Jetzt kommt Europas spannendste Phase
Die Zeichen stehen nicht gut für die Europäische Union. Zum ersten Mal besteht die Gefahr, dass sie zerbricht – sicherlich ohne einen großen Knall, sondern eher wie ein Ballon, dem langsam die Luft entweicht. Selbst Martin Schulz, als langjähriger Europapolitiker zum Optimismus verurteilt, warnt vor einem Scheitern der EU.
Dass es in der Union Streit und Ärger gibt, ist nichts Neues, sondern hat die Gemeinschaft von Beginn an begleitet. Man darf nicht vergessen: Die Europäische Union wurde nicht auf Liebe und Vertrauen gegründet, sondern auf Hass und Misstrauen. Im Jahr 1950, fünf Jahre nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg, begannen die Verhandlungen, die 1952 in der Etablierung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl mündeten. Die Wunden des Krieges, der deutschen Aggression, der fabrikmäßigen Vernichtung von Millionen Juden und Angehöriger von Minderheiten – dies alles war noch sehr präsent in den Köpfen und Herzen der Akteure. Für Sympathie war hingegen nur wenig Platz.
Wurde der Frieden zu selbstverständlich?
Dennoch taten sich Deutschland und Frankreich zusammen, um eine solche Katastrophe künftig zu verhindern, und einige andere Länder (Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg) schlossen sich an. Nicht die Freundschaft führte zur Europäischen Gemeinschaft, sondern die Europäische Gemeinschaft führte zur Freundschaft. Das oberste Ziel dieses Zusammenschlusses war es, den Frieden untereinander zu sichern. Dabei handelte es sich um ein Narrativ, das auch jene verstanden und akzeptierten, die sich mit den Einzelheiten der europäischen Integration nicht befassen wollten. Dieses Narrativ verlor aber in dem Maße an Strahlkraft, in dem Friedenssicherung zur selbstverständlichen Realität wurde. Diese Errungenschaft hat zur Folge, dass sich viele fragen, wofür es der EU überhaupt bedarf, denn ihre Aufgabe ist ja bereits erfüllt. Die Europäische Union, so heißt es oft, benötige ein „neues Narrativ“, das der Integration Geschichte und Sinn verleiht. Dem ehemaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors wird der Satz zugeschrieben: „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt.“ Soll heißen: Richtlinien und Durchführungsverordnungen zur Arbeitssicherheit und zur Luftreinhaltung bewegen die Menschen nicht – auch wenn sie durchaus wichtig sind.
Wer Brüssel ablehnt, bekommt Peking
Vergessen wir daher einen Augenblick lang alle politischen Strukturen und Institutionen und überlegen uns stattdessen, wie wir in diesem Jahrhundert leben wollen. Natürlich wollen wir in Frieden leben, aber auch in einem Sozialsystem, das es uns ermöglicht, ein menschenwürdiges Dasein zu führen und das uns in Lebenskrisen wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit absichert. Wir wollen eine Umwelt, die uns nicht krankmacht, sondern gesund hält. Und wir wollen in einer toleranten Demokratie leben, die den Rahmen bietet, unseren persönlichen Lebensentwurf zu verfolgen. Diese Ziele im 21. Jahrhundert zu verwirklichen, ist die zentrale Aufgabe von Politik.
Betrachtet man die Größen- und Stärkenverhältnisse auf dem Globus, wird schnell klar: Kein europäischer Staat verfügt über genügend Einfluss, um diese Ziele allein zu erreichen. Wir benötigen die EU also nicht, weil sie in der Vergangenheit ihren Zweck erfüllt hat, sondern weil wir in diesem Jahrhundert nur zusammen vorankommen können – oder gar nicht. Wer einwendet, nicht von „Brüssel“ regiert werden zu wollen, muss sich im Klaren sein, dass dann „Peking“ oder eine andere Regierung außerhalb Europas den Takt angibt.
