Jugend forscht

Auch nach der neuesten Shell-Spaß-Studie haben junge Leute Anspruch auf Politik

Die Jugendforschung hat mal wieder Hochkonjunktur. Die alternde Gesellschaft und ihre politischen Repräsentanten suchen in einer desillusionierten, aber dennoch zuversichtlichen Generation ihre eigenen, schon zu lange vergebenen Chancen. Ein Mineralölkonzern treibt Imagepflege, die Forscher und Medien lieben die Inszenierung, Politikwissenschaftler beschwören zum xten Mal die Verdrossenheit, und alle leben gut davon. Ratlose Jugendpolitiker und -politikerinnen (nicht immer jung) hängen ihnen an den Lippen.

"Die Jugend ist faul, gewalttätig und gottlos" - das stand bereits vor 3000 Jahren auf babylonischen Schrifttafeln und ist bis heute das falsche, aber gängige Klischee der Erwachsenenwelt, die meist die Erneuerungspotenziale jugendlicher Lebenssichten und -stile ignorierte, nicht verstand, wenn nicht bekämpfte. Dass es "die Jugend" nicht gibt, dass alle sozialen Disparitäten besonders Kinder und Jugendliche treffen, dass Jugendliche sich an ungerechten, in vermeintlicher Sicherheit und Bequemlichkeit erstarrten Strukturen abarbeiten müssen und so auch, neben Resignation, immer wieder (und nicht nur 1968) sozialen Fortschritt erfinden, das sind historische Wiederholungen. Es wäre wohl viel verlangt, dass die Alten erkennen, dass die Zustände der Jugend ihre eigenen Spiegelbilder sind. "Alles fließt und flösse es nicht, stände es schlecht um die, die nicht an goldenen Tischen sitzen. Das Neue kommt aus dem Alten und ist deshalb doch neu..." schrieb Bertolt Brecht.

Everything′s gonna be allright! Die neueste Shell-Jugendstudie erklärt: Der Nachwuchs, das sind "optimistische Realisten". Nicht mehr rebellierende Bedenkenträger, die sich nach heiler Wohngemeinschaftsküchenwelt sehnen, sondern mobile, erfolgs- und spaßhungrige Einzelkämpfer, die endlich erkannt haben, dass Geld die Welt und damit auch alles, was Spaß macht, regiert. Da die Politik, speziell Parteien und Politiker inkompetent, irrelevant und nicht zeitgemäß sind, lässt man sie besser links liegen und geht gleich in die Wirtschaft, die der Politik schließlich ihre Profitsachzwänge aufdrückt. Und zwar global. Nicht Sozialromantik und Ideologien, die Börsenkurse bestimmen über Sein oder Nichtsein.

Take it easy! Die Underdogs, mit den Wurzeln in Kasachstan und Anatolien, die langzeitarbeitslosen jungen Deutschen aus dem Dortmunder Norden oder Frankfurt an der Oder werden das auch noch begreifen oder auf der Strecke bleiben. Jeder ist seines Glückes Schmied. Wir werden ein Volk von mobilfunkenden, chattenden Kleinunternehmern und Aktienbesitzern, die gleichzeitig Arbeitgeber, Arbeitnehmer, betroffene Anlieger und Verbraucher sind. Jedenfalls die, die nicht lernbehindert, depressiv, chronisch krank, zu altmodisch, drogen- oder sexsüchtig, überschuldet oder überhaupt ökonomisch beratungs- und leistungsresistent sind. Dumm gelaufen, wenn man aus materiellen Gründen oder weil man "null Bock" hat, nicht über das neueste IT-Equipment verfügt und nicht ständig im Web surft. Bei manchen Interpreten der neuen, schönen Welt beschleicht einen der Verdacht, es handle sich um eine Spielart der Erziehungsdiktatur zum "neuen, glücklichen Menschen", so eine Art sozialliberaler Variante von Scientology. Nur ein Mythos?


