Die Furcht vor der Radikalreform
Seit 25 Jahren hat es eine solche Minderheitsregierung in Kanada nicht gegeben; und angesichts großer und sensibler Vorhaben wie der Gesundheitsreform wird dem neuen Kabinett nicht eben eine lange Überlebenszeit vorausgesagt. Schon am Wahlabend war errechnet worden, dass Minderheitsregierungen in Kanada eine durchschnittliche Lebensdauer von 18 Monaten haben. Die Liberalen haben von 308 Sitzen nur 135 bekommen, das ist im Vergleich mit den Wahlen im Jahr 2002 ein Verlust von vier Prozent der Stimmen.
Für Paul Martin hatte es im Mai und Juni jedoch noch schlechter ausgesehen, denn anders als erwartet, hatten die Liberalen ihren ungewöhnlich geringen Vorsprung vor den Konservativen in den ersten Wochen der Kampagne kaum vergrößern können. Bis zum Wochenende vor der Wahl sagten die Umfrageinstitute sogar ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus.
Dass die Konservativen unter Stephen Harper, der gerade erst die rechtskonservative, in den ländlichen Regionen des Westens beheimatete „Allianz“ mit den „roten Tories“ der Ostküste vereint hatte, so viel Zuspruch bei den Wählern fanden, hatte vor allem einen Grund: die Unzufriedenheit mit der liberalen Regierung, die dazu neigte, das Regieren als Normalzustand hinzunehmen. Offenbar war die „shotgun marriage“, mit der Harper das konservative Lager einte, für viele Wähler aber noch nicht so Vertrauen erweckend, dass sie ihre Stimme den Konservativen gegeben hätten.
Was sind heute „kanadische Werte“?
Zumal Paul Martin mit der Betonung „kanadischer Werte“ wie dem Multilateralismus und einer am europäischen Modell orientierten Wohlfahrtsstaatspolitik in der letzten Phase des Wahlkampfes noch einige Wähler überzeugen konnte. Immerhin konnten die Konservativen im bevölkerungsreichen Staat Ontario 24 Mandate erringen (31,5 Prozent); die Liberalen bekamen hier 44,7 Prozent, also 75 Mandate. Die Wähler in Ontario und zuvörderst die Wechselwähler, die bei der vorausgegangenen Wahl noch für die „Red Tories“ gestimmt hatten, sicherten Paul Martin die Macht. Den wiedervereinigten Konservativen gelang es nicht, ihr Wählerpotential voll auszuschöpfen. Beide Parteien hatten, getrennt antretend, bei der vorigen Wahl zusammen mehr Stimmen bekommen. Die Parteimitglieder unterstützten die Fusion der zwei konservativen Parteien – die Wähler nicht. So verloren die Konservativen vor allem diejenigen Wähler, die zuvor die „Red Tories“ gewählt hatten und sich mit den rechtskonservativen Ressentiments gegen Abtreibung oder homosexuelle Lebensgemeinschaften nicht abfinden wollten.
Viele Wähler waren der Auffassung: So wie die Liberalen in den vergangenen zehn Jahren regiert haben, sollten sie es künftig nicht mehr tun. Zugleich halten sie die neue konservative Partei unter Stephen Harper noch nicht für fähig, die Macht zu übernehmen. In der Provinz Quebec musste Paul Martin eine harte Niederlage einstecken – obwohl er versucht hatte, separatistische Politiker aus der französischsprachigen Provinz einzubinden, hat die zu Beginn des Wahlkampfes öffentlich stark diskutierte Korruptionsaffäre viele liberale Wähler in die Arme des Bloc Québécois getrieben: Harpers Vorgänger Chrétien hatte, um die separatistische Stimmung in der Provinz zu dämpfen, ein Werbeprogramm für die Einheit Kanadas in Auftrag gegeben, die staatlichen Gelder hierfür waren aber bei den Liberalen nahe stehenden Werbeagenturen versickert.
Die Ermittlungen gegen die verantwortlichen Inhaber der Agenturen bescherten Paul Martin negative Schlagzeilen im Wahlkampf, und die Kampagne bestärkte nur das Gefühl der Zurückgesetzheit in Quebec. Martin musste hier vor allem die Quittung für eine von den Wählern als verlogen empfundene Symbolpolitik bezahlen. Auch seine häufigen Wahlkampfauftritte in der Provinz wurden von der dortigen Bevölkerung als anbiedernd empfunden. So gewann der Bloc Québecois 54 von 75 zu vergebenden Sitzen, die Liberalen büßten 15 Mandate ein. Paul Martin muss also auch an den separatistischen Bloc Zugeständnisse machen, was sich schon bei der Regierungsbildung zeigte. Er wird der Partei auch deshalb weiter entgegenkommen müssen, weil ein neues Referendum über die Unabhängigkeit der französischsprachigen Provinz als Druckmittel gern vom Bloc Québécois ins Gespräch gebracht wird.
Jetzt muss Paul Martin balancieren
Wie schwierig es für Paul Martin werden dürfte, nun die vielfältigen regionalen und politischen Interessen auszubalancieren, lässt sich bereits an der Zusammensetzung seines neuen Kabinetts ablesen: Der Finanzminister und die stellvertretende Premierministerin stammen aus den westlichen Provinzen Saskatchewan und Alberta, British Columbia ist jetzt mit fünf Ministern im Kabinett vertreten. Martin will damit dem Vorwurf begegnen, die Liberalen vernachlässigten den Westen. Aus den östlichen Provinzen, wo die Liberalen traditionell erfolgreich sind, kommen nun weniger Minister.
