»Die subversive Kraft des Westens«
Herr Winkler, vor Kurzem haben Sie im „Spiegel“ die deutschen Putin-Versteher scharf kritisiert. Was werfen Sie ihnen vor?
Zunächst einmal ist die Gemeinde der deutschen „Putin-Versteher“ ein ziemlich buntscheckiges Gebilde. Sie reicht von der politischen Linken, etwa von Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht, über die sozialdemokratischen Altkanzler Gerhard Schröder und Helmut Schmidt, den Ostausschuss der deutschen Wirtschaft bis hin zu Peter Gauweiler von der CSU sowie Alexander Gauland von der AfD.
In der Linkspartei scheint man bis heute nicht begriffen zu haben, dass Präsident Putin seit seinem Amtsantritt im Jahre 2000 einen scharfen Ruck nach rechts vollzogen hat. Er wird dort wohl immer noch als Vertreter des Landes gesehen, dem man die angeblich „große“ russische Oktoberrevolution zu verdanken hat. Hinzu kommt eine erhebliche Prise Antiamerikanismus. Letzteren findet man auch bei der deutschen Rechten. Schlimmer noch: Liest man zum Beispiel die Ausführungen von Alexander Gauland auf dem Erfurter AfD-Parteitag im März über das „Einsammeln russischer Erde“, ist das geradezu eine Rechtfertigung des völkischen Nationalismus, wie ihn Putin praktiziert. Zudem wird auf dieser Seite gern die Wirkung deutsch-russischer Sonderbeziehungen in der Geschichte verklärt.
Doch so unterschiedlich die jeweiligen Motive der linken und rechten so genannten Putin-Versteher auch sein mögen – einig sind sie sich speziell in einem Punkt: in ihrer Distanz zum Westen. Sie stellen, gewollt oder nicht gewollt, den Zusammenhalt der Europäischen Union und des atlantischen Bündnisses fundamental infrage. Dabei unterschätzen beide Seiten völlig die Gefahren, die sich aus neuen deutschen Alleingängen ergeben würden.
Vernachlässigt das Verständnis für Putins Politik die Interessen und die Sicherheitsbedürfnisse der Staaten, die zwischen Deutschland und Russland liegen – ganz in schlechter historischer Tradition?
Ja. Diejenigen, die sich um ein wohlwollendes Verständnis Putins bemühen, weisen zwar rasch und lobend auf Bismarcks Rückversicherungsvertrag mit dem Zarenreich hin, sie verschwenden aber keinen Gedanken an unsere östlichen Nachbarn, etwa die Polen oder die baltischen Völker, bei denen deutsch-russische Sonderbeziehungen ganz andere Erinnerungen hervorrufen. In Warschau hat man nicht vergessen, dass die Teilungen Polens im 18. Jahrhundert vor allem das Werk Russlands, Preußens und auch Österreichs waren. Man erinnert sich lebhaft an die Versuche deutscher Militärs nach 1918, Polen mit russischer Hilfe auf seine ethnischen Grenzen zurückzudrängen oder als Staat auszulöschen. Ganz zu schweigen vom negativen Höhepunkt deutsch-russischer Beziehungen, dem Hitler-Stalin-Pakt im Jahre 1939. Dies wird von den wohlwollenden Putin-Verstehern natürlich nicht erwähnt.
Sie sprachen von Putins völkischem Nationalismus. Welche Rolle spielt dieser im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine?
Ein Umschlagen des gescheiterten „sozialistischen Internationalismus“ in einen traditionellen ethnischen Nationalismus hat Europa das erste Mal in den neunziger Jahren im zerfallenden Jugoslawien erlebt. In Russland konnte man schon damals einen russischen Nationalismus mit entschieden antiwestlichen Vorzeichen beobachten. Dieser hat sich unter Putin noch verstärkt, weil er sich davon eine wirksame Integration der russischen Gesellschaft verspricht. Daher auch das publikumswirksame Eintreten für die angeblichen Belange russischer Minderheiten im Ausland.
Nutzt Putin den russischen Nationalismus bloß als Instrument, um Unterstützung für seine Politik zu mobilisieren – oder glaubt er selbst an diese Ideologie?
