Keine Zäsur, nirgends
Caus Peymann, der gerade nach Berlin gezogen ist, hat kürzlich etwas Unzeitgemäßes gesagt: Von Berlin, meint der Regisseur, sei immer Hegemonialstreben ausgegangen, und die Berliner Politik sei in den vergangenen 150 Jahren "keineswegs harmlos" gewesen. Wer wollte das bestreiten, nach zwei Diktaturen, die von Berlin aus Terror und Unterdrückung organisierten, und zwei Weltkriegen, die in dieser Stadt geplant wurden? Peymanns ubiquitäre Warnung erinnert auch an die frühen neunziger Jahre, als der Umzug geplant wurde. Das ist das Unzeitgemäße an seiner Äußerung. Über den Ist-Zustand der von Johannes Gross erfundenen "Berliner Republik" schweigt Peymann. Mittlerweile sind die Akten in den Berliner Ministerien einsortiert und die Computer angeschlossen. Peymann aber setzt dort an, wo Heiner Geißler, Friedbert Pflüger und andere Anfang der neunziger Jahre aufhörten, als sie den Regierungsumzug mit einer unmittelbar bevorstehenden deutsch-nationalen Wende gleichsetzten.
Nach der Entscheidung des Bundestages vom 20. Juni 1991, den Regierungssitz zu verlegen, beherrschte die berechtigte Furcht vor dem Kontinuitätsbruch fast alle politischen wie städtebaulichen Debatten, die auch nur im entferntesten mit der Planung und Gestaltung des neuen Regierungssitzes zu tun hatten. Die Verlegung von Parlament und Regierung provozierte einen fast zehnjährigen Prozess der Selbstvergewisserung über die Grundlagen der im Westen verankerten Bonner Demokratie - mit dem Ergebnis, dass geschichtspolitische Argumente gegen Berlin im Umzugssommer schließlich keine Rolle mehr spielten. Die Umzugsdebatte selbst war es also, die einer wie auch immer gearteten Umgründung der Bonner in eine "Berliner Republik" vorgebeugt hat. Danach ging man schnell zur Tagesordnung über. Der Umzug war nicht mehr als eine kurze Sitzungsunterbrechung.
Von den politischen Akteuren ist, seit sie in Berlin sind, auch nur selten etwas zu hören, was auf einen neuen politischen Diskurs hinweisen könnte. Über den früheren CDU-Generalsekretär Peter Hintze war in der Lokalpresse zu lesen, dass er sein geschnittenes und in Plastikbeutel abgepacktes Schwarzbrot im Kühlschrank lagert. Das hat er in Godesberg sicher nicht anders gemacht. Und Cem Özdemir, der grüne Bundestagsabgeordnete, gerade in Neukölln angekommen, wetterte in Interviews gegen Hundekot und Kaugummis auf den Straßen: eine kleine Spitze gegen die borniert-antibürgerlichen Attitüden des grünen Wählermilieus. Auch das wäre von Bonn aus durchaus möglich gewesen.
Keine Zäsur, nirgends? Im Bewusstsein der Bevölkerung ist die "Berliner Republik" bestenfalls ein Phantom: 60 Prozent der Deutschen können sich nicht einmal annähernd vorstellen, was es mit dem Begriff auf sich haben könnte. Nur etwa ein Drittel der Befragten hat von der "Berliner Republik" und den in sie projizierten Erwartungen und Befürchtungen schon einmal gehört. Ein Phantom ist auch der vielfach eingeforderte neue politische Stil geblieben: Vorherrschend ist der altbekannte. Arnulf Baring und Norbert Blüm zum Beispiel führen die Modernisierungsdebatte mit denselben Stichworten wie seit Jahren in Bonn. Baring mimt den besorgten Veränderungsrhetoriker, der Deutschland nach angelsächsischem Vorbild auf die globalisierte Weltwirtschaft vorbereiten will, und Blüm kann von seiner philosophisch untermauerten Wohlfahrtsstaatsrhetorik nicht lassen.
So ist es nicht verwunderlich, dass von der Definition "neuer Entscheidungsszenarien", wie sie der Soziologe Heinz Bude fordert, bisher nicht viel zu spüren war. Keineswegs ist das alte Lagedenken überwunden. Schuld hieran sind auch die Medien, die (gern dem alten Links-Rechts-Schema folgend) Politik als Duell zwischen Modernisierern und Traditionalisten darstellen. Erstmals in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte ist der Regierungssitz eine Medienstadt mit Redaktionen lokaler Zeitungen, die zu Hauptstadtblättern werden und Büros überregionaler Zeitungen, die Hauptstadtkompetenz zeigen wollen. Das bedeutet nicht zwangsläufig einen Qualitätsgewinn, gewiss aber eine größere Nervosität.
Jede Position jenseits der bekannten Forderungen nach ökonomischer Beschleunigung oder dem Festhalten am wohlfahrtsstaatlichen Optimismus der alten Bundesrepublik hat es schwer. Gerade diejenigen, die sich als Modernisierer gerieren, bestätigen oft das alte Schema. Weil sie in Bonn am liebsten nicht nur einige Ministerialbeamte zurückgelassen hätten, sondern auch das Modell des "rheinischen Kapitalismus". Reformpolitik erschöpft sich für sie in weiteren drastischen Deregulierungsschritten. Dabei hätten sie spätestens von der Unterschriftenkampagne der Union gegen den Doppelpass lernen können. Sie belegt die schlichte Tatsache, dass jede erfolgreiche Reform eine gesellschaftliche Mehrheit braucht. Darauf kommt es den Wirtschaftsliberalen (das haben sie mit vielen Grünen gemeinsam) aber nicht an. Für sie ist nur wichtig, unter die Tradition des westdeutschen Korporatismus einen Schlussstrich zu ziehen. Im Gegensatz zu jenen bürgerrechtlich argumentierenden Befürwortern des Regierungsumzugs, die den an die Spree verlagerten Bonner Politikern die Frischluft gesellschaftlicher Realitäten zumuten wollten. Es sind also unterschiedliche und zuweilen sich widersprechende Interessenlagen, mit denen ein "Neuanfang" in Berlin betrieben und gerechtfertigt wird.
Auch wenn die Brücken zwischen den politischen Lagern, punktuell zum Beispiel beim Thema Generationengerechtigkeit, breiter und besser begehbar sein mögen, wäre es unpolitisch, von der Berliner Republik als Republik ohne politische Lager zu sprechen. Zumal der wohl konsequenteste politische Rollentausch beider Volksparteien gerade beendet wurde: in der Lokalpolitik. Vier Jahre hat die Berliner SPD eine für sozialdemokratische Verhältnisse ungewöhnlich konsequente Sparpolitik durchgesetzt. Nach der Wahl wurde die bundesweit als vorbildlich gelobte SPD-Finanzsenatorin abgemeiert und die Genossen kehrten zum Projektdenken der siebziger Jahre zurück. Ob das die ersten Vorboten für einen lagergestützten neuen Traditionalismus sind, bei dem sich SPD und CDU auf ihre angestammten Rollen besinnen, lässt sich noch nicht abschätzen. Nur soviel: Der Einfluss des Ortswechsels von Bonn nach Berlin auf die politische Großwetterlage ist vielfach überschätzt worden. Der Regierungsumzug - mustergültig bewältigt als technokratisch-logistische Aufgabe - steht am Ende der Transformation der alten Bundesrepublik zu einem vereinigten, national saturierten, mit allen Konsequenzen souveränen Deutschland. "Berliner Republik" ist bisher nur eine Umschreibung für diesen Prozess. Eine nachgeholte Etikettierung.