Kein Glück im Osten? Das muss nicht so sein

Vor 20 Jahren wurde in Schwante die Sozialdemokratie der DDR gegründet. Seither waren es mehrfach Siege in Ostdeutschland, die der SPD auf der Bundesebene die Mehrheit sicherten. Jetzt könnte die Partei ihre Mehrheitsfähigkeit hier endgültig einbüßen

Der Osten hat gewählt, und zwar gleich mehrfach. In diesem Jahr wurden die Landtage in Sachsen, Thüringen und Brandenburg neu bestimmt, ferner der Bundestag, das Europäische Parlament und die Kommunalvertretungen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen. Nach diesem Wahlmarathon hat sich die politische Landkarte in Ostdeutschland erheblich verändert.


Die gute Nachricht zuerst: Abgesehen von der Landtagswahl in Sachsen konnten die Rechtsextremen keine Erfolge feiern, die DVU sitzt endlich nicht mehr im Potsdamer Landtag. Weder bei den Landtagswahlen noch bei der Bundestagswahl kamen NPD oder DVU auch nur in die Nähe der Fünf-Prozent-Hürde. Dennoch gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Noch immer haben die Rechtsextremen ein erhebliches Wählerpotenzial. Beispielsweise stimmten trotz erheblicher Fortschritte bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus, bei Prävention, Repression sowie bürgerschaftlichem Engagement, immer noch 50.000 Brandenburger für DVU und NPD.


Schlechte Nachrichten gab es dagegen für die SPD, die vor allem auch bei den Bundestagswahlen miserabel abgeschnitten hat. Außer in Brandenburg liegt sie in allen Ländern auf Platz drei hinter CDU und Linkspartei. In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt hat die SPD ihre Stimmenanteile sogar fast halbiert, ist dort nur noch halb so stark wie die Linkspartei. Einzig in Berlin und Brandenburg konnten ostdeutsche Sozialdemokraten noch Direktmandate gewinnen – und zwar mickrige sieben an der Zahl (im Jahr 2005 waren es in allen neuen Ländern noch 40!). Bei den Zweitstimmen kam die SPD im Osten gerade noch in zwei Wahlkreisen auf den ersten Platz. Hingegen erlangte die Linkspartei erstmals auch außerhalb von Berlin Direktmandate – 16 sind es insgesamt geworden. In Brandenburg und Sachsen-Anhalt schloss die Linkspartei die Bundestagswahl sogar als Siegerin ab. Und was bisher überhaupt noch nicht beachtet wurde: CDU und SPD vereinen zusammen überall (mit Ausnahme von Sachsen) weniger als 50 Prozent der Stimmen auf sich, in Berlin sind es sogar nur noch 43 Prozent.

Die Unübersichtlichkeit wächst

Das Parteiensystem im Osten ist also unübersichtlicher geworden. Bis vor wenigen Jahren waren nur SPD, CDU und PDS in den Landtagen vertreten, FDP und Bündnis 90/Die Grünen konnten die Fünf-Prozent-Hürde bestenfalls bei Bundestagswahlen überwinden. Heute zeigt sich ein anderes Bild:

  • Auf Landesebene führen SPD und CDU in jeweils drei Ländern. Außer in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin liegt die Linkspartei auf dem zweiten Platz. In Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen nimmt die SPD nur den dritten Rang ein.
  • Die Grünen sind wieder in vier Landtagen vertreten, die FDP sogar in allen sechs.
  • Die sächsische CDU ist die einzige Partei im Osten, die ein Ergebnis von (gerade einmal) 40 Prozent erreicht. Ansonsten liegen die jeweils siegreichen Parteien bei Werten zwischen 30 und 35 Prozent.

Schaut man also genauer hin, unterscheidet sich das ostdeutsche erheblich vom westdeutschen Parteiensystem. Der wichtigste Unterschied: In Ostdeutschland haben drei Parteien realistische Chancen auf Wahlsiege. Damit versammeln die „Volksparteien“ im Osten aber auch nur einen vergleichsweise kleinen Teil des Volkes hinter sich. Darüber hinaus ist die Mitgliederdichte in Ostdeutschland signifikant geringer als in den alten Bundesländern – und das gilt für alle Parteien. Von der großen Mitgliederbasis der SED oder der Blockparteien ist mittlerweile auch nicht mehr viel übrig. Zum Vergleich: Die Linkspartei hat in ihrem stärksten ostdeutschen Landesverband Brandenburg 0,4 Mitglieder pro 100 Wähler. Sogar die SPD in Bayern kommt auf eine Zahl von 0,7! Im Osten sind Parteien also deutlich weniger gesellschaftlich verwurzelt als im Westen.


