Was in Stuttgart schief ging
Die Vorgeschichte von „Stuttgart 21“ ist lang. Eigentlich haben sich die Stuttgarter immer wieder mit der Talkessel-Lage ihrer Stadt beschäftigt. Wo könnte man zwischen Bopser, Wagenburg, Kriegs- und Hasenberg einen Durchgangsbahnhof bauen? Wie ließe sich die Verkehrsinfrastruktur für das industrielle Kraftzentrum, den mittleren Neckarraum, verbessern? Gottfried Wilhelm Leibniz wollte schon im 17. Jahrhundert Bad Cannstatt zur Metropole machen. Und Pläne für einen Durchgangsbahnhof gab es bereits im Jahr 1901; ein halbes Jahrhundert später entwickelten Architekten um Günther Behnisch ebensolche kühnen Zukunftsentwürfe.
Die Diskussion ist also wahrlich nicht neu. Diejenigen, die seit dem vergangenen Sommer stets behaupten, „Stuttgart 21“ sei ein unter Ausschluss der Öffentlichkeit geplantes Projekt, gegen das man auf die Straße gehen müsse, haben Unrecht: Seitdem der Verkehrswissenschaftler Gerhard Heimerl seine Pläne vorgelegt hat für die so genannte H-Trasse – also die Eisenbahn parallel zur Autobahn Stuttgart-Ulm-München zu führen –, war der Bahnhofsneubau ein in der Stuttgarter Öffentlichkeit breit diskutiertes Thema. Es ist auch schon sehr früh über eine mögliche Gefährdung der Mineralwasservorkommen oder die Schwierigkeiten eines Tunnelbaus diskutiert worden. „Wenn die Grünen behaupten, der Projektverlauf erinnere an das Vorgehen der Eisenbahngesellschaft bei der Erschließung des Wilden Westens, so ist das eine ebenso haarsträubende wie an den Haaren herbeigezogene Behauptung. Was ist bloß in den freundlichen Stadtrat Dr. Kienzle und in die liebenswürdige Stadträtin Marx gefahren, dass sie so etwas von sich geben?“, schrieb schon der frühere Oberbürgermeister Manfred Rommel. Und zählte dann auf, wie die Bürger unterrichtet worden waren: „Öffentliche Vorstellung zur Ideenskizze zu Stuttgart 21 am 18.4.1994“, „Präsentation der Ergebnisse der so genannten Machbarkeitsstudie mit Ausstellung im Rathaus am 16.1.1995“, „4.4.1995 Einladung zur Ideenwerkstatt S21“, „11. 9.1995 Mehrwöchige Ausstellung der Ergebnisse der Ideenwerkstatt“, „September 1995 – mehrwöchige Ausstellung“.
Keineswegs hat das demokratisch gewählte „Lügenpack“, wie Demonstranten immer noch mindestens einmal wöchentlich vor dem Stuttgarter Bahnhof brüllen, im Geheimen einen Bahnhof geplant und mit Immobilienmaklern beschlossen, die ganze Stadt umzugraben. Im Gegenteil: Verantwortliche Kommunalpolitiker, zunächst Manfred Rommel, später Wolfgang Schuster, haben in dem Projekt eine große Chance für ihre Stadt gesehen. Eine städtebauliche Chance, die in den vergangenen dreißig Jahren sicher Berlin, vielleicht Hamburg hatte, die sich in anderen Großstädten aber so niemals geboten hat und auch nicht bieten wird. In welcher Stadt gibt es schon die Möglichkeit, Stadtteile wieder zusammenwachsen zu lassen und auf Hundert Hektar ein neues Viertel zu bauen?