Ich glaube, dass seine berühmte Äußerung vom April 2006, die Auflösung der Sowjetunion sei die größte geostrategische Katastrophe des 20. Jahrhunderts, Ausdruck eines tief verletzten russischen Nationalgefühls war. Und so sehr Putin den Nationalismus instrumentalisiert, er identifiziert sich auch mit ihm, ja er verkörpert ihn. Das ist wahrscheinlich der harte Kern seiner politischen Überzeugungen.
Wie wichtig ist für den Putinismus darüber hinaus die Ablehnung westlicher Werte?
Besonders wichtig ist für Putins Herrschaft der Pakt mit der orthodoxen Kirche, die seit jeher der verlässlichste Rückhalt des antiwestlichen Ressentiments in Russland ist. Wenn Putin heute den Kampf gegen so genannte homosexuelle Propaganda in den Vordergrund seiner politischen Aktivitäten rückt, tut er das zum einen, um sich die weitere Unterstützung der orthodoxen Kirche zu sichern. Zum anderen schwingt er sich auf diese Weise zum Wortführer einer international verbreiteten, höchst konservativen, ja reaktionären Grundstimmung auf. Pointiert gesagt: In Russland erleben wir heute den Versuch, die gescheiterte Kommunistische Internationale durch eine reaktionäre Internationale zu ersetzen – einen Kampfbund gegen die westlichen Errungenschaften und Werte.
Findet hier wieder eine erfolgreiche Verknüpfung des Nationalismus mit anderen Ideologien statt, so wie es im 19. Jahrhundert mit dem Liberalismus oder im 20. Jahrhundert mit dem Faschismus der Fall war?
Im Laufe des 19. Jahrhunderts schlug der ursprünglich bürgerlich-emanzipatorische, liberale oder sogar linke Nationalismus in vielen Ländern in einen rechten, reaktionären Nationalismus um. So galten nationale Parolen den bürgerlichen Liberalen in Deutschland bis zur Reichsgründung 1871 noch als ein Kampfmittel gegen die feudalen und rückwärtsgewandten Kräfte. Danach wurde die nationale Parole zu einer Waffe gegen die internationalistische Sozialdemokratie umfunktioniert, um die nationale Integration zu fördern.
In Russland war die ursprüngliche Form des bürgerlichen Nationalismus allerdings nur schwach ausgeprägt, der rechte Nationalismus zur Abwehr liberaler und sozialistischer Bestrebungen hingegen sehr viel stärker präsent. Bereits kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben kluge Beobachter darauf hingewiesen, dass diese alte antiwestliche Ideologie auf Seiten konservativer und orthodoxer Kräfte fröhliche Urstände feierte. Hierin liegt wohl auch der tiefere Grund für die von Putin demonstrierte Nähe seines Regimes zur russischen Orthodoxie.
Besteht heute auch in der Ukraine die Gefahr, dass sich der Befreiungs-nationalismus in eine repressive Ausgrenzungsideologie verformt, nämlich gegen die prorussische Bevölkerung im eigenen Land?
Auf dem rechten Flügel der Anti-Janukowitsch-Bewegung waren diese Tendenzen mit der Hand zu greifen. Das nach dem Regimewechsel zunächst vom ukrainischen Parlament verabschiedete Gesetz, das Russisch als Amtssprache abschaffen wollte, aber vom Übergangspräsidenten nicht unterzeichnet wurde, war ein Ausdruck solcher Bestrebungen. Zudem hatte der ukrainische Nationalismus schon immer ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Westen, und der Nationsbildungsprozess ist in der Ukraine immer noch nicht abgeschlossen.
Wo liegen die historischen Ursachen dafür?
Bis heute wirkt in der Ukraine nach, dass die historische Grenze zwischen dem lateinischen und dem orthodoxen Europa mitten durch das eigene Land verläuft. Nur im Westen des Landes hat die mit Rom verbundene griechisch-katholische Kirche einen gewissen Einfluss gehabt, während der Rest eindeutig orthodox geprägt ist. Während das lateinische Europa seit dem hohen Mittelalter Prozesse fortschreitender Gewaltenteilungen durchlief, wodurch die Emanzipationsbewegungen vom Humanismus und von der Renaissance über die Reformation bis hin zur Aufklärung Fuß fassen konnten, hat sich das orthodoxe östliche und südöstliche Europa völlig anders entwickelt. Dort ist die geistliche Gewalt der weltlichen immer untergeordnet gewesen. Damit fehlte eine ganz wesentliche Antriebskraft für die Herausbildung einer Kultur des Pluralismus und Individualismus. Diese historische Differenz wirkt in der Ukraine bis heute nach, was vom Westen jedoch lange unterschätzt wurde.