Statt immer wieder neue Jugendmythen zu stricken, muss Politik realisieren, dass ihre Legitimität, ihre Organisationsformen und ihre Kommunikationsfähigkeit nicht gefährdet sind, weil Jugendliche heute oberflächlicher, unpolitischer oder selbstsüchtiger als ihre Vorfahren sind. Sicher wäre bei der politischen Grundbildung didaktisch und überhaupt viel zu verbessern. Aber der Schlüssel für den Tunnel der Distanz ist wie eh und je die glaubwürdige Übereinstimmung von Reden und Handeln. Gesucht werden nicht Jugendmoden nachäffende Politikdarsteller (oder ist Möllemann schon der Gegenbeweis?) und erst Recht keine verfassungsbrüchigen Altkanzler einer Bimbesrepublik. Wünschen wir uns nicht alle authentische Volksvertreter mit Ecken und Kanten, die sagen was ist und nicht so tun, als wären sie omnipotent?

Wer behauptet, Jugend sei "Zukunft", sie könne diese nur bestehen, wenn sie bestmöglich ausgebildet werde, wenn lebenslanges Lernen, eigen- und sozialverantwortliches Handeln gefördert werden, der muss den jahrzehntelangen Reformstau der Besitzstandswahrer- und Verbändedemokratie auflösen wollen. Der muss daran arbeiten, dass Selbstbestimmung, soziale Sicherheit und ökologische Nachhaltigkeit für immer mehr Menschen global funktionieren kann. Die Fragen sind seit Jahren auch bei der "forschenden" Jugend bekannt und bilden im Grunde den Ergebnishintergrund auch der neuesten Jugendstudien:


- Welche Lebensbedingungen und Ressourcen, welche solidarischen Lösungen stellt die älterwerdende Gesellschaft angesichts der drängensten Probleme den jungen und nachfolgenden Generationen durch zumutbare, vernünftige Selbstregulierung zur Verfügung?


- Wie kann Arbeit und Einkommen gerecht auf alle verteilt werden, wenn Produktivkraftentwicklung immer mehr menschliche Produktion überflüssig macht?


- Wer soll den immer älter Werdenden ihre Alterssicherung und Gesundheit bezahlen?


- Wie erreichen wir für immer besser qualifizierte, selbstbewusste Frauen gleiche Berufs-, Karriere- und Einkommenschancen?


- Wie machen wir Beruf und wieder zunehmenden Kinder-/Familienwunsch für Frauen und Männer durch flexible Arbeitszeiten, Betreuungsformen und Leistungsausgleich besser vereinbar?


- Wie schaffen wir Chancengleichheit für Jugendliche mit Migrationshintergrund und junge Aussiedler?


- Wie richten wir ein durch Stellungskriege und öffentliches Dienstrecht erstarrtes Bildungssystem auf die zeitgemäße Vermittlung gefragter Schlüsselqualifikationen, auf die Bildung ganzheitlicher Persönlichkeiten bei Erhaltung der Chancengleichheit sowie auf die wirkliche Förderung und Forderung Benachteiligter und Begabter aus?


- Wie forschen, entwickeln und produzieren wir im Sinne einer globalen, ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit in einer Welt, in der Überbevölkerung zur Zeitbombe wird und alle das Recht auf Entwicklung und vergleichbaren Lebensstandard haben?

Nein, es geht nicht um den Spagat zwischen Innovation und sozialer Gerechtigkeit, von dem so viele Sozialdemokraten nach den letzten Wahlschlappen immer reden, als sei das ein Gegensatzpaar, als seien die jeweiligen Protagonisten politische Gegner. Das ist ein fataler Denk- und Kommunikationsfehler. Innovation schafft soziale Gerechtigkeit. Das war und ist die Gründungsüberzeugung der Sozialdemokratie.

Bei allen notwendigen Organisationsreformen, die eine Partei wieder mehr zu den differenzierten Lebensrealitäten, Kulturen und Kommunikationsformen gerade junger Menschen führt: Entscheidend sind doch, auch für junge Leute, die Diskurse über Antworten, langfristige Orientierungen und pragmatische Realpolitik, die schrittweise Lösungen (be-)greifbarer werden lassen und auch Spaß machen dürfen. Wir sollten uns nicht zu sehr von den Hohepriestern der "Programme-liest-keiner-wir-sind-Regierung-und-nicht-Selbstfindungsgruppe"-Agentur beeindrucken lassen. Fangen wir also an (bzw. machen wir weiter), "die Jugend" soll teilhaben, und hoffen wir, dass es nicht wieder zuviel freie Abende kostet.

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