Ist Deutschland ein Gottesstaat?
Ist Deutschland ein Gottesstaat? Der Ruf nach mehr Laizismus, der zuletzt in kleinen Teilen der Sozialdemokratie erschallte, lässt dies vermuten. Noch auf dem Hamburger Parteitag im Jahr 2007 gab es keine einzige kritische Wortmeldung zu dem Passus im Grundsatzprogramm, mit dem sich die SPD deutlicher denn je zu den jüdisch-christlichen Wurzeln der SPD bekannte – und sich in eine kontinuierliche Linie der Grundsatzprogramme seit Godesberg 1959 stellte. Mit Blick auf die Geschichte der Sozialdemokratie war es ein großer Fortschritt, dass sich in der Partei Menschen für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität engagieren, die verschiedene Wurzeln haben. Kurt Schumacher hat das 1945 in die Worte gefasst: „Mag der Geist des kommunistischen Manifests oder der Geist der Bergpredigt, mögen Erkenntnisse rationalistischen und sonst irgendwelchen philosophischen Denkens ihn bestimmt haben, oder mögen es Motive der Moral sein, für jeden ist Platz in unserer Partei.“ In diesem Sinne plädieren wir für mehr Toleranz für die Wertbindungen der Mitglieder der SPD, für mehr Rationalität, wenn es um die diskutierten finanziellen und rechtlichen Fragen geht und für mehr Bewusstsein, in welcher historischen Tradition wir leben und wie wir damit die Fragen der Zukunft meistern können.
Wir haben in Deutschland noch nicht einmal eine Staatskirche, wie sie etwa in Großbritannien, Skandinavien oder Griechenland existiert. Aber unser Grundgesetz sieht eben auch keine rigorose Trennung von Kirche und Staat vor wie in Frankreich. Dennoch gibt es in Deutschland keine Pflicht, Kreuze in Gerichts- oder Schulräumen aufzuhängen. Im Prinzip sind wir mit unserem kooperativen Verhältnis von Staat und Kirche gut gefahren – die Kirchen sind ein wichtiger Bestandteil des öffentlichen Lebens, obwohl die Mitgliederzahlen zurückgehen. Natürlich sind die Kirchen keine Institutionen mit obligatorischer Mitgliedschaft mehr, sondern man kann austreten, ohne seine gesellschaftliche Anerkennung zu verlieren. Dennoch ist die Vermutung irrig, damit würde eine starke Bewegung von Konfessionslosen entstehen. Denn welches gemeinsame Band soll in dieser Gruppe entstehen? Eine neue breite Anti-Bewegung? Das ist nicht zu erkennen, und es gibt auch keine gesellschaftlichen Brennpunkte, die diese auslösen könnten.
Natürlich kann und muss es Kritik an der Praxis von Kirchen und ihren Einrichtungen geben. So haben die Missbrauchsskandale und die Vertuschungsversuche in der katholischen Kirche zum Beispiel zu einer großen Debatte geführt, in der sogar das Selbstverständnis der katholischen Kirche in Frage gestellt wird. Kritik und Debatte sind den Kirchen in Deutschland nicht fremd. Die protestantischen Kirchen sind demokratisch aufgebaut und verfolgen per se eine dezidierte Streit- und Diskussionskultur, an der auch Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten immer zentral beteiligt waren und diese Debatten oft entscheidend geprägt haben. Und die deutsche katholische Kirche ist die weltweit wohl einzige, in der die Laien einen überaus großen Einfluss besitzen.
Nicht zu übersehen sind die durchaus unterschiedlichen Vorstellungen in Bezug auf das Verhältnis von Staat und Kirche, was die großen Kirchen betrifft. Schließlich verkörpert der Vatikan auch eine Staatlichkeit. „Es irritiert mich tief, dass die römisch-katholische Kirche nicht nur eine Kirche ist, sondern auch ein Staat“, sagte der Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche, Nikolaus Schneider im Dezember in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau. „Wir haben in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 bekannt, die Kirche hat keine staatliche Art. Die Kirche als staatliches Organ – das geht gegen unser Bekenntnis.“ Schneider wies darauf hin, dass Jesus gesagt hat, sein Reich sei nicht von dieser Welt. Auch deshalb existiert in Deutschland selbstverständlich eine Trennung von Staat und Kirche. Dennoch hat man es dabei belassen, dass der Staat für die Kirchen die Steuern einzieht und die Kirchen dafür an den Staat zahlen. Diese Position wird übrigens von manchen Evangelikalen, die sich in Freikirchen organisieren, kritisiert. Gerade strenggläubige Christen treten oft für eine weitaus stärkere Trennung zwischen Staat und Kirche ein.
