Jeder Einkauf ist politisch
Einkaufen darf sich nicht im Privatvergnügen erschöpfen. Vielmehr müssen wir jeden Einkauf als eine politische Handlung verstehen. Als eine Abstimmung über bestimmte Herstellungsbedingungen, über die eine oder die andere Art, Landwirtschaft zu betreiben und mit Tieren umzugehen, über starke oder schwache Arbeitsrechte, und zwar hierzulande und in den Billiglohnländern des Südens. Jeder Einkauf hat Folgen: Er bestimmt, welche Waren auf welche Weise produziert werden und wem das schadet oder nützt. Nur weil die Konsumenten in den Jahren vor der Eierkennzeichnung Eier von Hühnern aus Käfigen kauften, gab es Hühner in Käfigen. Nur weil sie billiges Fleisch kaufen, gibt es Schweine, die ihr Leben wie Ölsardinen in der Büchse verbringen. Weil sie Atomstrom kaufen, fährt der Castor durchs Wendland. Weil sie beim T-Shirt-Kauf nicht nach Sozialstandards fragen, werden Näherinnen wie Sklavinnen gehalten. Im Umkehrschluss: Man kann mit dem Einkaufswagen abstimmen und aufgrund der veränderten Nachfrage das Angebot verändern – sofern sich eine kritische Masse von Konsumenten findet.
Als ich diese Thesen im Sommer 2006 für mein Buch Die Einkaufsrevolution entwickelte, war ich mir nicht sicher, ob diese Bewegung kritischer Konsumenten wirklich entstehen würde. Doch dann entdeckte die Münchner Polizei bei einem Großhändler hundert Tonnen verdorbenen Fleisches – den Rest einer riesigen Menge von Gammelfleisch, die verkauft und längst verzehrt worden war. Es war der zweite Lebensmittel-Skandal innerhalb eines Jahres, und er zeigte Wirkung. Die Vorstellung, uraltes, grün angelaufenes Fleisch verspeist zu haben, ließ selbst die hartgesottensten Allesesser erschrecken. Irgendetwas läuft falsch beim Einkaufen, das bemerkten plötzlich viele. Kaufen wir vielleicht die falschen Waren?
Prada ist zu dumm und H&M zu billig
Der politische Konsum wurde zum Talkshow-Thema, Die Einkaufsrevolution gelangte in die Liste der Wirtschaftsbestseller des manager magazin, und ich bekam Dutzende von Einladungen von Journalisten, Hausfrauenverbänden, kirchlichen Gruppen, Eine-Welt-Vereinen, Künstlern, Politikern, Anthroposophen und Umweltschützern. Was mich verblüffte: Überall, wo ich hinkam, um für politischen Konsum zu werben, waren die politischen Konsumenten schon da. Es kam mir vor, als hätten viele auf ein Buch gewartet, das alles zusammenträgt, was sie empfanden: das Unbehagen am Konsum, den Zorn über den Schaden, den die Waren anrichten, und den Willen, das endlich zu ändern.
Inzwischen prägen trendige Webseiten wie Karmakonsum und Utopia, alternative Nachhaltigkeitsmessen wie der Berliner Heldenmarkt und der von Hollywood-Prominenten vorgelebte Lohas-Stil („Lifestyle of Health and Sustainability“) die Szene des nachhaltigen Konsums. Aufgrund ihrer Medienpräsenz scheint das Thema Konsumentenmacht auf hedonistisch-postmaterielle Milieus zugeschnitten zu sein. Selbstverständlich gibt es eine äußerst enge Verbindung zwischen der jungen, urbanen Lebensstil-Avantgarde und dem politischen Konsum.
Natürlich dient dieser Lebensstil nicht nur der Weltverbesserung, sondern auch der sozialen Distinktion. Wenn ich eine ökofaire Kuyichi-Jeans trage, stelle ich zur Schau, dass ich weiß, was viele nicht wissen: dass Konsum ästhetische und ökologische Fragen miteinander verbinden muss. Dass Prada zu dumm ist und H&M zu billig. Und ich zeige auch, dass es mir auf ein paar Euro mehr für Biofleisch und Organic Cotton nicht ankommt, weil ich das Repräsentationsbedürfnis der alten Eliten überwunden habe und kein großes Auto fahren muss.
Wo bleibt das klassische Milieu der SPD?
Das Heidelberger Forschungsinstitut Sinus Sociovision hat 2006 untersucht, in welchen Milieus die Biobranche die größten Wachstumschancen besitzt. Das sind zuallererst die „Postmateriellen“ – diejenigen also, die schon immer eine ökologische Landwirtschaft gefordert haben und bei denen politische Überzeugungen beim Konsum eine Rolle spielen; dann die wohlhabenden und standesbewussten „Etablierten“, die auch beim Essen höchste Ansprüche stellen; sodann die junge, unkonventionelle Nachwuchselite, „Moderne Performer“ genannt, denen es vor allem um Energie und Fitness geht; aber nicht zuletzt auch die Konservativen und die Angehörigen der bürgerliche Mitte, die zunehmend von Lebensmittelskandalen verunsichert sind. „Deutlich über die Hälfte“ der Postmateriellen kaufte im Jahr 2006 Bioprodukte, in der bürgerlichen Mitte und bei den Modernen Performern etwa jeder Dritte, haben die Forscher herausgefunden.