Der „Wutbürger“ tritt auf den Plan
Dennoch muss in Stuttgart irgendetwas schief gelaufen sein, das im Sommer, Herbst und Winter vergangenen Jahres Tausende Bürger auf die Straße brachte und Journalisten dazu verführte, mit dem Begriff des „Wutbürgers“ ein neues soziologisches Phänomen zu beschreiben. Zunächst einmal ist es gar nicht ungewöhnlich, dass in Baden und Württemberg Bürger gegen den Staat aufbegehren. Wesentliche Freiheitsimpulse in der deutschen Geschichte sind von Baden ausgegangen, in der Geschichte der Bundesrepublik war der Südwesten mehrfach Ort gesellschaftlicher Großkonflikte: die Demonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss in Mutlangen, der Protest der Bauern im Kaiserstuhl gegen ein Atomkraftwerk in Wyhl. Immer waren auch ganz normale Bürger Teil dieser Bewegungen, immer sympathisierten auch Teile des Bürgertums mit dem Protest. Mittlerweile haben unterschiedliche sozialwissenschaftliche Studien nachgewiesen, dass es sich im Kern um eine linksliberale Bewegung handelte und keineswegs um eine historisch völlig neue Form bürgerlichen Protests.
In Berlin, wo oft ein allzu karikierendes Bild der Schwaben gezeichnet wird, mag man bürgerlichen Protest gegen „Stuttgart 21“ für etwas Außergewöhnliches halten. In Wahrheit ist Stuttgart schon lange eine liberale, multikulturelle Stadt mit einer ausgewachsenen linksliberalen und ökologischen Kunst- und Kulturszene. Diese Stuttgarter leiden an ihrer Stadt, vor allem an den Bausünden, die bei jedem Stadtspaziergang ins Auge fallen. Und sie leiden an der kalten und technokratischen Art, wie Stuttgart in den vergangen zwanzig Jahren regiert worden ist. Diese Befindlichkeit vermischte sich vor vier Jahren mit einer allgemeinen Unzufriedenheit über die in der Tat desaströse Informationspolitik der Bahn. Der Bauherr von „Stuttgart 21“ ist die Bahn AG – ein Unternehmen, das lange Zeit ein ähnliches Verständnis für die Bedürfnisse öffentlicher Diskussionen hatte wie große Unternehmen des Lebensmittelhandels: alles verschweigen und nur dann etwas sagen, wenn es gar nicht anders geht. Mit einer derartigen Verbarrikadierung des Herrschaftswissens lässt sich aber für kein Projekt werben, das ein „großer Wurf“ und eine „Riesenchance für Stuttgart“ (Erwin Teufel) und, noch treffender, eigentlich eine „zweite Stadtgründung“ (Manfred Rommel) sein würde.
Hinzu kamen die Mobilisierungsmöglichkeiten des Internet, ein Mangel an politischer Bildung und ein geringer werdender Respekt für den Wert demokratisch beschlossener und rechtsstaatlich gültiger Entscheidungen seitens der Bürger. Die Bahn und die Politiker in den Kommunen sowie im Landtag mussten lernen, dass Großprojekte heute nur dann auf Akzeptanz stoßen, wenn der Bauherr eine offensive Öffentlichkeitsarbeit betreibt, und dass die Politik selbst dann, wenn demokratische Entscheidungen gefallen sind, den Bürger weiter umwerben muss. Das ist als nachholender Prozess mit dem Schlichtungsverfahren geschehen. Andere Städte haben die üblichen Verfahren zur Planung von Projekten – die Anhörung im Gemeinderat, das Planfeststellungsverfahren – schon mit zusätzlichen Informations- oder Mediationsverfahren ergänzt.
Eine problematische Rolle nahmen bei der Diskussion über „Stuttgart 21“ die Grünen ein. Sie sind im Südwesten eine politische Kraft geworden, die sich – zumindest im Landtag – auf eine schwarz-grüne Koalition vorbereitet hatte. Das war ihre einzige Möglichkeit, von einer Oppositions- zur Regierungspartei zu werden. Etwas abschätzig schauen die Grünen auf ihre sozialdemokratischen Kollegen, sie fühlen sich als linke Avantgarde, angekommen in den besten Wohnlagen der Stadt. Seitdem die Protestbewegung anschwoll, sind die Grünen auf einmal wieder Protestpartei. Das gute Verhältnis einzelner Abgeordneter zur CDU ist mittlerweile zerrüttet. Nun bleibt ihnen wenig anderes übrig, als den Wahlkampf mit den Themen „Bürgerbeteiligung“ und „Stuttgart 21“ zu bestreiten, auch wenn diese schon jetzt nicht mehr im Mittelpunkt stehen. Von dem Vertrauensvorschuss, den sich die Grünen über viele Jahre sehr fleißig bei der CDU erarbeitet haben, wird nicht viel übrig bleiben. Zu eilfertig machten sie sich zum parlamentarischen Sprachrohr fast jeder Bürgerinitiative. Am Ende könnten sie die wahren politischen Verlierer sein.
