Welcher Logik folgt Israel?
Gleich zwei Äußerungen aus dem Umfeld der Sozialdemokratie haben jüngst zu kontroversen Debatten über das deutsch-israelische Verhältnis geführt: Günter Grass’ Gedicht „Was gesagt werden muss“ und Sigmar Gabriels Facebook-Eintrag, in dem er die Lage im Westjordanland mit einem „Apartheid-Regime“ verglich. Auch 67 Jahre nach dem Ende des Holocaust scheint die Frage ungeklärt, wie die Deutschen mit ihrer besonderen Verantwortung zum israelischen Staat und dessen Politik stehen sollen.
Die Einen pochen auf die unabdingbare deutsche Verantwortung für den jüdischen Staat, und zwar ungeachtet seiner gegenwärtigen Siedlungs-, Bevölkerungs- oder Kriegspolitik. Die Anderen, beispielsweise Günter Grass, nehmen diese Politik streng unter die Lupe – und stellen so die Tradition der „besonderen Beziehung“ Deutschlands zu Israel in Frage. Aus ihrer Sicht hängt die Unterstützung des Landes sehr wohl davon ab, ob sich das israelische Staatswesen allmählich in Richtung Apartheid entwickelt oder nicht. Ihnen zufolge besteht die deutsche Verantwortung darin, genau hinzuschauen, ob an der israelischen Politik etwas nicht stimmt.
Der Erzfeind darf nie gefährlich werden
Um dies zu können, muss man wissen, welcher Logik die Entscheidungsträger des zionistischen Israel folgen. Weshalb war Israel seit seiner Gründung wiederholt in regionale Kriege verwickelt? Und wie lässt sich die israelische Haltung im Atomkonflikt mit Iran erklären?
In aller Kürze: Seit seiner Gründung 1948 begreift Israel seine nationalstaatliche Existenz im engen Zusammenhang mit seiner militärischen Stärke. Aus einem besonderen Verständnis des eigenen Staates heraus und in Anbetracht der regionalen Verhältnisse entwickelte der neue Staat bereits im Laufe der fünfziger Jahre die militärische Doktrin der Abschreckung. Demnach ist die eigene militärische Überlegenheit gegenüber den als Feinden (genauer: als Erzfeinden) begriffenen Gegnern ein Existenzgarant: Israel muss seinen Widersachern um jeden Preis militärisch überlegen sein und bleiben. Bestandteil der Kriegspolitik wurde sehr bald auch der Grundsatz des Präventivkrieges, wie der Sinai-Suez-Krieg von 1956 oder der Sechstagekrieg von 1967 belegen. Heute gilt wie damals: Der Erzfeind darf niemals in der Lage sein, Israels Existenz militärisch ernsthaft zu gefährden.
Diese Doktrin wurde zum Baustein der sicherheitspolitischen Ordnung des israelischen Staats und ging in die politische Kultur der neuen Gesellschaft ein. Israels atomare Kapazitäten bildeten schon in den sechziger Jahren unausgesprochen die ultimative Abschreckung des jüdischen Staats; die westlichen Staaten akzeptierten sie zwar zähneknirschend, doch schließlich stillschweigend als eine Art Lebensversicherung des zionistischen Israel.
Die Logik der Abschreckung ist auch das Ergebnis des mit militärischer Gewalt verwirklichten zionistischen Projekts in Palästina. In zwei Eroberungskriegen 1948 und 1967 brachte Israel das gesamte Territorium des „Eretz Israel“ unter seine Herrschaft. Gemäß der zionistischen Staatsräson förderte Israel die jüdische Einwanderung in das „Land des jüdischen Volkes“ sowie dessen Besiedlung. Bis heute sind Einwanderung, Siedlung und Sicherheit die drei Maximen der israelischen Politik. Das schlagkräftige Militär soll das zionistische Israel sichern.
