Kann die Politik von der Kirche lernen?
Folgerichtig verlagern Bürger und Bürgerinnen ihr Interesse an Inhalten in Richtung eines Interesses an der Glaubwürdigkeit der zur Wahl stehenden Personen. Denn beim Wahlkampf geht es weniger um die Verteilung von Macht als darum, Vertrauen zu erringen. Und da geht es sehr menschlich zu: Politiker werden genauso beurteilt wie die eigenen Kollegen, Nachbarinnen und Freunde. Darin liegt durchaus keine naive Verkürzung politischen Verständnisses, sondern ein durchaus rationales Urteil. Denn auch in den Institutionen der Demokratie wird Verantwortung nicht an Apparate delegiert, sondern Menschen übertragen. Ob diese Partei oder die andere in Zukunft die sozialen oder wirtschaftlichen Probleme lösen wird, kann niemand vorhersehen. Aber Wählerinnen und Wähler können sagen, wem sie es am meisten zutrauen.
Wer versucht, sich dem Phänomen des Vertrauens in der Politik oder in die Politik oder in die Politiker zu nähern, kommt nicht umhin, den personalen Charakter dieser Kategorie anzuerkennen. Es gibt ähnliche Kategorien, die zu den Bedingungen der Möglichkeit politischen Handelns zählen: Neben dem Vertrauen, dessen Passstück die Glaubwürdigkeit ist, gehören dazu das Gewissen, die Moral und letztlich die Menschenwürde. Sie gehen dem Politischen voraus und sind Bedingungen für den Erfolg sowie die Nachhaltigkeit von Politik.
Dieser Umstand macht neugierig darauf, wie die Institution mit personalen Bedingungen umgeht, aus deren Wortfeld die Begriffe Vertrauen und Glaubwürdigkeit entstammen. Die Kirche beziehungsweise die Kirchen können Vertrauen als Säkularisat einer ursprünglich theologischen Kategorie betrachten. Vertrauen – lateinisch „fiducia“ – ist ursprünglich bezogen auf ein Vertrauen zu Gott. Der Glaube als Vertrauen ist nicht das Fürwahrhalten bestimmter Glaubenssätze, sondern ein auf Hoffnung gegründetes Bewusstsein davon, dass die Zukunft nicht unsicher und bedrohlich ist, sondern im Sinne der bereits erfahrenen Zuwendung lebenswert sein wird. Vertrauen ist insofern eine Transzendenzleistung. Die Zukunft als den Ort von Optionen und Möglichkeiten zu betrachten, ist eine „riskante Vorleistung“, wie Niklas Luhmann formulierte, die Menschen erbringen, um die Gegenwart einerseits deuten und andererseits entsprechend gestalten zu können.
Endlich wieder Ekstase und Überschwang
Im Neuen Testament spiegelt sich der Doppelcharakter des Glaubens: Die ersten Gemeinden als Vorläufer der Institution Kirche bildeten sich durch die Missionspredigten. Die Leute „kommen zum Glauben“ – was zweierlei bedeutet: einerseits, dass sie die Geschichte von Jesus Christus für wahr halten und andererseits, dass sie die noch ausstehende Heilserwartung teilen, also darauf vertrauen, dass die Zukunft die Erfüllung der in der Missionspredigt versprochenen Optionen bringen wird. Auf dieser Basis bildet sich eine Vertrauensgemeinschaft. Das Vertrauen in vertikaler Richtung überträgt sich auf das Vertrauen in horizontaler Richtung. Das ursprüngliche Gottvertrauen wird um eine ekklesiologische, also institutionsbegründende Qualität erweitert.
Zweitausend Jahre Kirchengeschichte sollen hier nicht nachgezeichnet werden. Aber die Frage, wie eine Institution sich über diese lange Zeit offensichtlich Vertrauen erhalten konnte, ist angesichts der zyklischen Sorge um das Vertrauen in die Politik durchaus berechtigt. Zugleich ist zu konzedieren, dass die Kirchen in der Moderne ebenso unter dem Vertrauensverlust gegenüber ihrer Institution leiden, mithin mit der Politik im gleichen Boot sitzen.
Der Göttinger Parteienforscher Franz Walter hat dies provokant analysiert: „Die Kirchen sind kein leuchtender Ort der gemeinschaftlichen Zuversicht, gar der Ekstase und des Überschwangs, der kultischen Vitalität und seelischen Kraftquellen mehr. In gewisser Weise ähneln die früheren Volkskirchen den vormaligen Volksparteien. Diese wie jene sind sich des eigenen Projekts und Zukunftsversprechens nicht mehr sicher, wirken daher im Alltag mutlos, verzagt, ängstlich, sprachlos und ermattet.“
Walters Analyse legt nahe, dass Kirchen und Parteien von einem Ideal abgerückt sind, das im Hinblick auf die Kirche der Situation des Urchristentums, im Hinblick auf die Politik der Gründungssituation einer neuen politischen Bewegung entspricht. Ekstase, Überschwang und das Bewusstsein, leuchtender Ort gemeinsamer Zuversicht zu sein, sind Kennzeichen von Anfängen, Aufbrüchen, ob revolutionären oder friedlichen – oder beiden. Wenn hier das Problem läge, dann wäre die Gründung ganz neuer Kirchen und politischer Parteien angesagt. Dann stünden die Institutionen sich einfach nur selbst im Weg und müssten glaubwürdigen, zweifelsfreien Neuanfängen Platz machen.