Der postmaterielle Wandel einer Industrieregion
Wo liegen die Ursachen für die außerordentlich hartnäckigen Proteste? Sicher nicht in der angeblichen Schwäche der repräsentativen Demokratie. Offenbar geworden ist vielmehr das Unvermögen von Bundes- und Landespolitikern, die Finanzierung des Projekts rechtzeitig sicherzustellen. Diese Entscheidungsschwäche – und nicht die Komplexität oder Dauer der Planfeststellungsverfahren – hat die Glaubwürdigkeit unterminiert. Etwaige Bestrebungen, jetzt das Planungsrecht zu beschleunigen, könnten paradoxerweise zu weniger Einspruchsmöglichkeiten der Bürger führen. Nicht gelöst worden sind auch die manifesten Interessengegensätze zwischen dem Bauherrn, also der Bahn AG, und den unterschiedlichen politischen Ebenen. Für das obrigkeitsstaatliche Verhalten der Bahn müssen die Politiker der großen Koalition aus CDU, SPD, Grünen und FDP die Zeche zahlen. Gleichwohl haben alle Befürworterparteien aber auch geflissentlich alle gesellschaftlichen Warnsignale, die den Unmut der Bevölkerung angezeigt haben, sehr lange überhört: Dem Kommunalwahlsieg der Grünen im Jahr 2009 waren sehr gute Ergebnisse bei den Oberbürgermeister-Wahlen in den Jahren zuvor vorausgegangen. Eine Ursache war das Bahnhofsprojekt, eine andere die gesellschaftliche Transformation Stuttgarts zu einer urbanen, multikulturellen und immer stärker dienstleistungsorientierten Metropole im Südwesten. Ausgerechnet die wichtigste Industrieregion Deutschlands soll nun nicht die Verkehrsinfrastruktur bekommen, die immer die Voraussetzung für wirtschaftliche Prosperität war. Ausgerechnet die drei bevölkerungsreichen Zahlerländer in den Länderfinanzausgleich – Hessen, Bayern und Baden-Württemberg – wären die Leidtragenden, wenn die Neubaustrecke nicht gebaut würde. Über einen langen Prozess waren in der Hauptstadt des industriellen Kraftzentrums Deutschlands die postmaterialistischen Grünen zu Meinungsführern geworden.
CDU, SPD und FDP schauten schweigend zu. Im Jahr 2007, als das Projekt – angepriesen als „Oettinger 21“ – durchgesetzt wurde, und dann sogar noch im Herbst 2010, als die CDU glaubte, die Auseinandersetzung allein mit Härte gewinnen zu können, wurden folgenreiche Fehlentscheidungen getroffen. Erstmals seit dem Wahlkampf im Jahr 2001, als Ute Vogt den Dauerministerpräsidenten Erwin Teufel herausforderte, steht die seit 58 Jahren regierende CDU vor dem Machtverlust. Noch nie hatten CDU und FDP vor einer Landtagswahl so deutlich und so lange keinen Vorsprung vor SPD und Grünen. Nun tobt im Südwesten ein harter Lagerwahlkampf. Nicht die Gegner von Stuttgart 21 werden die Wahl entscheiden, sondern die Bürger in den ländlich geprägten CDU-Hochburgen in Südbaden, Ost-Württemberg oder der Kurpfalz. Die Wahl wird zeigen, wie groß das Vertrauen in die Dauerregierungspartei noch ist. «