenlösung, aber nach und nach wurden mir die Irrtümer und Fehlannahmen der Friedensbewegung klar. Und als Kommentator kritisiere ich die Dogmen sowohl der Rechten wie der Linken. Ich habe gelernt, dass es keine einfachen Antworten auf die Situation im Nahen Osten und keine Instantlösungen für den israelisch-palästinensischen Konflikt gibt. Ich habe begriffen, dass Israels Lage extrem komplex, vielleicht sogar tragisch ist.“
Überzeugt von der Komplexität der jüdisch-israelischen Geschichte, schließlich auch von Friedensuntauglichkeit der Region, beschreibt Shavit in der Erzähltradition eines persönlichen Reiseberichts die zentralen Zäsuren dieser Geschichte. Beginnend mit dem Gründungsjahr des Zionismus (At first Sight 1897) durch die Unsicherheit der Vorstaatlichkeit und ihre Prägungen (Into the Valley 1921, Orange Grove 1936, Masada 1942) bis zur Gründung Israels geht es um Erinnerungsorte (Lydda 1948), sodann um die Aufbaujahre und den Neuanfang für die jüdischen Einwanderer (Housing Estate 1957), um Sicherheit und das Atomprogramm (The Project 1967), auch um die Siedlungspolitik in den 1967 besetzten Palästinensergebieten (Settlement 1975) sowie deren Folgen (Gaza Beach 1991, Peace 1993).
Wie der Traum gescheitert ist
Den innerjüdischen Spannungen zwischen den aschkenazischen und orientalischen Juden Israels ist ein Kapitel gewidmet (J’Accuse 1999), ein weiteres dem angeblich freizügigen Tel Aviver Leben (Sex, Drugs, and the Israeli Condition 2000). Schließlich geht es um das neue Millennium: Up the Galilee 2003, Reality Shock 2006, Occupy Rothschild 2011 und Existential Challenge 2013. Insgesamt belegen diese Abschnitte das Scheitern des zionistischen Traums von einem jüdischen und zugleich demokratischen Staat. Für die Einwohner Israels sind heute weder Sicherheit und Gerechtigkeit noch Frieden garantiert.
Die innen- und außenpolitischen Angelegenheiten legt Shavit anhand von Interviews mit zahlreichen Persönlichkeiten aus Politik, Militär, Justiz, Wissenschaft und Medien in aller Ausführlichkeit dar. Es wird viel zitiert, viel unkommentiert wiedergegeben. Kohärente Argumente oder überzeugende Analysen der israelischen Kondition liefert das Buch hingegen nicht. Stattdessen bietet es ein vielstimmiges, sehr ausufernd, aber auch atmosphärisch erzähltes Panorama der vielschichtigen Problematik eines Landes, das im Grunde nicht weiter weiß.
Die Entpolitisierung des Friedens
Dass Shavits Ausführungen selbst kaum zur Klarheit und Erkenntnis darüber beitragen, worum es eigentlich geht, liegt in seinem linkszionistischen Narrativ begründet. Es ist dieses Narrativ, das die Entpolitisierung des Konflikts, schließlich des Friedens, zu verantworten hat. In ihm offenbart sich am deutlichsten die Widersprüchlichkeit und Orientierungslosigkeit des zionistischen Israel.
Denn ebenso wenig wie das rechtszionistische hat das linkszionistische Israel in Sachen Frieden etwas anzubieten. Das zeigt Shavits Kapitel Peace 1993 über den einzigen Abschnitt der Konfliktgeschichte, in dem eine linkszionistische Regierung den Streit um das Land mit dem palästinensischen Nachbarvolk auf seine Tagesordnung setzte. Shavits Erklärung für das Scheitern des Ansatzes lautet: „Der elementare Irrtum der israelischen Linken lag darin, dass sie nie zwischen dem Thema Besatzung und dem Thema Frieden unterschied. Im Hinblick auf die Besatzung lag die Linke völlig richtig. Sie verstand, dass die Besatzung eine moralische, demografische und politische Katastrophe ist. Aber was den Frieden angeht, war die Linke ziemlich naiv. Sie setzte auf einen Friedenspartner, den es im Grunde nicht gab. Sie unterstellte, weil Frieden benötigt werde, sei er auch möglich. Aber die Geschichte des Konflikts und die geostrategische Lage der Region legten nahe, dass Frieden eben nicht möglich war.“
Wie sehr der Linkszionist Shavit in den Begriffen der Friedensideologie denkt, und damit den Frieden selbst entpolitisiert, zeigt seine Bemerkung: „Wir von der israelischen Linken taten gut daran, den Frieden zu versuchen. Wir taten gut daran, den Palästinensern eine große Verhandlungslösung anzubieten: ein demilitarisiertes Palästina an der Seite eines jüdischen und demokratischen Israel in den Grenzen von 1967. Aber wir hätten uns selbst nie Frieden versprechen oder annehmen sollen, dass Frieden kurz bevorstehe.“
Am Unfrieden sind die anderen schuld
Zwar bedauert Shavit zutiefst, dass Israel das Land schließlich doch nicht geteilt hat, um so sein Kernproblem der Besatzung zu lösen. Zugleich aber beharrt er darauf, die Frage der politischen Ordnung basierend auf Besatzung, militärischer Kontrolle und Mauer strikt von der Frage der Nichterreichbarkeit von Frieden mit den Palästinensern zu trennen. Der Frieden hängt nicht von uns ab, lautet die implizite These. Wenn es so ist, dass Israel keinen Frieden als Folge einer Räumung der besetzten Gebiete antizipiert, dann verwundert es kaum, dass Israel diese Gebiete weiterhin besetzt hält. Denn die Besiedlung der Teilgebiete von Eretz Israel war und bleibt ein Projekt des zionistischen Israel. Von Beginn an zielte es darauf, Palästina zu judaisieren, um eine jüdische Heimstätte zu errichten.