Kann Russland als orthodoxes Land unter diesen historischen Bedingungen zukünftig überhaupt zum Westen dazu gehören?
Amartya Sen hat Samuel Huntington einmal entgegen gehalten, dass man Kulturen nicht als Gefängnis betrachten dürfe. Dem möchte ich mich anschließen. Eine Gesellschaft, die nicht westlich geprägt ist, kann sich durchaus wandeln und westliche Werte übernehmen. Schließlich wurden als westliche Errungenschaften technische Erfindungen, die kapitalistische Produktionsweise oder das demokratische Mehrheitsprinzip von vielen nichtwestlichen Gesellschaften übernommen. Aber eine Rezeption der politischen Kultur des Westens fällt umso schwerer, je geringer die Tradition individueller Rechte und politischer Teilhabe ausgeprägt ist. Große Teile Europas haben erst durch den Zusammenbruch des europäischen Kommunismus die Chance erhalten, die gesellschaftliche und politische Ordnung nach westlichen Maßstäben auszurichten. Im alten Okzident hat es immerhin 200 Jahre gedauert, bis sich das normative Projekt des Westens in Gestalt der politischen Ideen von 1776 und 1789 überall durchsetzen konnte – also die unveräußerlichen Menschenrechte, die Herrschaft des Rechts, die Gewaltenteilung, die Volkssouveränität und die repräsentative Demokratie.
In der russischen Gesellschaft gibt es seit der Auflösung der Sowjetunion aber großen Widerstand gegen diese Werte, und dieser Widerstand ist unter Putin noch stärker geworden. Zudem haben sich die antiwestlichen Kräfte in Russland – sei es in Gestalt der Orthodoxie oder in Gestalt der Bolschewiki seit dem 19. Jahrhundert stets gegen die Befürworter einer Westöffnung durchgesetzt. Deshalb ist die Verwirklichung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und gesellschaftlichem Pluralismus in Russland kurzfristig nicht zu erwarten. Längerfristig setze ich allerdings auf die ungebrochene Anziehungskraft der Ideen von 1776 und 1789 auch in autoritär verfassten Gesellschaften. Die subversive Kraft des normativen Projekts des Westens hat sich noch lange nicht erschöpft.
Aber wie gut ist es um dieses Projekt bestellt? Kritiker werfen dem Westen vor, seit 1990 selbst mehrfach Völkerrecht gebrochen und die territoriale Integrität von Staaten verletzt zu haben – etwa im Kosovo, Irak oder in Libyen. Die Vorwürfe gegenüber Putin seien deshalb nicht glaubwürdig.
Erstens kann eine Völkerrechtsverletzung nicht die andere rechtfertigen. Zweitens sind die vermeintlichen Analogien falsch oder hoch problematisch. Im Fall des Kosovo ging es um eine humanitäre Intervention zur Abwehr eines drohenden Völkermords und nicht um eine Annexion durch ein westliches Land. Dass der Westen dabei das geschriebene Völkerrecht verletzt hat, trifft zu, aber er konnte sich auf die ungeschriebenen Gesetze der Menschlichkeit berufen – eine Position, auf deren Legitimität Jürgen Habermas damals mit Recht hingewiesen hat.
Im Fall der westlichen Intervention in Libyen war das Vorgehen zunächst durch ein Mandat des Sicherheitsrates gedeckt. Dieses ist dann freilich vom Westen in gefährlicher Weise überdehnt worden, was Putin höchst gelegen kam. Eindeutig völkerrechtswidrig war hingegen der Krieg der Amerikaner gegen das Regime von Saddam Hussein im Irak 2003, was damals mit Recht in den meisten europäischen Staaten scharf kritisiert und bekämpft wurde – auch wenn sich einige Regierungen trotzdem der „Koalition der Willigen“ anschlossen.
