Kein "Mehr" mehr: Warum wir heute eine Politik des "Besser" brauchen



Mehr ist ein gutes Paradigma, tief verwurzelt, vielleicht sogar angeboren. Mehr ist eines der ersten Wörter, die Babys lernen. Ein Wort, eines, das sie ein Leben lang als grundlegende Forderung begleitet. Mehr ist unser individuelles und gesellschaftliches Fundament. Darin vereinen sich Fortschrittsmythos, protestantische Arbeitsethik und Wirtschaftswunderglück.

Der Imperativ, mehr zu wollen, ist gesetzlich verankert: Paragraf 1 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes von 1967 legt ein angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum als eines von vier Zielen der deutschen Wirtschaftspolitik fest. Wirtschaftswachstum – mehr Wirtschaft – aber bedeutet mehr Verbrauch endlicher Ressourcen, und dass das nicht unbegrenzt funktionieren kann, ist lange bekannt: Der banale Gedanke der Endlichkeit des Wachstums stand im Bericht des Club of Rome von 1972 und später in den Parteiprogrammen der Grünen. Er erschreckte die Gesellschaft immerhin so sehr, dass sich – als eine Art wirkungslose Unterströmung zum großen Mehr – ein diffuses Gefühl für die Notwendigkeit eines Richtungswechsels verbreitete.

Die Jahre der Wirtschaftswachstumskrise

Während der vergangenen fünf Jahre hat sich eine neue Krise als Dauerzustand etabliert, eine Wirtschaftswachstumskrise, die aber alles andere bewirkt hat als eine grundsätzliche Kritik am Wachstumsimperativ. Ganz im Gegenteil. Man hätte die Krise, während der das Wachstum ja nicht einmal völlig zum Erliegen gekommen ist, sondern sich nur verlangsamt hat, als ideelle Krise empfinden können: als Krise einer Gesellschaft, die – materiell gesättigt und von sich gelangweilt – nicht so recht weiß, wonach sie streben soll. Man hätte sie als ökologische Krise empfinden können: als Krise einer Gesellschaft, die ihre ökologischen Standards durch die ökonomischen Zwänge der globalisierten Wirtschaft gefährdet sieht. Auch Grund für die Diagnose der Krise als Demokratiekrise hätte es gegeben: der wachsende Einfluss der Lobbys auf die Gesetzgebung, die ungeklärten Fragen der globalen Politikgestaltung angesichts einer globalisierten Wirtschaft.

Woran aber gelitten wurde, das war allein die Wirtschaft und ihr ausbleibendes Wachstum. „Die Wirtschaft“ wurde unser aller Patient, von seiner Genesung hängt seitdem, so empfindet man es am Stammtisch und im Bundeskanzleramt, alles weitere ab. In der Regierungserklärung zur Agenda 2010 vom März 2003 beschwor Gerhard Schröder das große Ziel seiner politischen Reformen gleich drei Mal in den ersten acht Sätzen: Wirtschaftswachstum. Es geht um „mehr Wachstum“ und, daran scheinbar naturgesetzmäßig gekoppelt, „mehr Beschäftigung“. Danach erst folgt, was ein Gemeinwesen sonst noch so ausmacht, was seine Existenz aber in ökonomischen Kategorien rechtfertigen muss – vom öffentlich-rechtlichen Kulturradio bis zur Oper.

Alberne „Analysten“ präsentieren Aktienkurse

Irgendwann in den vergangenen fünf Jahren, vielleicht schon während des Booms der New Economy, ist ein bedingungsloser Primat der Ökonomie entstanden, dem bereitwillig auch die folgen, die davon sicherlich nicht profitieren. „Die Wirtschaft“ ist Thema für alle geworden, und nichts illustriert das besser als das alberne Rauf- und Runterbeten von Tagesschwankungen der Aktienkurse, ergänzt durch simplistische Kurzkommentare so genannter Analysten. Gelegentlich wird in den Debatten ein Mangel anVisionen beklagt, die ausschließliche Orientierung am ökonomistischen Mehr aber nicht in Frage gestellt.

Der Bremer Politikprofessor Paul Nolte hat im Kursbuch Die große Entsolidarisierung vom September die „Sprachlosigkeit der Reformen“ beklagt. In der Vergangenheit sei es immer die Sprache gewesen, die die Richtung von Reformen geprägt habe. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts etwa hätten Intellektuelle und Politiker in Denkschriften Freiheit, Gemeingeist und Bürgersinn beschworen, und mit diesen Begriffen sei dann Politik gemacht worden. Hast Du denn keine klugen Berater, fragt Paul Nolte den Kanzler, die Dir den tieferen Sinn Deiner Reformen erklären, Dir wohlklingende Formeln aufschreiben, die Du an das Volk weitertragen kannst?

Offensichtlich nicht, denn es gibt eben keinen tieferen Sinn als das Mehr. Es ist das alte Leid der Postmoderne: Alles schon gesagt, keine neuen Ideen, Visionen, Entwürfe, keine großen Reformerzählungen, nur Verteilungskämpfe um den immer kleiner werdenden Reichtum und das krampfhafte Beharren auf der heilbringenden Kraft des Wirtschaftswachstums.

Viel zu ernst für schlechte Witze

Fast möchte man dem Kanzler zurufen, man habe ein Wort gefunden, mit dem er seine Reformen auf einen positiven Nenner bringen und dem Volk verständlich machen könnte: „Tellerwäscher“ soll er sagen, wenn er Hartz IV erklären will. Jeder soll Tellerwäscher sein, damit er Millionär werden kann, mehr Mehr geht nicht. Wie könnte man wohlklingender zusammenfassen, was der Kanzler in seiner Regierungserklärung zur Agenda 2010 so schmerzverheißend formulierte: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“ Der Tellerwäscher-Imperativ lenkt den Blick ab vom Elend der Langzeitarbeitslosigkeit, hin zu den unbeschränkten Möglichkeiten des freien Marktes, einer innovativen Wirtschaft. Es ist die perfekte Synthese von Eigenverantwortung (SPD) beziehungsweise Selbstverantwortung (CDU) und dem Alles-Retter-Zauberwort vom Wachstum. Es ist eine Verheißung wie ein Lottogewinn, nur besser, weil es Erfolg aus eigener Kraft verspricht: Just do it!

Die Sache ist viel zu ernst für schlechte Witze. Statt das Mehr vom Linearen ins Exponentiell-Phantastische zu steigern, wäre es einen Versuch wert, den Befreiungsschlag vom schier quantitativen Mehr zu wagen, es durch ein Besser zu ersetzen. Die Konzepte dafür liegen bereit, in den Schubladen der Volkswirte, der Index of Sustainable Economic Welfare etwa, der Index für nachhaltige Wirtschaft, der ebenso wenig objektiv ist wie das klassische Bruttosozialprodukt, aber genauso geeignet, einen Wachstumskult darauf zu gründen.

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