Jenseits der Neuen Mitte

Herdentrieb und Bürgerstau

Kalenderwechsel - Paradigmenwechsel. Von neuen Dingen kündet alle Welt. Na klar, das kommt auch in Berlin gut an. Das alte Jahr verlässt die neue Metropole und schon ist das nächste "am Kommen", wie der rheinische Exilant sich auszudrücken pflegt.

Ich sitze nun zu mehreren Malen in der Woche auf meinem Stamm-Kneipen-Sitz am Pariser Platz und lasse die Novitäten an mir vorüberziehen. Darunter befinden sich vermehrt VertreterInnen des Volkes, denen die ganze Nähe zu demselben aufs Gemüt zu schlagen beginnt. Der Souverän tritt dem allgemeinen Vernehmen nach in zu großen Gruppen auf. Und verursacht demzufolge an jeder unpassenden Stelle einen Stau.

Rezzo pflügt fast jeden Tag seinen Körper autolos durch die Touristenscharen und wer sich das Vergnügen gönnt, ihm heimlich zu folgen, kann schöne Bonmots mit nach hause tragen: "Guck mal, hastenichgesehn, datt war doch der von den Grünen, der...Nee, der Fischer is kleiner."


Zum Jahresabschied hat Rezzo S. (52) noch mal schnell die "Rente mit 60" madig gemacht, was mir ein starkes Argument dafür scheint, dass auch er keine Lust hat, so schnell zum alten Eisen geworfen zu werden. Da gehört ihm mein ganzes, junges Herz (37) denn was die Dauerexperten uns da seit Jahren von der sicheren Versorgung im Alter in die Ohren träufeln, ist schlankweg und allermindestens hochdubios.

Gregor (51) ist laut Handbuch des Bundestages erst einmal Rinderzüchter von Beruf. Das lässt ihn das Herdengetümmel rund um den Reichstag besser ertragen. Aber auch ihm wird es ab und an zu eng, und dann will er raus aus der Menge. Zu diesem Behufe hat er uns zum Kalenderwechsel eine schöne, neue Idee von der "Mitte-Links-Option" beschert. Er wünscht sich eine angstfreie Betrachtung der PDS als (hoppla) "kulturellen Vorgang" und will (2x hoppla) jede Form von "sektenhaftem Verhalten" überwinden. Als Viehwirt könnte Gregor wissen, dass manche Tierarten große Probleme mit dem Überwinden von Hindernissen haben. Das Sprungvermögen der australischen Fauna könnte da sinnvolle Anregung für fruchtbare Kreuzungsversuche abgeben. Und kräftig gesprungen muss werden: Was ich so auf meinem Kneipensitz von seinen Forderungen an staatliche Segnungen für die aller(ost)orts Entrechteten höre, macht mich nicht froh. Um das löhnen zu können sollte Gregor ehrlichweise die "Rente mit 90" propagieren.

Konservative meiden in diesen Wochen jegliche Zusammenballung von mehr als einem Bürger oder einer Bürgerin. Trinken nur noch stilles Wasser und lassen jeden beliebigen Tischnachbarn einen Kontrollblick auf den Kassenbon werfen. Wozu soll das führen? Zu Ole von
Beust (45). Der flotte Junge von der Waterkant teilte der staunenden Republik jüngst sein Jahreseinkommen mit und ließ uns damit in allerpersönlichste Bereiche blicken, die wir sonst schamvoll gemieden hätten. Hatte angeblich immer ein distanziertes Verhältnis zu Gottvater Helmut, stand nicht auf dessen Telefonliste und hätte diesen ohne Hilfestellung wahrscheinlich im CDU-Präsidium glatt übersehen. Ole lebt dort, wo auch Volker (58) lebt. Und wo Volker auch leben bleiben wird. Denn entweder wusste Volker was (unwahrscheinlich) oder er wußte nix (wahrscheinlich). Beides gereicht einem ehemaligen Generalsekretär nun so gar nicht zur Ehre.

Putzig in diesen Tagen kommen die Liberalen daher. Reden immer noch im Bundestag dazwischen und merken es nicht. Sei getrost, du kleine Herde, es fällt kaum noch auf. Wenn da nicht der Guido (38) wäre, der pfiffige Nachlassverwalter. Der sitzt inmitten der blaugelben Resteschar und versüßt uns den Paradigmen- und Kalenderwechsel mit der flotten Beschreibung des Bundeskanzlers als "Mischung aus Lenin und Lafontaine". Um treibt ihn die Erbschaftssteuer. "Neidgesellschaft, Klassenkampf" tönt es da aus der Reregulierungsbrust und schon sind wir ganz flugs wieder bei meiner ungenannten Lieblingsabgeordneten aus der gleichen Splittergruppe, die immer so schöne Zwischenrufe im Bundestag produziert. Mein Tipp zum neuen Jahr: "Guido, setz dich da weg!"

Zum guten Ende sei ein Blick auf die Mehrheitsfraktion gestattet. Ihre Mitglieder suchen seit geraumer Zeit die Menschenmenge, wo auch immer sie sich zeigt. In Gruppen paradieren sie um das Brandenburger Tor, und stolz prangen Parteisticker auf Jacken und Joppen. Ein helle Freude. Endlich vor dem Stau sein und nicht mehr mittendrin. Gerhard (56) will nur zehn Jahre Kanzler sein. Und dann in Rente. Mit 66. Neuer Streit mit Riester (57)? Hoffen wir es nicht. Es ist gerade mal so schön, und darauf trinke ich und winke einem jeden stau(n)enden Bürger zu.

zurück zur Ausgabe