Vorrang für Vertiefung: Deutschlands Europapolitik braucht neue Prioritäten
Wird 1999, das Jahr, in dem erstmals die Berliner Republik erschien, in die deutschen Geschichtsbücher eingehen? Vermutlich ja, denn der Umzug von Bundestag und Bundesregierung von Bonn nach Berlin, der damals mit großer Verspätung stattfand, ist zu einer Zäsur geworden. Um den inneren Vereinigungsprozess, der noch längst nicht abgeschlossen ist, stünde es viel schlechter, wenn Deutschland weiter vom Rhein aus regiert würde. Die Ostdeutschen müssten ungleich stärker, als es heute der Fall ist, das Gefühl haben, Bundesbürger zweiter Klasse zu sein, wäre neben den Hochburgen von Wirtschaft, Banken, Technologie und Medien auch das politische Machtzentrum im Westen des Landes verblieben. Der Hauptstadtwechsel hat Deutschland gut getan, und er ist auch längst nicht mehr umstritten.
Deutschland würde infolge der Wiedervereinigung weniger „westlich“ sein als zuvor, und der Regierungsumzug an die Spree werde die „Verostung“ noch fördern – so fürchteten in den neunziger Jahren viele. „Westlich“: Damit war jene umfassende Öffnung gegenüber der politischen Kultur der westlichen Demokratien gemeint, die sich in der „alten“ Bundesrepublik seit den Tagen Konrad Adenauers vollzogen hatte. „Östlich“ war alles, was diesen Fortschritt zu bedrohen schien. Tatsächlich ist das vereinigte Deutschland heute in mancher Hinsicht westlicher, als es je war, und das hängt mit zwei Grundsatzentscheidungen desJahres 1999 zusammen, einer innen- und einer außenpolitischen.
Westlich zu sein heißt pluralistisch zu sein
Die innenpolitische Entscheidung war die überfällige Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, das Werk einer Ad-hoc-Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen. Ob jemand Deutscher ist oder nicht, das ist nun nicht mehr nur eine Frage der Abstammung, sondern auch, ganz im Sinne der westlichen Norm, eine Frage des Willens. Die außenpolitische Entscheidung betraf die Beteiligung der Bundeswehr an einer humanitären Intervention des Atlantischen Bündnisses: im Kosovo. Das vereinigte Deutschland akzeptierte unter einer rot-grünen Bundesregierung militärische Verantwortlichkeiten, wie sie der alten Bundesrepublik erspart geblieben waren. Das war eine Folge des Souveränitätszuwachses vom 3. Oktober 1990, gegen die sich die Linke bis dahin vehement gesträubt hatte. Die Regierung Schröder-Fischer entschied sich gegen eine militärpolitische Sonderrolle Deutschlands, und das war gut so.
Die Verwestlichung Deutschlands ist also nach 1990 weitergegangen, und es widerspricht dieser These nicht, dass die Bundesrepublik im Jahre 2003 zur Beteiligung am Irak-Krieg Nein gesagt hat. Sie tat es aus guten politischen und völkerrechtlichen Gründen. Keine Macht der westlichen Welt, auch nicht die mächtigste, hat einen Monopolanspruch darauf, das jeweilige Interesse des Westens zu bestimmen. Der Pluralismus ist ein Wesensmerkmal des Westens. Der Westen gäbe sich als politisches und normatives Projekt selbst auf, wenn er aufhören würde, pluralistisch zu sein.
Am 3. Oktober 1990 ist ein Jahrhundertproblem gelöst worden: die deutsche Frage. Sie war seit dem frühen 19. Jahrhundert immer sowohl eine Frage des Gebiets als auch eine Frage des Verhältnisses von Einheit und Freiheit. Durch die Wiedervereinigung sind die beiden Forderungen der Revolution von 1848, Einheit und Freiheit, verwirklicht worden. Die Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze an Oder und Görlitzer Neiße ist die endgültige Antwort auf die deutsche Frage, soweit sie eine Gebietsfrage war. Diese Antwort bedeutete zugleich die Lösung eines anderen Jahrhundertproblems: der polnischen Frage. Ohne die gleichzeitige Lösung beider Fragen hätte es keine Wiedervereinigung, aber auch nicht die Osterweiterung der Europäischen Union von 2004 gegeben.
Anders als die deutsche Frage ist die europäische Frage immer noch offen. Es ist höchst ungewiss, ob der Verfassungsvertrag von 2004 je in Kraft treten wird. Unsicher ist auch, wie die umstrittensten Beitrittsverhandlungen, die die EU je geführt hat, ausgehen werden: die mit der Türkei. Die Erweiterung der Europäischen Union ist ihrer Vertiefung weit vorausgeeilt, und das kann fatale Folgen haben. Europa wird nicht schon dadurch zu einem weltpolitischen Akteur, dass es eines Tages bis zum Euphrat reicht. Durch Überdehnung ist schon so manche Weltmacht zugrunde gegangen, aber noch nie eine entstanden.
Um ihr politisches Gewicht zu vergrößern, muss die Europäische Union mit einer Stimme sprechen können. Das kann sie nur, wenn sie sich auf ein europäisches „Wir-Gefühl“ zu stützen vermag. Das aber ist bis heute nicht gerade stark ausgeprägt, und es wird noch schwächer werden, wenn die EU sich in Gebiete wie das östliche Anatolien ausdehnt, in denen es nicht die geringsten Ansätze für ein Bewusstsein europäischer Zusammengehörigkeit und Solidarität gibt.
Für optionsoffene Verhandlungen mit der Türkei
Verhandlungen mit der Türkei über die Gestaltung ihres Verhältnisses zur EU sind notwendig. Sie müssen über den Status quo hinausführen, und wenn sich während der Verhandlungen herausstellt, dass die Voraussetzungen für eine Vollmitgliedschaft Ankaras nicht gegeben sind, muss über vertraglich geregelte, enge, ja herausgehobene Beziehungen zwischen der EU und der Türkei gesprochen werden – sei es als Übergangs-, sei es als Dauerlösung. Ich habe für diese Option am 7. November 2002 in einem Beitrag für die Zeit den von den Unionsparteien wenig später übernommenen Begriff „privilegierte Partnerschaft“ vorgeschlagen. Ein solcher dritter Weg wäre allemal sehr viel besser als die schlichte Feststellung, dass die Beitrittsverhandlungenverhandlungen gescheitert sind. Die europäischen Staats- und Regierungschefs wären also gut beraten, sich im Dezember für optionsoffene Verhandlungen mit der Türkei zu entscheiden.
Eine Politische Union wird die EU nicht werden, wenn sie fortfährt, der Erweiterung den Vorrang vor der Vertiefung des Einigungsprozesses zu geben. Die deutsche Politik hat immer behauptet, sie verfolge beide Ziele gleichzeitig. Das reicht nicht mehr. Sie muss sich entscheiden, welches Ziel ihr wichtiger ist. Denn ohne Vertiefung wäre jede künftige Erweiterung ein Beitrag zur Auflösung der EU. Man kann diese Aussage auch anders, nämlich positiv, formulieren: Vertiefung ist die Voraussetzung dafür, dass die Europäische Union erweiterungsfähig bleibt – oder wieder wird.