Was, wenn wir nicht mehr vertrauen können?
Was aber, wenn die Basis für diesen Überschwang fehlt? Wenn die Bürgerinnen und Bürger die Voraussetzung für Begeisterung und die Fähigkeit zum Vertrauen nicht mehr mitbringen? Wenn das basale Interesse für politisches und kirchliches Engagement erodiert ist? Was, wenn die Vertrauensfähigkeit einer Verunsicherung und einer Individualisierung politischer Problemlagen gewichen ist, wir mithin einem Verlust der Fähigkeit, überhaupt zu vertrauen, gegenüberstehen?
Mit diesen Fragen soll nicht die Schuld für den Vertrauensverlust auf diejenigen abgeschoben werden, die mit den Folgen politischen Handelns konfrontiert sind. Es soll auch nicht darum gehen, sich bequem an die Klagemauer des Kulturpessimismus zu lehnen und den Verfall der Werte zu bedauern. Aber deutlich ist, dass Politik die vorpolitischen Bedingungen ihres Handelns berücksichtigen muss. Es genügt nicht, sich um die Durchsetzung politischen Willens zu kümmern, sondern es muss zugleich dafür gesorgt werden, dass die vorpolitischen Voraussetzungen fortlaufend erneuert und gepflegt werden. Nirgendwo wird das augenfälliger und handgreiflicher als im Wahlkampf – der Gelegenheit, realen Menschen und deren Politikverständnis zu begegnen, ihre Vertrauensfähigkeit oder -unfähigkeit zu erleben.
Was also hilft?
Wie lässt sich das Problem der veränderten Bedingungen für Vertrauensfähigkeit skizzieren? Persönliche Lebenssituationen und berufliche Wege sind ungewisser, eingelebte Sinnkonstruktionen brüchig geworden und ebenso die vertrauten Ideale von Leistung und Erfolg. Das macht misstrauisch gegen eine Politik und ihre Repräsentanten, die genau jene Ideale als zukunftsweisend empfehlen. Die geistige Orientierungskrise in Wahlkampfzeiten wegzudefinieren, verspricht genauso wenig Erfolg wie die Übertünchung der geistlichen Orientierungskrise durch missionarische Hauruck-Aktionen.
Was also hilft? Die Evangelische Kirche in Deutschland hat auf die Herausforderungen der Zukunft mit einem umfassenden Reformpapier reagiert, das sich detailliert der Umstrukturierung zuwendet. Aus der römisch-katholischen Kirche waren neidvolle Stimmen zu hören – die Anpassung der kirchlichen Strukturen an die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ist nicht allein ein evangelisches Problem. Mit der Auflage eines flächendeckenden Reformprozesses hat die Kirche eher von der Politik gelernt.
Der Reformanstoß war notwendig und begrüßenswert, hat jedoch etliche innerkirchliche Kritiker auf den Plan gerufen. Das ist im Vergleich mit der Politik nichts Besonderes. Aber die kritischen Argumente, die sich auf kirchliches Handeln richten, sind auch für politisches Handeln und das Vertrauen in seine Repräsentanten bedenkenswert.
Der erste Punkt: Das Reformpapier setzt auf Zentralisierung. Dagegen bemängeln die Kritiker, dass das Potenzial alltäglicher Kontaktmöglichkeiten vor Ort unterschätzt wird. Aber genau dieses schafft Gefühle von Beheimatung und Zugehörigkeit, ohne die Vertrauen nicht möglich ist. Wahlkreisbüros sind sicher nicht mit Kirchtürmen zu vergleichen, aber den Wert der Nähe zu reflektieren und nicht die Distanz zu den Bürgerinnen und Bürgern oder Christinnen und Christen zu kultivieren, ist eine der wichtigen Grundlagen für Vertrauensbildung.
Der zweite Punkt: Reformen müssen mit einem Veränderungspathos vorgetragen werden, sonst erreichen sie weder kirchliche noch politische Mehrheiten. Der Reformprozess der rot-grünen Bundesregierung griff aus auf die Zukunft: „Agenda 2010“; der Reformprozess der Evangelischen Kirche greift aus auf einen hohen gesellschaftlichen Wert: „Kirche der Freiheit“. Bei allem Pathos, so wiederum die Kritiker des Reformpapiers, bleibt das Bewährte etwas, das gewürdigt werden muss. Am Bewährten und Vertrauten hängen Lebensleistungen von Menschen, die nicht bereit sind, diese zu annullieren zugunsten eines unsicheren Zukunftsvorhabens.
