Ist der Westen noch zu retten?

Europa und Nordamerika vereint die politische Kultur der westlichen Demokratie. Doch heute verkommt die "westliche Wertegemeinschaft" zu einer Floskel. Ohne politischen Grundkonsens hat das atlantische Bündnis keine Zukunft

Gewöhnlich sind die militärischen Sieger eines Krieges auch seine politischen Gewinner. Doch das muß nicht immer so sein. Den Irak-Krieg haben die Vereinigten Staaten von Amerika militärisch gewonnen, politisch aber noch längst nicht. Und es ist fraglich, ob sie ihn je gewinnen werden.


Die stärkste Kraft im Irak sind derzeit nicht zurückgekehrte Exilpolitiker, sondern die religiösen Führer schiitischer Islamisten, die mit immer größerem Widerhall den Abzug der Amerikaner verlangen. Wenn diese Kräfte als Sieger aus freien Wahlen hervorgehen, ist das amerikanische Konzept "Verwestlichung durch Befreiung" gescheitert. Es würde sich auch dann als Fehlschlag erweisen, wenn die Amerikaner versuchen sollten, die islamistische Bewegung gewaltsam zu unterdrücken, freie Wahlen zu verzögern oder zu verhindern, oder wenn sie nicht bereit wären, ein politisch unerwünschtes Wahlergebnis anzuerkennen.


Den von Washington erhofften prowestlichen Dominoeffekt im Nahen Osten würde es in keinem dieser Fälle geben. Vielmehr dürften die Skeptiker Recht bekommen, die vor einem Irakkrieg auch deshalb gewarnt haben, weil er die ganze Region zu destabilisieren drohe. Sollte es so kommen, hätte in Europa niemand Anlass zur Schadenfreude. Ein vom Irak ausgehender islamistischer Dominoeffekt wäre eine Niederlage des gesamten Westens. Die jüngsten Terroranschläge in Saudi-Arabien sind ein Menetekel.


Eine politische Niederlage müssen sich die Europäer schon jetzt eingestehen - die Gegner des Krieges ebenso wie die Mitglieder der "Koalition der Willigen". Die einen haben den Krieg nicht verhindern können. Den anderen ist es nicht gelungen, im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen jene "zweite", kriegslegitimierende Entschließung durchzusetzen, auf die vor allem Großbritannien gedrängt hatte. Die Erfahrung des Scheiterns könnte aber auch, wie schon so oft in der europäischen Geschichte, zur Lehrmeisterin einer Koalition der Lernwilligen werden. Die Lektion, die der Streit um den Irak-Krieg den Europäern erteilt hat, lautet: Ein Europa, das Einfluss auf die amerikanische Politik ausüben will, darf nicht gespalten auftreten. Es muss in dem außenpolitischen Bereich, den man früher "Große Politik" nannte, mit einer Stimme sprechen. Es muss seine Kräfte, auch die militärischen, verstärken und zusammenführen.

Wo das Gesetz des Dschungels gilt

Einer der führenden amerikanischen Neokonservativen, Robert Kagan, hat den mentalen und politischen Gegensatz zwischen Amerika und Europa auf die viel zitierte Formel gebracht: Mars versus Venus. Europa wird von diesem Autor als der Weltteil dargestellt, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg von der Machtpolitik abgewandt und der Verwirklichung von Kants utopischer Vision des "Ewigen Friedens" verschrieben hat. Amerika hingegen agiert Kagan zufolge nach wie vor in jener von Thomas Hobbes beschriebenen wirklichen Welt, in der das Gesetz des Dschungels gilt und die immer wieder den Einsatz militärischer Macht verlangt.


Europa hat zu dieser karikierenden Gegenüberstellung hinreichenden Anlass gegeben. Nach dem Ende des Kalten Krieges verbreitete sich in manchen Teilen des alten Kontinents, namentlich im wiedervereinigten Deutschland, die Vorstellung von einer Welt ohne Feinde. Folgerichtig gingen die Aufwendungen für militärische Zwecke stark zurück, und die Verteidigungspolitik wurde vernachlässigt. Der internationale Terrorismus wurde nicht als die Bedrohung wahrgenommen, die er schon lange vor dem 11. September 2001 war. Amerika hingegen hatte bereits in den achtziger Jahren unter Ronald Reagan begonnen, sich militärisch und politisch auf die globale Hegemonie vorzubereiten. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums waren die Vereinigten Staaten, was sie sein wollten: die einzige verbliebene Supermacht. Während der Präsidentschaft Bill Clintons konnten sich die Europäer über die Konsequenzen dieses Sachverhalts noch hinweg täuschen. Seit George W. Bush das Weiße Haus erobert hat, können sie es nicht mehr.