In Deutschland ist die Trennung zwischen Staat und Kirche also bereits in großem Maße verwirklicht. Wer Laizismus als Prinzip einfordert, will vor diesem Hintergrund eine radikale Nicht-Religiosität des Staates. Es ginge dann nicht mehr um Neutralität, sondern um deutliche Parteilichkeit. Wobei völlig klar ist, dass man auch im nicht-laizistischen Staat selbst über grundlegende Änderungen diskutieren darf: darüber, ob Kirchensteuern erhoben werden sollen, ob jahrhundertealte Verträge, die Zahlungen an die Kirchen bedingen, irgendwann einmal abgelöst werden, ob das Konkordat erneuert werden sollte und ob der Staat Lehrstühle für Theologie finanzieren muss. Aber all dies hat nichts mit Laizismus zu tun. Im laizistischen Portugal gibt es auch ein Konkordat, und die laizistische Türkei bildet Imame aus und verfügt über ein eigenes, mächtiges Ministerium für religiöse Angelegenheiten mit einem Geistlichen an der Spitze.
Den Staat zum religionsfreien Raum zu machen und ihn auf Laizismus, Konfessionslosigkeit, Humanismus, Atheismus oder Freidenker-Ideen festzulegen, würde keinesfalls dem Grundgesetz entsprechen. Religionsfreiheit ist eben auch eine positive Freiheit. Um sich zu einem Glauben bekennen zu können, muss man die Möglichkeit haben, ihn kennenzulernen.
Die „Laizisten“ kritisieren besonders die staatliche Unterstützung kirchlicher Kindertagesstätten, Schulen, Alten- und Pflegeheime oder Beratungsstellen. Damit erliegen sie dem Missverständnis, alles funktioniere besser, wenn es nur noch staatliche Einrichtungen gäbe. Auch ist es falsch, hier von einer Subvention „der Kirchen“ zu sprechen. Die kirchlichen Träger erhalten diese Mittel und ergänzen sie um eigene, um für den Staat Aufgaben zu übernehmen. Mit dem in Deutschland gewachsenen Prinzip der Subsidiarität ist es gelungen, einen vielfältigen Sozialstaat aufzubauen, der es jedem und jeder Einzelnen ermöglicht, zu entscheiden, ob Kinder oder Eltern besser in einer Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt, des Roten Kreuzes, der Diakonie oder der Caritas aufgehoben sind. Uns graut vor der Verstaatlichung all dieser Angebote, die auch durch ihre Wertegebundenheit Qualität entwickeln.
Die entscheidende religionspolitische Diskussion führen wir in den kommenden Jahren mit Sicherheit nicht über den Laizismus, sondern darüber, wie wir den Islam in unser Gemeinwesen aufnehmen. Denn die Trennung zwischen dem Islam und unserem Staat, unserer Gesellschaft, hat sich als höchst problematisch erwiesen. Wir grenzen Muslime an vielen Stellen aus, nicht immer aus bösem Willen, sondern weil Anknüpfungspunkte fehlen zwischen Islam und der Mehrheitsgesellschaft.
Es gibt Gymnasien im Ruhrgebiet, an denen die Schülerinnen und Schüler während des Religionsunterrichts in den Pausenraum geschickt werden – „OR“ wird dies genannt, „ohne Religion“. Das ist absurd, denn muslimische Kinder haben oft sogar ein engeres Verhältnis zur Religion als christliche. Inzwischen ist es beinahe Konsens, dass wir einen deutschsprachigen islamischen Religionsunterricht brauchen – und zwar einen bekenntnisorientierten Unterricht. Dass es diesen noch nicht gibt, liegt eben auch an der Organisationsstruktur des Islam, der sich nicht als Kirche versteht. In Nordrhein-Westfalen haben nur die höchstens mittelbar zum Islam gehörenden Aleviten eine öffentliche-rechtliche Stellung und können Religionsunterricht anbieten. Nein, für ein besseres Verhältnis zwischen Islam und Deutschland ist der Laizismus wohl kaum die richtige Antwort. Damit würde die Ausgrenzung eher manifestiert.
Die Sozialdemokratie hat einen langen Weg zurückgelegt, bis sie ein positives Verhältnis zu den Kirchen entwickelte. Gerade in den zentralen gesellschaftlichen Debatten der vergangenen Jahrzehnte – über Frieden und Abrüstung, über soziale Gerechtigkeit und den Einsatz gegen Armut, über den Ausstieg aus der Atomenergie und die Bewahrung der Schöpfung – standen die Kirchen (und in ihnen viele engagierte Christinnen und Christen) mit der SPD in einem konstruktiven Dialog und waren häufig Bündnispartner. Deshalb sollte nicht auf die leichte Schulter genommen werden, wenn der manchmal recht „religiös“ daherkommende radikale Laizismus gegen diese Arbeit opponiert. Eine Gruppe in der SPD, die sich allein deshalb gegründet hat, um an einem einzigen Punkt das Grundsatzprogramm der SPD und das Grundgesetz zu ändern, muss sich zumindest fragen lassen, ob das als Existenzberechtigung ausreicht. Lässt sich der eigene Anspruch nach Religions- und Weltanschauungsfreiheit daran messen?
Weitaus mehr Leute würden sich in der SPD vermutlich für eine Abschaffung des Bildungsföderalismus engagieren. Trotzdem gibt es keinen „AK Zentralismus“. Und ob nun bei der Frage „Föderalismus versus Zentralismus“ oder beim Thema Laizismus: Es ist nicht erkennbar, dass es unseren französischen Nachbarn in wichtigen Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts besser geht als uns. Sie haben aber eine andere Tradition – so wie wir die unsere haben. «