Das Kälbchen Lilly soll sterben
Cleopatra hatte Grund zur Vorsicht. Als ihr der Architekt Pyradonis einen vergifteten Kuchen schenkte, ließ sie erst ihren Vorkoster probieren, der nach dem Genuss der Torte grüngesichtig darniederlag. Damals in Ägypten halfen Asterix und Miraculix mit einem Zaubertrank. Doch die uralte Angst vor dem Gift im Essen ist geblieben.
Diese Angst hat aus einem paar Dutzend kranker deutscher Rinder ein großes Medienspektakel gemacht. Viele Schlagzeilen, überlastete Hotlines, zurückgetretene Minister und Angst vor Gummibärchen: Eine "Hystorie" ist ausgebrochen. So nennt die amerikanische Medizinhistorikerin Elaine Showalter moderne hysterische Epidemien, die sich über die Massenmedien ausbreiten: in Amerika etwa die Angst vor der Chronischen Müdigkeit, das Golfkriegssyndrom und die Befürchtung, von Außerirdischen entführt zu werden. Bei uns die Angst vor BSE.
Ausgerechnet Fleisch, Urquelle der Kraft, muss fortan möglicherweise als tödlich gelten. Und dass es so lange dauert, bis man merkt, ob man Prionen im Hirn hat, macht die Sache noch unheimlicher. Früher wartete der hungrige Kaiser ein paar Stunden, ob sein Vorkoster Bauchschmerzen bekam, heute lebt der Verbraucher zehn bis zwölf Jahre mit der Ungewissheit, BSE-verseuchtes Fleisch gegessen zu haben. Die Ernährung muss heute als Gefahr für die Gesundheit gelten. So ist das in der Risikogesellschaft.
Gefährlicher sind Autos. Und Hühner
Hielte man sich an Wahrscheinlichkeiten, gäbe es keinen Grund zur Hysterie: An Tuberkulose sind 1999 knapp 500 Patienten in Deutschland gestorben, an Virushepatitis über 1000. An der vermutlich durch BSE ausgelösten Variante von Creuzfeldt-Jakob aber ist noch niemand in Deutschland erkrankt. Autofahren bleibt gefährlicher als Rindfleischessen. Doch da man leichtsinnigerweise glaubt, mit dem Lenkrad auch das Risiko in der Hand zu haben, konzentriert man seine Angst gerne auf Gefahren, die andere verursachen. In diesem Fall die Bauern.
Die Angst vor der Vergiftung ist nicht auszuhalten, wenn man nicht weiß, vor wem man sich fürchten soll. So hatte man, bis die angekündigten Rindertötungen das Massenmitleid der tierlieben Verbraucher erregten und so die Täter zu Opfern wurden, in den Bauern die Schuldigen gefunden. Vor allem in fiktiven "Agrarfabriken", hieß es, schütteten skrupellose Landwirte säckeweise gemahlene tote Schafe in die Futterkrippen ihrer Kühe. Mit der Wirklichkeit deckt sich das nur ganz am Rande.
BSE, das zur großen Krise der industrialisierten Landwirtschaft geführt hat, ist gemeinerweise in der Rinderzucht aufgetreten, einem der am wenigsten industrialisierten Bereiche der deutschen Landwirtschaft. Agrarfabriken gibt es tatsächlich: in der Geflügelhaltung, wo 0,3 Prozent der Hähnchenhalter 80 Prozent der Hähnchen und drei Prozent der Hühnerhalter 80 Prozent der Eier verkaufen, wo die Ställe tatsächlich wie Fabriken aussehen und wo kaum Tiernahrung vom eigenen Feld verfüttert wird. Biobauern sagen, daß sie trotz der BSE-Gefahr konventionell hergestelltes Rindfleisch für gesünder halten als Hähnchen. Die angstgeschüttelten Verbraucher aber wissen das nicht und kaufen aus BSE-Angst ausgerechnet Geflügel. Ausgerechnet die größten Agrarfabriken, jene der Hühner- und Eierindustrie, profitieren so von der BSE-Agrarkrise.
Der Landwirt und die teure Kuh
Die Schweinehaltung ist gerade auf dem Wege, eine industrielle Struktur anzunehmen, während die Rinderhaltung davon noch am weitesten entfernt ist. Die Milchbauern besitzen üblicherweise selbst noch Grünland, lassen die Tiere auf die Weide und verfüttern selbst angebautes Getreide. Schon allein um die Milchleistung in die Höhe zu treiben, kümmern sich viele Bauern rührend um ihre wertvollen Tiere. Anders gesagt: BSE hat mit Agrarfabrik so viel zu tun wie Aids mit Hochhaus.
Warum traf das Kanzlerwort - Abkehr von den Agrarfabriken - als Reaktion auf BSE dennoch den Nerv? Vermutlich, weil Angst im Spiel ist, die lästige Details verwischt. BSE-Forscher und Tierärzte sprechen noch immer von Vermutungen und hüten sich auszuschließen, dass BSE nicht vielleicht doch anders übertragen werden könnte. Aber der Hauptübertragungsweg durch "erzwungenen Kannibalismus", also über die Fütterung von Tiermehl an Kühe, scheint festzustehen.
So konnten die Medien Schuldige festmachen, und der Topos vom bösen Abzockerbauern machte die Runde durch Leitartikel und Leserbriefe. Da haben die Bauern den armen Kälbchen also aus reiner Profitgier vergiftetes Futter gegeben, Milchaustauscher mit Mehl aus toten Schafen! Wo doch jedes Kind weiß, was die Ministerin Künast ausdrücklich in ihre Regierungserklärung aufnahm: Kleine Kälbchen trinken Milch, am liebsten direkt aus dem warmen Euter ihrer Mutter. Und Kinder? Aptamil, Milumil und Hipp-Folgemilch sind Milchaustauscher. Wäre in Kindernahrung Tiermehl entdeckt worden, hätte wohl kaum jemand die Eltern beschimpft, sie hätten vielmehr sofort als Opfer gegolten.