Um als Premierminister einer Minderheitsregierung überhaupt Aussicht auf die Bildung einer Mehrheit zu haben, musste Paul Martin einem früheren Separatisten aus Quebec, Jean Lapiere, sowie dem früheren Neudemokraten Ujjal Dosanjh Ministerposten geben. Letzterer hat sogar das für die reformerische Ausrichtung von Martins Politik äußerst wichtige Gesundheitsministerium bekommen. Dieses Zugeständnis bedeutet, dass die Regierung in dieser Frage versuchen wird, die Wartezeiten und die Ineffektivität des Systems zu mindern, an der öffentlichen Finanzierung und an der enormen Kostensteigerung wird sie vermutlich nichts ändern können.
Das mit Steuergeldern subventionierte Gesundheitssystem wird als „Kronjuwel“ des Sozialsystems bezeichnet; es hat für die Kanadier auch einen hohe identitätspolitische Bedeutung als Ausweis der „kanadischen Werte“, die man gern gegenüber den Nachbarn im Süden hoch hält. Schwer dürfte es für Paul Martin auch werden, in der Finanz- und in der Außenpolitik seine bisherigen Auffassungen beizubehalten.
Eine Lektion für deutsche Sozoaldemokraten?
Paul Martin, soviel ist in den Monaten nach der Wahl schon deutlich geworden, wird nur die allernotwendigsten Gesetze verabschieden. In der Gesundheitspolitik verspricht Martin vor allem das solidarische System zu erhalten. Martin wird es zudem schwer fallen, seine auf Haushaltskonsolidierung ausgerichtete Reformpolitik fortzusetzen, durch die er sich unter seinem Vorgänger Chrétien als Finanzminister einen Namen gemacht hatte. Zugleich ist nicht abzusehen, welche innerparteilichen Schwierigkeiten noch auf ihn zukommen. Martin hatte Chrétien nämlich in äußerst zielstrebiger Weise die Macht entrissen und von ihm Ende 2003 den Parteivorsitz übernommen. Mit der vorgezogenen Parlamentswahl wollte er die einstweilen nur „geliehene“ Macht in selbst erworbene umwandeln, was ihm nur zur Hälfte gelang. Sogar während der heißen Phase des Wahlkampfes hatten ihn Anhänger Chrétiens für seine Kampagnenführung kritisiert – die Geschlossenheit der liberalen Partei ist demnach nicht gerade groß. Die Zahl derer in der liberalen Partei ist nicht gering, die Paul Martins außen- und fiskalpolitisch eher konservativen Kurs ablehnen.
Was könnten die deutschen Sozialdemokraten nun von den kanadischen Liberalen lernen? Zumindest das: Mit einem taktischen Linksruck im Wahlkampf lässt sich ein politischer Ansehensverlust nicht wieder völlig ausbügeln, aber der Schaden begrenzen. „Nur die Liberalen können Stephen Harper und seine versteckte Agenda verhindern, die vorsieht, unser Land grundsätzlich zu verändern“ – das war die Botschaft in den letzten Wochen vor der Wahl. Eine ähnliche Konstellation ist vielleicht auch für Deutschland im Jahr 2006 denkbar: Die deutschen Wähler wollen dann vermutlich keine Fortsetzung der rot-grünen Koalition, aber die Furcht vor einer wirtschaftsliberalen Radikalreform der Union könnte missmutige Wähler von SPD und Grünen trotzdem noch einmal mobilisieren. Die Glaubwürdigkeit der Liberalen und das Vertrauen der Bürger in ihre Politik sind beschädigt. Viele Kanadier wollten den Liberalen einen Denkzettel geben und ihre Macht beschneiden. Da sie zugleich aber strukturkonservativ gewählt haben, weil sie eine stärkere private Beteiligung an den Kosten des Gesundheitssystems ablehnen, konnte Martin im Amt bleiben. Wenn ihnen der Konservative Stephen Harper den Erhalt des kanadischen Status quo zugesichert hätte, hätten sie Martin abgewählt.
Was Herr Martin so alles versprochen hat
Paul Martin und seine Minderheitsregierung sitzen nun in der Falle: Die Einhaltung der taktisch motivierten „linken“ Wahlversprechen kontrolliert nun die linkssozialdemokratische NDP. Deren Parteivorsitzender Jack Layton sagte schon wenige Stunden nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses: „Herr Martin hat eine Serie von Versprechen gemacht während dieser Wahl, und ich glaube, dass Herr Martin diesen Versprechungen folgen wird, dass er sich für eine öffentliche Finanzierung des Gesundheitssystems, für eine Ablehnung eines Star Wars-Programms einsetzen wird. Und wir werden sehr hart dafür arbeiten, dass dieser Kurs, den er versprochen hat, nicht verändert wird.“
Schon vor der Wahl war Paul Martin von der Publizistin Susan Delacourt, einer der besten Kennerinnen der Politikbetriebs in Ottawa, als „bubble boy“ beschrieben worden, der sich nie festlege. Das ist ein weiterer Grund, weshalb von seiner Minder-heitsregierung nicht viel zu erwarten sein dürfte, schon gar keine Reformagenda. In einem Kommentar der wichtigsten kanadischen Tageszeitung hieß es kürzlich prägnant: „Die Liberalen müssen beginnen, sich wie eine richtige Regierung aufzuführen, bevor die Leute merken, wie einfach man ohne eine Bundesregierung zu Recht kommt.“