Vertrauen braucht Vertrautes
An den Veränderungen, die den Menschen in den östlichen Bundesländern in den vergangenen zwanzig Jahren zugemutet wurden, ist gut zu beobachten, dass Vertrauen und Vertrautes in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Dass nach etwa 15 Jahren ununterbrochener Veränderung der persönlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen eine „Ostalgiewelle“ über das Land schwappte, die bis heute mit einem signifikant höheren Misstrauen in die politischen Institutionen und die Politiker einhergeht, verwundert nicht wirklich. Vertrauen, gerade in die Wirksamkeit von Veränderungsprozessen, bedarf der Anerkennung des Vertrauten. Wo diese ausbleibt, wird sie als Missachtung der Lebensleistung betrachtet und in Misstrauen gewendet.
Der dritte Punkt ist der sensibelste. Er betrifft das agierende Personal und die Glaubwürdigkeit der Predigt. Während die Reformer in der EKD – zu Recht – professionalisierte Personalentwicklung empfehlen, zweifeln die kritischen Stimmen daran, ob das Grundproblem einer geistlichen Orientierungslosigkeit in den Griff zu bekommen ist, indem man das Human Resource Management „optimiert“. Vielmehr wird empfohlen, Verständlichkeit, Substanz und Engagement in Predigten zu steigern, einer zeit- und kontextlosen Dogmenverkündigung keinen Raum zu geben.
Paulus widerstand – und blieb authentisch
Über den Zustand der politischen Rede in Deutschland wäre ein eigener Text zu schreiben. Er würde davon handeln, wie sich Politiker bei öffentlichen Auftritten hinter den Texten ihrer Ghostwriter sowie hinter gut gelernten Floskeln verbarrikadieren. Die Vielzahl der Auftritte, auch bei politikfremden, aber vermeintlich volksnahen Anlässen, lässt den Amtsinhabern gar nichts weiter übrig, als sich ein professionelles, aber die Authentizität ihrer Rede schmälerndes Konzept anzueignen.
Im Neuen Testament gibt es eine berühmte Rede, die der Missionar Paulus auf dem Marktplatz von Athen, dem Areopag, hält. Ein anspruchsvolles Publikum ist zwar geneigt, ihm zuzuhören, aber nicht zu glauben. Um die Menschen zu gewinnen, passt sich Paulus in beeindruckender Weise an die Sprach- und Denkgewohnheiten seiner skeptischen Zuhörerschaft an, zitiert griechische Dichter, nimmt die sonst für ihn typische Radikalität und Direktheit der Botschaft zurück. Diese Milieusensibilität hat Martin Luther prägnant in der Empfehlung zusammengefasst, „dem Volk aufs Maul zu schauen.“ Die Rede des Paulus nimmt jedoch eine entscheidende Wendung, als er von Auferstehung und Gericht spricht. Die für Paulus treibende Wahrheit ist für die Athener Zuhörerschaft eine Zumutung und Anlass zum Spott. In dieser Situation zeigt sich Paulus standhaft. Er beharrt auf den intellektuellen Zumutungen, die seine Botschaft enthält und bleibt darin authentisch.
Auf die Vertrauensfähigkeit kommt es an
Milieusensibilität und Authentizität der Person sind nicht nur Voraussetzungen der Predigt, sondern auch Grundbedingungen gelingender politischer Rede, die sich in jedem Fall positiv auf die Vertrauenswürdigkeit von Politikern und Politikerinnen auswirken.
Wenn ein Verhalten von Bürgerinnen und Bürgern als rational angenommen wird, das die Person stärker bewertet als die Inhalte, dann muss die Konsequenz daraus sein, auf die politische Rede und auf die Auswahl des politischen Personals große Sorgfalt anzuwenden. Vielleicht ist eine Art code of conduct für Politikerinnen und Politiker – der ja unausgesprochen längst existiert – geeignet, Transparenz herzustellen.
Der Vertrauenswürdigkeit der politischen Klasse entspricht die Vertrauensfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger. Politik kann die vorpolitischen Voraussetzungen ihres Gelingens nicht schaffen, wohl aber die politischen Rahmenbedingungen dafür herstellen, dass unter anderem die Kirchen Vertrauensfähigkeit von Bürgerinnen und Bürgern entzünden und entwickeln. Wenn Menschen die Zukunft als Raum eigener Handlungsoptionen annehmen, sind sie eher bereit, die „riskante Vorleistung“ Vertrauen zu erbringen. Auf diese Weise sind wechselseitige Lernprozesse zwischen Kirche und Politik möglich.