Die Annexion der Krim durch Putins Russland hat aber eine völlig neue Qualität: Zum ersten Mal seit 1945 wurden in Europa völkerrechtlich anerkannte Grenzen durch eine europäische Macht eklatant verletzt und gewaltsam verändert. Putin hat damit nicht nur allgemeine Regeln des Völkerrechts gebrochen, sondern auch ganz konkrete Abkommen wie das Budapester Memorandum von 1994, in dem sich Russland verpflichtet hat, die Grenzen der Ukraine uneingeschränkt zu achten.
Also hat der Westen seine Werte bei den genannten Interventionen nicht verraten, sondern verteidigt? Oder spielte da auch Machtpolitik eine Rolle?
Machtpolitik ist bei den Vereinigten Staaten wie bei allen Großmächten immer mit im Spiel. Aber seine Werte hat der Westen durch das Eingreifen im Kosovo nicht verletzt. Im Gegenteil: Er hätte sie verraten, wenn er untätig geblieben wäre. Im Fall des Irak kann von einer humanitären Intervention jedoch überhaupt keine Rede sein. Vielmehr war es eine durch Lug und Trug herbeigeführte militärische Intervention, die das moralische Ansehen der Vereinigten Staaten nachhaltig erschüttert hat. Dies wirkt in Europa bis heute nach und hat auch einem intellektuellen Antiamerikanismus kräftigen Auftrieb gegeben.
Man darf das normative Projekt des Westens ohnehin nicht als bestehenden Zustand missverstehen. Es war immer auch ein Korrektiv zur Praxis des Westens, aus dem meist weitergehende Auslegungen der Menschenrechte und des Rechtsstaats folgten. Dieser normative Prozess der Selbstkorrektur und die produktive Kraft der Selbstkritik gehören zu den größten Stärken des Westens. In der politischen Kultur des heutigen Russlands sehe ich solche Korrektive leider nicht wirken.
Haben sich durch den Konflikt um die Ukraine nun die außenpolitischen Spielregeln für das westliche Bündnis geändert?
Das atlantische Bündnis muss seine Bedrohungsszenarien seit jeher an der Realität prüfen, auch heute. Man stelle sich vor, die Staaten Ostmittel- und Südosteuropas wären in den neunziger Jahren nicht in das atlantische Bündnis aufgenommen worden. Vermutlich wäre eine Zone der militärischen Unsicherheit und der politischen Instabilität entstanden, ein neues Zwischeneuropa, geprägt von nationalen und antidemokratischen Ressentiments wie in der Zwischenkriegszeit. Die Osterweiterung von Nato und EU war somit ein Beitrag zur europäischen Stabilität und keine aggressive Expansion gegen Russland.
Wenn sich die osteuropäischen Natostaaten heute durch Putins Politik bedroht fühlen, muss das atlantische Bündnis seine Solidarität bekunden und darf keine Zweifel an seiner Beistandsverpflichtung aufkommen lassen. Es muss auf Russlands Expansionstendenzen besonnen und mit angemessenen Schritten reagieren. Diese müssen jederzeit rücknehmbar sein, wenn Russland bereit ist, zu den Prinzipien der Charta von Paris von 1990 zurückzukehren und eine konstruktive Rolle zu spielen.
Kann Deutschland dabei als eine Art Mittler zwischen Ost und West fungieren?
Deutschland kann nur dann etwas Positives bewirken, wenn es fest mit den Partnerländern in EU und Nato verbunden bleibt. Jeder Eindruck wirtschaftlich oder politisch motivierter Sonderbeziehungen zu Russland würde Zweifel an der Berechenbarkeit Deutschlands wecken. Wir haben allen Grund, die Sicherheitsinteressen Polens und der baltischen Republiken als Teil der deutschen Staatsräson zu betrachten. Dazu gehört vor allem eine enge Abstimmung, wie es die Außenminister des Weimarer Dreiecks im März in Kiew bereits demonstriert haben, auch wenn die Ergebnisse durch Janukowitschs Sturz rasch obsolet wurden. Eine enge Zusammenarbeit mit Warschau und Paris ist weiterhin notwendig, wenn wir unseren Einfluss zugunsten einer friedlichen Beilegung des Konfliktes um die Ukraine nutzen wollen.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Heinrich August Winkler schließt demnächst sein vierbändiges Werk über die „Geschichte des Westens“ ab. Im September erscheint Band 3 „Vom Kalten Krieg zum Mauerfall“ und Anfang 2015 Band 4 „Die Zeit der Gegenwart“ im C.H. Beck Verlag.