Europa also illusionär und Amerika realistisch? So einfach ist die Sache nun auch wieder nicht. Wer die Ausarbeitungen des "Project for the New American Century" und anderer neokonservativer Thinktanks liest, kommt nicht umhin, sich zu wundern. Seit den frühen neunziger Jahren haben die intellektuellen Falken, die jetzt innerhalb der Administration von Bush dem Jüngeren den Ton angeben, die Erwartung geäußert, durch einige begrenzte Kriege, beginnend mit einem Krieg gegen den Irak Sadam Husseins, würden sich die Staaten des arabischen Nahen Ostens in prosperierende und amerikafreundliche Demokratien verwandeln lassen. Bis in die jüngste Zeit wurde immer wieder, zuletzt auch von Präsident Bush selbst, Deutschland nach 1945 als triumphaler Beweis dafür angeführt, daß Amerika autoritär geprägte Gesellschaften, wenn die Diktatur erst einmal mit militärischen Mitteln beseitigt war, in Demokratien verwandeln könne.


"Alteuropäer" könnten versucht sein Juvenal zu zitieren: "Difficile est satiram non scribere" (Es ist schwer, keine Satire zu schreiben). Abwegiger könnte eine historische Analogie in der Tat nicht sein. In Deutschland ging es nach dem Zweiten Weltkrieg um die Wiederherstellung einer parlamentarischen Demokratie und die Wiederbelebung alter Traditionen von Rechtsstaat und Zivilgesellschaft. Im Irak und im gesamten muslimisch-arabischen Nahen Osten gibt es diese Erfahrungen und Traditionen nicht. Die Nachkriegsszenarien der neokonservativen Thinktanks und der von ihnen beeinflussten Praktiker der Macht sind nicht das Ergebnis von nüchterner Analyse, sondern von ahistorischem Wunschdenken. William Pfaff, einer der scharfsinnigsten Kritiker der Administration Bush unter den amerikanischen Publizisten, hat die Vermutung geäußert, die führenden neokonservativen Intellektuellen, die früher nahezu ausnahmslos auf der äußersten Linken gestanden hatten, hingen unbewusst immer noch Trotzkis Projekt der permanenten Revolution an - einem Projekt, das sie politisch von weit links nach weit rechts umgepolt hätten. Das ist immerhin ein plausibler Versuch, eine politische Strategie in psychologischen Kategorien zu erklären, die rational sonst kaum nachvollziehbar wäre.

Die Welt hat allen Grund zur Beunruhigung

Gleichviel ob voluntaristische Neokonservative, christliche Fundamentalisten, traditionelle Nationalisten, Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes oder texanische Öllobbyisten Einfluss auf die Politik des 43. Präsidenten der Vereinigten Staaten nehmen: Die Welt hat allen Grund, über das Gesamtergebnis dieser Einwirkungen beunruhigt zu sein. Die Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika vom 20. September 2002, die ausgefeilte Form der Bush-Doktrin, nimmt für die Vereinigten Staaten ein Sonderrecht auf präventive Selbstverteidigung und jedwede Art von vorwegnehmenden Aktionen in Anspruch und kündigt damit der Charta der Vereinten Nationen die Loyalität auf. Die größte Errungenschaft in der Geschichte des Völkerrechts, die Ächtung des Angriffskriegs, ist damit von der stärksten Militärmacht der Welt außer Kraft gesetzt worden - von derselben Macht, der die Welt diese Errungenschaft verdankt. Das ist ein revolutionärer Akt, dessen einschneidende Bedeutung vielen Europäern noch gar nicht bewusst geworden ist.


Theorie und Praxis des amerikanischen Unilateralismus stellen die viel beschworene "westliche Wertegemeinschaft" radikal in Frage. Ein normativ entkernter Westen: das ist ein Widerspruch in sich selbst. Ein Westen, der glaubt, er könne auf normatives Denken verzichten, hört auf, der Westen zu sein. Dieser amerikanischen Herausforderung kann sich der europäische Teil des Westens nicht fügen. Europa muss die Wiederherstellung des Respekts für das Völkerrecht als eine seiner vornehmsten Aufgaben begreifen. Es darf daher nicht an der weiteren Schwächung der Vereinten Nationen mitwirken, wie sie von der vorherrschenden Richtung innerhalb der Administration Bush angestrebt wird, sondern muss auf das Gegenteil hinarbeiten: die Reform und die Stärkung der UNO. Europa kann dabei auf jene Teile der amerikanischen Öffentlichkeit setzen, die sich der liberalen Tradition der Vereinigten Staaten verpflichtet fühlen. Sie mögen heute eine Minderheit sein. Aber sie müssen es nicht bleiben.