Nur: Wo bleibt das klassische sozialdemokratische Milieu? Vermutlich findet man viele von ihnen in einer Gruppe wieder, die in den Sinus-Studien früherer Jahre „Konsummaterialisten“ genannt und mit dem niederschmetternden Ausdruck „Shoppen gegen die Abstiegsangst“ gekennzeichnet wurde. Für diese Gruppe dürfte beim Einkaufen das Marken-Logo wichtiger sein als ein mögliches Ökosiegel, der unmittelbare Nutzen größer als der unsichtbare Verantwortungsmehrwert eines Produkts.
Für das Thema Konsumentenmacht sind sie nur schwer zu gewinnen. Sie, die sich als Verlierer in ihrer Gesellschaft fühlen, sind wenig motiviert, mit ihrem knappen Einkommen ausgerechnet beim Einkaufen durch die absichtliche Auswahl teurerer Produkte anderen woanders zu helfen. Vermutlich zweifeln auch viele am Nutzen des strategischen Konsums. Denn wer sich selbst als machtlos erfahren hat, glaubt nicht an individuellen Spielraum bei der Beeinflussung von gesellschaftlichen Prozessen.
Hoch die internationale Solidarität 2.0
Es wäre ungerecht, diesen Leuten einen Vorwurf zu machen, wenn sie nicht nachhaltig einkaufen. Doch festzuhalten bleibt, dass es nicht gelungen ist, das Thema Konsumentenmacht mit Fragen der Solidarität zu verbinden. Den Schlechtbezahlten, Ausgegrenzten hier eine Verbindung zu den noch schlechter Bezahlten und Ausgebeuteten am anderen Ende der globalen Lohnskala zu vermitteln. Ulrich Beck hat diese Idee im Jahr 2008 als Strategie der nationalen Gewerkschaften gegen ihre Entmachtung in der globalisierten Wirtschaft entwickelt: „Gerade das, was den Machtvorteil der Konzerne ausmacht – die Lohndifferenz, das Kostengefälle, das Sichrühmen mit gewerkschaftlicher Mitbestimmung hier und das Verbot der Gewerkschaften dort –, kann der kosmopolitische Gewerkschaftsblick als Widerspruch aufdecken und öffentlich anprangern.“ Doch gesellschaftliche Gestaltungskraft hat diese geforderte Solidarität über wirtschaftliche Verhältnisse und Ländergrenzen hinweg noch nicht. Mit diesem Ansatz aber könnte die Sozialdemokratie das Thema Konsumentenmacht mit einer eigenen Handschrift prägen.
Ein Beispiel: Das Hochlohnland Deutschland produziert so günstig Fleisch, dass es sich rechnet, Hühnerteile nach Afrika zu exportieren, auch ohne Ausfuhrerstattungen. Entwicklungsorganisationen kritisieren diese Praxis seit Jahrzehnten, weil die billigen Importe die fragilen lokalen Fleischwirtschaften zerstören und für Gesundheitsgefahren sorgen, wenn das europäische Tiefkühlfleisch halb aufgetaut verkauft wird. Höhere Tierschutzstandards und gesetzliche Mindestlöhne für die mies bezahlten und unter erbärmlichen Bedingungen schuftenden Schlachtarbeiter in Deutschland würden nicht nur dem Vieh und den Arbeitern in den Schlachthöfen hierzulande helfen, sondern auch den Geflügelhaltern in Kamerun oder Benin.
Doch das eigentliche politische Versäumnis liegt noch tiefer: Konsumentenmacht bedeutet schließlich nichts anderes, als dass sich die Bürger – ausgerechnet als Konsumenten – an die Lösung politischer Aufgaben machen, die die Politik in Zeiten der Globalisierung zu lösen versäumt und nicht einmal mehr auf der Tagesordnung behalten hat. Deutschland hat die Mindeststandards der ILO, der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen, unterzeichnet. Ebenso bekennt sich die Bundesrepublik zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Und unser Land ist der Welthandelsorganisation beigetreten und hat sich mit einer Freihandelsregelung einverstanden erklärt, die Verstöße gegen dieses Handelsrecht ausdrücklich unter Strafe stellt – nicht hingegen brutale und andauernde Verletzungen von Arbeitsrechten.
Es ist gut, wenn Konsumenten die Ausbeutung von Natur und Tieren und Arbeitern nicht länger hinnehmen, dagegen protestieren und erfindungsreich Gegenmodelle für nachhaltigen Konsum entwickeln. Aber das entbindet die politischen Parteien nicht von ihrer Aufgabe, Verantwortung für die Menschen in einer globalisierten Wirtschaft zu übernehmen. «