Shavit beendet seine Reise By the Sea. Am östlichen Rand des Mittelmeers vergewissert er sich, dass der Zionismus (und mithin das zionistische Israel) trotz aller beschriebenen Probleme schließlich doch die einzige jüdische Lebensform für (säkulare) Juden sei. Angesichts der Shoah und der Verstoßung der Juden aus dem Westen bringt der dreifache Vater und Enkel eines britisch-jüdischen Einwanderers sein Verhältnis zum Westen zum Ausdruck. Er lässt kaum Zweifel aufkommen, wo seine Kinder hingehören: „Ein Teil von mir wünscht sich für sie England als Zuhause. Aber mir ist klar, dass wir diesen Weg nicht einschlagen können. Über die Jahre hätte unser Stamm auf diesen grünen Weiden nicht überleben können. Auch ohne Holocaust, Pogrome und nackten Antisemitismus töten uns diese Inseln auf sanfte Art. Auch das aufgeklärte Europa tötet uns auf sanfte Weise, ebenso das demokratische Amerika. Die wohlmeinende westliche Zivilisation zerstört den nichtorthodoxen Judaismus.“
Shavits Buch ist in Amerika, von der Kritik begeistert aufgenommen, zum Bestseller geworden. Vermutlich liegt der erstaunliche Erfolg des argumentativ äußerst mittelmäßigen Bandes daran, dass er Israels Verzweiflung und der Aussichtlosigkeit Ausdruck verleiht: Endlich einmal wagt ein einflussreicher Kommentator, Israeli und Zionist die direkte Auseinandersetzung mit der Lage seines Landes. Aber letztlich ist das Buch doch eher ein Loblied als eine Wehklage. Shavits Zionismus ist so stark ausgeprägt, dass seine angeblich kritische Haltung zur Besatzung und Unterdrückung der Palästinenser immer wieder in den Hintergrund tritt.
Unreflektierte Selbstrechtfertigung
Am Ende werden die Palästinenser sogar als ein vor allem bedrohlicher Faktor beschrieben. Neben dem „Islamischen Kreis“ und dem „Arabischen Kreis“ nennt er den „Palästinensischen Kreis“ als Bedrohung der Existenz Israels. Apodiktisch, ja selbstgerecht wird immer wieder das Bestehende als unausweichlich bestätigt. Weil Shavit in seinem linkszionistischen Narrativ gefangen bleibt, changieren seine Ausführungen zwischen Weinerlichkeit über Israels konfliktträchtige politische Ordnung und der Behauptung der Notwendigkeit dieser Ordnung. Schließlich rechtfertigt er diese Verhältnisse, ohne sie wirklich zu verstehen, geschweige denn zu reflektieren.
Am Schluss steht daher das zionistische Glaubensbekenntnis: „Wir mussten uns selbst retten, indem wir ein jüdisches nationales Zuhause errichteten. Und wenn ich auf den Stufen von Yad Vashem stehe, kann ich nicht anders als auf Israel stolz sein. Ich wurde als Israeli geboren, ich lebe als Israeli, und als Israeli werde ich auch sterben.“ So verständlich Shavits Emotionen sein mögen, so wenig können sie zur Lösung der großen Probleme seines Landes beitragen.
Ari Shavit, My Promised Land: The Triumph and Tragedy of Israel, New York: Spiegel & Grau 2013, 464 Seiten, 29, 99 Euro