Die Zeiten, in denen Europa die Welt regiert und die Marschrichtung vorgibt, sind vorbei. Aber wir Europäer können im Chor der Globalisierung eine wichtige Stimme sein. Das ist es, was die EU der jungen Generation zu bieten hat: die Chance, über die Rahmenbedingungen des eigenen Lebens mitzuentscheiden. Funktionieren wird dies nur, wenn die Mitgliedsstaaten und ihre Bürger zum gemeinsamen Handeln bereit sind. Allerdings mangelt es an dem notwendigen Willen. Und dies ist nicht das einzige Problem. Hinzu kommt, dass die Verbindlichkeit von Absprachen zunehmend infrage gestellt wird, wie die Flüchtlingsfrage zeigt. Einige Staaten erklären offen, dass sie nicht bereit sind, die gemeinsamen Beschlüsse in die Tat umzusetzen. Andere sind klug genug, den Mund zu halten und es einfach nicht zu tun. Verlässlichkeit und Solidarität bleiben dabei auf der Strecke, und mit ihnen die Handlungsfähigkeit und das Ansehen der Europäischen Union.
Nur wenn es den EU-Mitgliedsländern gelingt, die Solidarität untereinander wiederherzustellen, und wenn man sich aufeinander verlassen kann, werden die Bürger erkennen können, dass Kompromisse sich lohnen, weil man schlussendlich gemeinsam mehr bewirkt als im Alleingang.
Mit dem Begriff der Solidarität und dem berühmten Motto der Drei Musketiere „Einer für alle, alle für einen“ kann jeder etwas anfangen. Solidarität ist keine bedingungslose Hingabe. Sie ist auf ein gemeinsames Ziel gerichtet, das wir gemeinsam anstreben und welches wir nur gemeinsam erreichen können. Alle setzen sich mit ganzen Kräften dafür ein. Dass die Potenziale unterschiedlich groß sind, spielt dabei keine Rolle. Und wenn dem Einzelnen die Kräfte verlassen, stehen die anderen für ihn ein.
In diesem Sinne ist die Solidarität nicht und zugleich vollständig konditioniert. Nicht konditioniert bedeutet: Alle engagieren sich mit ganzer Kraft für das Ziel und damit auch für die anderen. Eine halbe oder „flexible Solidarität“, wie die Visegrád-Staaten sie aktuell propagieren, um ihre Verweigerungshaltung zu kaschieren, ist ein Widerspruch in sich. Vollständig konditioniert heißt: Alle sind verpflichtet, sich mit allen Mitteln einzubringen. Solidarität ist also keine Beliebigkeit und auch keine Gönnerhaftigkeit, sondern ein Vertrag; sie ist reziprok und setzt gemeinsame Ziele voraus. In diesem Sinne ist Solidarität nicht altruistisch, sondern durchaus egoistisch, da sie – entgegen der landläufigen Auffassung – mit der Erwartung einer Gegenleistung verbunden ist, selbst wenn diese nicht im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem eigenen Beitrag steht.
Dann schrumpfen wir eben
In seinen Erläuterungen zur Diskursethik hat Jürgen Habermas die Solidarität als das Andere der Gerechtigkeit bezeichnet. Sie beziehe sich auf „das Wohl der in einer intersubjektiv geteilten Lebensform verschwisterten Genossen“. Diese in einer Lebensform verschwisterten Genossen haben sich miteinander verpflichtet, individuell alle Kräfte aufzubieten, um die selbstbestimmte und wertebasierte kollektive Lebensform zu sichern.
Solidarität ist also nicht ohne Inhalt vorstellbar, sie zielt auf einen Zweck, den es zu erreichen gilt. Aber es ist offensichtlich, dass wir uns darüber in Europa nicht einig sind. In den 27 verbleibenden Mitgliedsstaaten gibt es unterschiedliche Vorstellungen und Konzepte, welche Ziele man mit welchen Mitteln anstreben sollte – und eine unterschiedlich ausgeprägte Bereitschaft, für diese Ziele auch gemeinsam und unter Inkaufnahme von Kompromissen einzustehen. Darüber hinaus benötigen wir einen intensiven und grenzüberschreitenden Diskurs der Gesellschaften, an dessen Ende die -Europäische Union anders aufgestellt sein wird als bisher. Wir sind es gewohnt, dass die EU immer größer wird. Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, um zu akzeptieren, dass die EU auch schrumpfen kann. Wir müssen uns eingestehen, dass wir nicht alle dieselben Ziele verfolgen und dieselben Instrumente für richtig erachten, so dass es eine Europäische Union der konzentrischen Kreise geben wird, in der einige Staaten zusätzliche Politikbereiche vergemeinschaften, während andere Länder eher zurückhaltend sind. Statt diesen Zustand durch Formelkompromisse zu übertünchen, sollten wir ihn akzeptieren und uns darauf einstellen.