A house divided against itself cannot stand

In einer berühmten Rede, die er am 16. Juni 1858 in Springfield, Illinois, hielt, hat Abraham Lincoln in durchaus weltlicher Absicht ein Wort Jesu aus dem Markus-Evangelium zitiert: "Wenn ein Haus mit sich selbst uneins wird, kann es nicht bestehen." Auf das Europa von morgen, das Europa der 25, angewandt heißt das: Die alte Welt wird nicht zu einer politischen Einheit zusammenwachsen, wenn sie keine gemeinsame Antwort auf den amerikanischen Unilateralismus findet. Um der gemeinsamen Werte des Westens willen muss Europa der westlichen Führungsmacht widersprechen, wenn sich diese im Bereich der internationalen Politik nicht mehr an das fundamentale westliche Prinzip der rule of law gebunden fühlt. Die "westliche Wertegemeinschaft" ist in der Gefahr, zu einer leeren Floskel zu werden. Sie kann nur dann wieder zu einer Realität werden, wenn die alten und die neuen Mitglieder der Europäischen Union gemeinsam die Herrschaft des Rechts gegen ihre Verächter verteidigen - woher diese auch kommen mögen.

Gegen das Diktat einer einzelnen Macht

Anfang Mai 2003 haben die Außenminister der EU auf der griechischen Insel Kastellorizo die Ausarbeitung einer Europäischen Sicherheitsstrategie beschlossen. Inzwischen liegt ein entsprechender, auf dem Gipfel der EU in Thessaloniki am 20. Juni gebilligter Entwurf des Hohen Beauftragten für die Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, vor. Der Text bekennt sich ausdrücklich zur Weiterentwicklung des Völkerrechts. Doch diese Weiterentwicklung soll nicht durch das Diktat einer einzelnen Macht, sondern in multilateralem Rahmen erfolgen. Bis zur Verabschiedung der Europäischen Sicherheitsstrategie im Dezember 2003 wird noch einiges zu klären sein: Soll zur Weiterentwicklung des Völkerrechts auch der Schutz der Menschenrechte bis hin zu "humanitären Interventionen" gehören? Macht die Herausforderung durch den internationalen Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen eine neue Definition des Begriffs der "unmittelbaren Bedrohung" erforderlich, die entsprechend der vorherrschenden Lesart der Charta der Vereinten Nationen ein Recht auf präventive Selbstverteidigung begründet?


Europa muss, auch finanziell, sehr viel mehr als bisher für seine Verteidigung tun. Eine Europäische Sicherheitsstrategie aber darf nicht nur ein militärisches Konzept zur Bekämpfung des Terrorismus sein: In diesem Punkt sind die europäischen Akzente in Solanas Entwurf besonders deutlich. Die EU kommt nicht darum herum, eine umfassende Friedensstrategie zu erarbeiten, die politische, soziale und interkulturelle Anstrengungen zur Entschärfung und Lösung von Konflikten einschließt. Eine solche Strategie bedarf eines politischen Grundkonsenses der alten und der neuen Mitglieder der Europäischen Union. Dieser Konsens setzt das Bemühen um Verständnis für die jeweils andere Seite, also einen offenen Dialog über die unterschiedlichen Erfahrungen und Prägungen von "West"- und "Osteuropäern" voraus. Wenn die Europäer die dazu nötige Kraft nicht aufbringen, droht das "Projekt Europa" zu scheitern - und mit dem "Projekt Europa" zugleich auch das atlantische Bündnis, das ohne Grundkonsens ebenfalls keine Zukunft hätte.


Falls es so kommt, wird es eine Renaissance von Plänen für ein Kerneuropa, also für die Herausbildung eines engeren und eines weiteren Bundes innerhalb der EU, geben. Daraus kann leicht eine neue Spaltung Europas erwachsen, und das just zu der Zeit, in der es möglich geworden ist, die Folgen der Spaltung von Jalta endgültig zu überwinden. Eine solche Entwicklung käme manchen "Falken" in Washington gerade recht, entspräche sie doch der klassischen imperialen Devise "Divide et impera" - "Teile und herrsche". Für die Europäer hingegen wäre ein neuer Riss durch den Kontinent tragisch.

Der Westen war immer pluralistisch

Europa und Nordamerika vereint die gemeinsame politische Kultur der westlichen Demokratie. Diese größte aller historischen Errungenschaften der Menschheit gilt es gegenüber einer neuen Erscheinungsform des Totalitarismus, dem global agierenden, terroristischen Fundamentalismus, zu verteidigen. Deswegen führen alle Vorschläge in die Irre, die der Europäischen Union (oder, ersatzweise, einem "karolingisch" anmutenden Kerneuropa) eine Identität zuschreiben wollen, die wesentlich aus der Abgrenzung von den Vereinigten Staaten lebt. Der Westen war immer pluralistisch, weil der Pluralismus die Quintessenz des Westens ist. Diese Einsicht sollte am Beginn eines neuen europäischen und transatlantischen Dialogs stehen, auf den es heute mehr denn je ankommt.

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