Doch sowohl Sicherheit als auch die „Judaisierung“ des Landes Israel sind unter den gegebenen Umständen überhaupt nicht zu erreichen. Seit jeher ist der Kriegszustand bittere Realität. Zugleich musste Israel im Laufe der Jahre Teile des Heiligen Landes „Eretz Israel“ räumen: die Sinai Halbinsel im Jahr 1982 und den Gazastreifen 2005. Und dennoch bilden die zwei Gründungsmythen noch immer die Grundlage der israelischen Politik – der Mythos von Eretz Israel als Land des jüdischen Volkes und der Sicherheitsmythos.
Die Gründungsmythen helfen nicht mehr
Was den Mythos von Eretz Israel betrifft, besteht Israel weiterhin auf der Definition eines jüdischen und demokratischen Staates, obwohl das historische Palästina zur Hälfte von Nichtjuden bevölkert wird. Trotz der binationalen Demografie bleibt der beschriebene Grundsatz bestehen und könnte sehr wohl zu Apartheid-ähnlichen Verhältnissen führen. Der Sicherheitsmythos wiederum hat, kritisch betrachtet, die gewünschte Sicherheit gerade nicht bewirkt, sondern im Gegenteil sogar die Eskalation des Nahost-Konflikts bewirkt. Auch im Atomkonflikt mit Iran spielt der Sicherheitsmythos eine zentrale Rolle: Weil nur die eigene militärische Hegemonie die jüdische Nationalstaatlichkeit sichere, dürfe kein „Erzfeind“ je in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommen. Diese Form der Kriegslogik lag zuletzt den Präventivschlägen gegen atomare Anlagen in Irak 1981 und in Syrien 2007 zugrunde. Sie gilt auch in Bezug auf Iran.
Bei Präsident Mahmud Ahmadinedschad sieht das politische Israel auch deshalb rot, weil die islamische Republik im Laufe der achtziger und neunziger Jahre zunehmend zu einem wichtigen Verbündeten zweier muslimisch-religiös ausgerichteter politisch-militärischer Organisationen wurde: der palästinensischen Hamas und der libanesischen Hisbollah. Diese Organisationen sind aus israelischer Sicht Erzfeinde an zwei Fronten des jüdischen Staats. Auf diese Weise wird der regionale arabisch-israelische Konflikt mit der Palästina-Frage verknüpft, auf welche das zionistische Israel noch immer keine Antwort gefunden hat. Für Israel handelt es sich bei dieser Konstellation immer um eine bedrohliche Verknüpfung, ganz egal ob ein säkularer arabischer Nationalist im Kairo der fünfziger und sechziger Jahren oder ein muslimischer Fundamentalist im heutigen Teheran das Land anzugreifen droht.
Doch gerade der Mythos von Eretz Israel und der Sicherheitsmythos hindern Israel daran, die eigentliche Kernfrage des Nahostkonflikts auf die Tagesordnung zu setzen: die Palästina-Frage. Nur wenn sich das zionistische Israel von diesen Gründungsmythen löst, kann der hundertjährige Streit um Palästina dauerhaft geschlichtet werden.
Zurück zum deutsch-israelischen Verhältnis: Wer die explosive politische Lage in Nahost verstehen und sich ein Urteil über Israels (Kriegs-)Politik bilden will, dem hilft die Diskussion nicht weiter, ob Günter Grass ein Antisemit ist oder nicht. Wenn die Person Gegenstand der Debatte bleibt – seine vermeintlich antiisraelische Gesinnung, seine Vergangenheit, seine Eitelkeit oder sein mangelndes Fachwissen in Bezug auf Atomwaffen –, wird die in seinem Gedicht aufgegriffene politische Sache geflissentlich ignoriert werden können. Wer aber die Verhältnisse vor Ort einigermaßen nachvollziehen möchte, der muss sich die Mühe machen und mit der eigenen, sehr belastenden jüdisch-deutschen Vergangenheit souveräner umgehen.