Bauernbeschimpfen zur Entlastung
Die Bauern aber mussten sich erst beschimpfen lassen, obwohl sie nichts Schlimmeres tun als andere Verbraucher auch: Sie haben sich auf eine arbeitsteilige, technisierte und in Teilen industrialisierte, wenn man mag: fortschrittliche Lebens- und Wirtschaftsweise eingelassen, der ein bestimmter Kontrollverlust immanent ist. Die Bauern müssen dem Futtermittelhersteller vertrauen - so wie die Eltern dem Kindernahrungshersteller.
Die Wut auf die Bauern ist deshalb die Folge einer Projektion: Urbane Durchschnittsbürger werfen ihnen genau jene Entfremdung vor, an der sie selbst leiden. Der Lebensstil der Städter entspricht nicht im Geringsten dem, was die von den Bauern erwarten. Sie beschuldigen die Landwirte, sich vom bäuerlichen Naturzustand zu entfernen (als hätten es die Kühe in den alten Anbindeställen besser gehabt als in den modernen Boxenlaufställen), aber ihr eigenes technisiertes Leben stellen sie nicht in Frage: Bauernbeschimpfen als Gewissensentlastung.
Vermutlich weil Ernährung etwas Ursprüngliches ist, soll die Landwirtschaft eine Ausnahme machen. Irgendwie soll es auf dem Land so aussehen wie in den Kinderbüchern vom Bauernhof: ein Gänschen, ein Entchen, ein Kälbchen auf der Weide, und ein dicker Bauer mit der Forke in der Hand. Vielleicht erhält dieses tröstliche Bild den Glauben an unsere Herkunft aus der Natur, an unsere Urbindung an den Naturkreislauf. Einen solchen Hof haben die ernährungsbewussten großstädtischen Käufer vor Augen, wenn sie im Bioladen einkaufen. Das Land wird so zum imaginären Ort, an den man sich flüchten kann, wenn es einem in der Stadt zu laut, zu technisch und zu ungesund wird. Da sollen keine Agrarfabriken stören. Hier zeigt sich die ganze Ambivalenz der Technik als Fortschrittsmythos und dem Unbehagen daran.
Die gleiche Sehnsucht nach der Landidylle leitete auch die Proteste gegen die Massentötungen der BSE-verdächtigen und an Maul-und-Klauen-Seuche erkrankten Rinder: Wer bisher bedenkenlos Kalbfleisch und Schweineschnitzel in sich hineingestopft hat, dem treten jetzt die Tränen in die Augen, weil das Kälbchen Lilly sterben soll. Die bedrückenden Bilder von den Scheiterhaufen mit den getöteten englischen Schafen und Rindern haben viele Konsumenten die Seite wechseln lassen: von Bauerngegnern zu Kritikern einer mitleidlosen EU-Agrarpolitik, die Massenschlachtungen verordnet, um einen kurzfristigen Exportverlust zu verhindern.
Doch diese Art von Tierliebe war den Bauern immer suspekt, auch wenn sie ihnen jetzt zu neuer Sympathie verhilft. Sie kam von den Bauernhofbesuchern, die nicht verstehen wollten, warum man mit Tieren Geld verdienen kann, wo die kleinen Ferkel doch so süß sind, und die den Bauern die richtige Tierhaltung erklären wollten.
So ist das in der Mediengesellschaft
Aber seit der Rinderwahnsinn und die Maul-und-Klauen-Seuche die wirtschaftliche Existenz vieler Bauern bedrohen, protestieren sie Seite an Seite mit den tierlieben Verbrauchern gegen die Keulung ihrer Herden. Schnell verlagert sich die mediale Schuldzuweisung: Aus den Vergiftungstätern werden Opfer. So ist das in der Mediengesellschaft.
Große Gefühle beherrschen also die Diskussion um BSE - die Angst vor dem Gesundheitsrisiko, das Unbehagen an der Technisierung des Landes, das Mitgefühl mit der geschundenen Kreatur - bisweilen irrational und hysterisch, aber mit positiver Wirkung. Denn auch wenn die Verbindung von BSE und Agrarfabrik nicht stimmt, auch wenn die Angst vor dem vergifteten Fleisch zunächst den industrialisierten Hühnerhaltern Profite brachte, auch wenn das Mitleid mit den Schlachttieren schnell verpuffen wird - die große emotionale Betroffenheit der Verbraucher scheint doch endlich eine Agrarwende in Gang gebracht zu haben.
Die aber darf sich nicht in der Bekämpfung von BSE und MKS erschöpfen, sie muss sich auch um die von allen Medien verlassenen Schweine und Hühner in Ställen ohne Tageslicht und Einstreu kümmern und - etwa nach Schweizer Vorbild - die ökonomische Situation der Bauern so gestalten, dass sie mit ökologischer Landwirtschaft und wirklich artgerechter Tierhaltung überleben können. Dabei muss klar werden, dass bessere Lebensmittel von halbwegs naturnah gehaltenen Tieren teurer sind, dass es eine Einwilligung in Käfighaltung und Billigfutter bedeutet, ein Hühnerei für 20 Pfennig zu kaufen. Und dass man bei dessen Verzehr am besten einen Vorkoster konsultiert.