Was bedeuten die Wahlergebnisse für die Sozialdemokratie? Einerseits regiert die SPD in fünf der sechs neuen Länder; im Westen ist sie nur noch in zwei Ländern an der Macht. Das exekutive Kraftzentrum der Sozialdemokratie liegt also im Osten, was den meisten (westdeutschen) Genossen nicht immer klar zu sein scheint. Andererseits läuft die SPD Gefahr, zwischen CDU und Linkspartei zerrieben zu werden. In den Augen der Wähler war die SPD in Ostdeutschland immer die Partei der Mitte. Das war ein Segen und hat vor gerade einmal sieben Jahren zu den phänomenalen 40 Prozentpunkten bei der Bundestagswahl beigetragen. Im Jahr 2009 wurde diese Mittelposition jedoch zum Fluch. Die SPD geriet zwischen die Mühlsteine aus SPD und CDU und erhielt schlappe 18 Prozent.

Die breite Mitte der Gesellschaft schrumpft

Im auslaufenden Jahrzehnt hat sich die ostdeutsche Gesellschaft verhältnismäßig schnell ausdifferenziert. Oberschicht und obere Mitte sind erheblich gewachsen, Unterschicht und die untere Mitte haben sich verfestigt. Im Ergebnis ist die breite Mitte der Gesellschaft geschrumpft. Diese Entwicklungen haben dazu beigetragen, dass es im Osten wieder eine soziale Basis für Wahlerfolge der FDP (und auch der Grünen) gibt. Auf der anderen Seite hat sich auch die soziale Basis der Linkspartei weiter gefestigt. Und die PDS/Linkspartei ist in den vergangenen Jahren Schritt für Schritt an die Mitte herangerobbt, während die Botschaften der SPD diffus blieben. Der „verstopfte“ Aufstieg aus der Unterschicht war für Sozialdemokraten weitgehend kein Thema, spezifisch ostdeutscher Probleme nahm sie sich kaum an. Und den im Leben erfolgreichen Wählern aus der Mittelschicht sandte die SPD widersprüchliche Signale, indem sie mal links und mal rechts blinkte.


Dabei gibt es für die SPD immer noch genügend Platz. Vier Punkte scheinen mir derzeit besonders wichtig zu sein: Erstens diskutiert Deutschland (zum Glück) über Integrationspolitik. Doch in Ost und West sind das zwei Paar Schuhe. Im Westen geht es um 20 bis 25 Prozent der Kinder mit Einwandererbiografie, die über Bildung Aufstiegschancen erhalten müssen. Im Osten reden wir über 25 Prozent (in manchen Regionen sind es 50 Prozent und mehr) aller Kinder, die aus Hartz IV-Haushalten kommen und die dringend Aufstiegschancen benötigen, damit die Armut nicht vererbt wird. Integration ist eines der wichtigsten Politikfelder in Ostdeutschland. Hier lohnt es sich, an den alten sozialdemokratischen Leitspruch „Meinen Kindern soll es einmal besser gehen als mir“ anzuknüpfen. Es geht um Schüler-Bafög, um Netzwerke für Gesunde Kinder, um bessere Kitas, um Sprachförderung und um die Integration von Förderschülern in Regelschulen. Es muss eine Kernaufgabe der SPD sein, die blockierten Aufstiegschancen für Menschen aus dem unteren Drittel der Gesellschaft freizuräumen. Von allein passiert das nicht. Angesichts des sich rapide verschärfenden Fachkräftemangels ist diese Strategie auch für die ökonomische Entwicklung der neuen Länder unabdingbar. Ansonsten drohen nicht nur wirtschaftliche Schwierigkeiten, sondern auch entkoppelte Gesellschaftsschichten.

Warum Wahlkreisabsprachen sein müssen

Mit einem „Links-Rutsch“ hat das überhaupt nichts zu tun. Die Wahlen im Osten werden immer noch in der Mitte gewonnen, und in Sachen Populismus wird die SPD mit der Linkspartei nie mithalten können. Der SPD muss es gelingen, sozialen Aufstieg und wirtschaftlichen Erfolg glaubhaft zusammenzuführen. Es geht nicht darum, Probleme mit Geld zuzuschütten, sondern vielmehr darum, Menschen zu ermutigen. Dass dies funktionieren kann, lässt sich in Brandenburg besichtigen. Bei den Landtagswahlen hatte die SPD die höchsten Kompetenzwerte aller Parteien nicht nur bei Bildung und sozialer Gerechtigkeit, sondern auch bei Arbeitsplätzen und Wirtschaft.