Auf die Verlässlichkeit kommt es an
Der Kern dieser erneuerten Europäischen Union wird eine Solidar-Union sein, in der die Staaten und ihre Bürger ihr Schicksal verbindlich und energisch in die Hände nehmen. Wie viele Mitglieder einer solchen Solidar-Union angehören werden, ist nachrangig. Wirklich wichtig ist, dass die Staaten, die sich zusammenschließen, verlässlich sind, und dass sie Gemeinsames miteinander erreichen wollen. Über die Zugehörigkeit zum inneren Kreis entscheidet folglich nicht die Größe, die wirtschaftliche Stärke oder die geografische Lage, sondern einzig und allein die Bereitschaft, in diesem Integrationsverbund durch gemeinsames Handeln Erfolge zu erzielen.
„Flexible Solidarität“ ist ein Abwehrbegriff gegen den tatsächlich bestehenden Anspruch auf Solidarität, aber eine abgestufte Solidarität wird es im Europa der Zukunft geben. Jeder Kreis legt seine Regeln fest und definiert dabei den Grad der Verbindlichkeit.
Dieses Modell ist nicht zu verwechseln mit einem „Europa à la carte“, wo der eine mal hier und der andere mal dort mitmacht. Europäische Beschlüsse sind immer ein Kompromiss. Die bisherige Stärke der EU liegt gerade darin, dass sie sich nicht auf ein Thema beschränkt, sondern verschiedene Bereiche miteinander verbindet und so zu einem Interessenausgleich gelangen kann. So können etwa Strukturmittel für den Ausbau des Flughafens in einem Land verbunden werden mit der Subvention des Milchmarkts in einem anderen Land, mit einer Lockerung der Klimaschutzvorschriften für große Automobile, von der ein drittes Land profitiert, und der Ansiedlung einer neuen EU-Behörde in einem vierten Mitgliedsstaat. Nur wenn viele bargaining chips auf dem Tisch liegen, ist es möglich, im positiven Sinne über Bande zu spielen und die Nachteile eines Beschlusses durch die Vorteile eines anderen auszugleichen.
Die wertebasierte Solidarität als Kern-begriff des neuen europäischen Aufbruchs bietet zudem die Möglichkeit, die Menschen wieder emotional mitzunehmen und ihnen ein ganzheitliches Konzept für die Verwirklichung dieser Idee zu bieten. Mit Einzelmaßnahmen wird dies nicht gelingen, so schön sie auch sein mögen (angefangen mit 200 zusätzlichen Grenzpolizisten an der bulgarisch-türkischen Grenze bis hin zur Abschaffung der Roaming-Gebühren). Dies ist umso wichtiger, als wir in „postfaktischen Zeiten“ leben, wie man neuerdings sagt: Viele Menschen scheren sich nicht um die Realität, sondern lassen sich von ihren „Gefühlen“ leiten.
Weil Misserfolg hässlich macht
In Bezug auf die Weiterentwicklung der EU ist vieles denkbar, eines allerdings nicht: dass wir so weitermachen wie bisher und dabei zusehen, wie der EU langsam die Luft ausgeht. Misserfolg macht hässlich, kostet das Ansehen der globalen Partner und die Akzeptanz der Bürger.
Für unsere eigene Zukunftsgestaltung ist es von immenser Bedeutung, dass wir in Europa gemeinsam entscheiden, wie die Europäische Union im 21. Jahrhundert aussehen soll: Welche Ziele streben wir an? Zu welchem Kreis wollen wir gehören? Für die Europäische Union beginnt jetzt vielleicht die spannendste Phase ihrer Geschichte – Europas Bürgerinnen und Bürger müssen dabei die Akteure sein, nicht die Zuschauer.