Zweitens braucht die SPD Partner. Noch immer ist sie die Partei der Mitte und kann nach rechts und links integrieren. Zweifellos ist die CDU in den kommenden Jahren der zentrale Gegner der SPD, zumal Bündnisse mit Linkspartei und Grünen im Osten keinen Schrecken verbreiten. Doch die SPD muss in der Lage sein, solche Bündnisse auch zu führen. Dazu gehört, über Absprachen in bestimmten Wahlkreisen nachzudenken, schließlich können Wahlkreise im ostdeutschen Parteiensystem mit nur 26 Prozent gewonnen werden (wie in Berlin-Mitte). Um Überhangmandate zu verhindern, kommt die Partei um Bündnisse in dem einen oder anderen Wahlkreis nicht herum. Mit dem Führungsanspruch der SPD bei Kooperationen mit der Linkspartei verbindet sich dann eine „Erziehungsaufgabe“: Wer mit der Sozialdemokratie Bündnisse eingehen will, muss dies mit einem realistischen Politikangebot tun, ohne freilich die eigene Identität aufzugeben.

Regierungsmanagement ist nicht genug

Drittens muss die SPD wieder eine sozialdemokratische Geschichte erzählen. Der große Fehler der sächsischen SPD war, dass sie über das „gute Regieren“ (was ihr zweifellos gelungen ist) vergessen hat, ihrer Regierungsbeteiligung einen sozialdemokratischen „Sinn“ zu geben. Doch wenn die Leute nicht merken, was der Vorteil von Sozialdemokraten in der Regierung ist, wird die SPD schnell entbehrlich. Gutes Management in der Exekutive mag für die FDP genügen – SPD-Anhängern reicht das nicht. Eine solche sozialdemokratische Geschichte entwickelt und sie dann auch vereint kommuniziert zu haben, ist wohl eines der Erfolgsgeheimnisse der Brandenburger SPD. Denn die Wahlen haben ebenfalls gezeigt, dass Personen für Wahlentscheidungen weniger relevant geworden sind. Der wichtigste Grund für den Wahlerfolg der Brandenburger SPD war ihre Kompetenz und erst an zweiter Stelle Matthias Platzeck.


Viertens wird die SPD künftig anders kommunizieren müssen als bisher, und zwar vor allem direkter – mit Zeitungen und mobilen Büros, in Vereinen und Verbänden. Die Mitgliederdichte (aller Parteien) im Osten ist dünn. Deshalb braucht die SPD auch bei der Kommunikation Verbündete. Es muss gelingen, einen Draht zu den zahlreichen Ehrenamtlichen im Land aufzubauen. Sie zu ermuntern, zu ermutigen, ihnen zuzuhören und bei der Lösung des einen oder anderen Problems zu unterstützen, wird helfen, mit der Gesellschaft ins Gespräch zu kommen. Die Brandenburger SPD hat dies im Wahlkampf sehr erfolgreich ausprobiert: durch offene Veranstaltungen mit Sportlern, Gewerkschaftern, Feuerwehrmännern und -frauen, mit Unternehmern, Lehrern, Erziehern, Künstlern und vielen anderen Menschen, die die Gesellschaft zusammenhalten.


Vor genau 20 Jahren wurde die Sozialdemokratie in der DDR wieder gegründet. Jener 7. Oktober 1989, als 40 mutige Männer und Frauen in einem Pfarrhaus in Schwante unter großen Gefahren der SED den Kampf ansagten, ist eines der wichtigsten Daten in der Geschichte der SPD, ähnlich denkwürdig wie die tapfere Rede von Otto Wels zum Ermächtigungsgesetz 1933 im Reichstag. Leider hat die SPD dieses Datum irgendwie vergessen, obwohl es allen Grund zu Stolz und Selbstbewusstsein gäbe. Nun sind historische Verdienste kein Grund für Wahlerfolge in der Zukunft. Hoffentlich aber hat die SPD nicht vergessen, dass die Partei im Osten besonderer Ansätze (und auch besonderer Anstrengungen) bedarf, damit sie wieder auf die Beine kommt.

Wer ist die „richtige“ Sozialdemokratie?

Die Gefahr der nächsten Jahre ist einfach umschrieben: Die SPD übersieht die drängenden Probleme im Osten, vergisst die Suche nach Partnern und einer verbindenden Idee, während die Linkspartei weiter in die Mitte rutscht, sich „normalisiert“ und zu einer zweiten sozialdemokratischen Partei entwickelt. Wer die vermeintlich „richtige“ Sozialdemokratie ist, werden die Wähler dann nicht mehr auseinanderhalten können.

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