Kinderschutz mit langem Atem
Politik zum wirksamen Schutz von Kindern ähnelt der Politik gegen Jugendkriminalität: Sie ist ereignisorientiert, um nicht zu sagen an Skandale gebunden; deshalb ist sie kurzatmig und wenn überhaupt nur punktuell wirksam. Die schrecklichen Todesfälle von Kindern mit teilweise sehr unterschiedlichen Ursachen führen zu einer simplifizierten hektischen Berichterstattung, zu genauso hektischen politischen Aktivitäten, zu immer wiederkehrenden öffentlichen Ritualen der Betroffenheit – bis zum nächsten schrecklichen Ereignis: dem (vermeidbaren) Tod eines Kindes. Dieser ist aber – Gott sei Dank – nur der seltene Höhepunkt des gemeinsamen Versagens von Eltern, Institutionen, Gesellschaft und Politik.
Dahinter stehen die zigtausenden, wenn nicht hunderttausenden von Kindern, die nicht so aufwachsen, wie sie sollten, die ihre Fähigkeiten und Talente nicht entfalten können, die materiell, seelisch und geistig hungern, die gefangen bleiben in den Lebensverhältnissen, in die sie hineingeboren wurden, die schwach gemacht werden, weil ihre Eltern nicht stark sind und weil niemand dabei hilft, stark zu werden – nicht den Eltern und nicht den Kindern.
Wer Kinder wirksam schützen will, muss deshalb fragen, warum das so ist, woher die Gleichgültigkeit kommt gegenüber den hunderttausenden Kindern, die nicht gut aufwachsen – eine Gleichgültigkeit, die durch dramatische Todesfälle erschüttert, aber nicht beseitigt wird. Eine Gleichgültigkeit, die es hinnimmt, dass Mitte der sechziger Jahre 125.000 Kinder unter 18 Jahren von Sozialhilfe abhängig waren und heute mehr als 1,7 Millionen als arm gelten müssen.
Es gibt Gründe für diesen beklagenswerten Zustand: Erstens werden in Deutschland Kinder nicht mehr wirklich vermisst. Wir haben uns ganz gut in einer Gesellschaft eingerichtet, in der Kinder zur Ausnahme geworden sind. In gerade einmal 22 Prozent der Haushalte leben minderjährige Kinder. Im Jahr 1991 war dies noch in 27 Prozent der Haushalte der Fall. Die Konsequenzen: Die Bedürfnisse von Kindern werden zunehmend marginalisiert. Verkehrslärm wird mehr oder weniger klaglos hingenommen, der Tobelärm und das Lachen von Kindern werden gerichtlich bekämpft. Ein kinderloses Paar in Begleitung einer meterhohen Dogge findet leichter eine Mietwohnung als ein Paar mit zwei kleinen Kindern an der Hand. Kinder sind zumindest für die Mütter häufig ein Berufshindernis, und für beide Elternteile ein Karrierehindernis. Die mit der Globalisierung einhergehenden Mobilitäts- und Flexibilitätsanforderungen führen zusätzlich zu einer strukturellen Rücksichtslosigkeit gegenüber Kindern und ihren Familien. Denn Kinder brauchen Zeit, Verlässlichkeit, Ortsgebundenheit.
„Uns hat eine Ohrfeige auch nicht geschadet“
Die Bedürfnisse von Kindern stehen in immer stärkerer Konkurrenz zu denen der anderen Generationen und Gruppen. Viele Ältere sehen nicht ein, dass Kinder heute ganz anders gefördert und erzogen werden als früher. Nach dem Motto: „Wir waren mehr als vierzig Schüler in der Klasse.“ – „Uns hat eine Ohrfeige auch nicht geschadet.“ – „Bei uns hat es sowas wie Kindergeld oder Elterngeld auch nicht gegeben.“ Kommunen müssen entscheiden, ob die Umgehungsstraße, das Seniorenheim oder die Kinderkrippe wichtiger ist. Und die Wirtschaft steht zwar an vorderster Front, wenn es um die Forderung nach mehr Kinderkrippen und Ganztags-Kitas geht, aber längst nicht so weit vorn, wenn es um das eigene Engagement bei familienfreundlichen Arbeitszeiten oder das Einstellen alleinerziehender Mütter geht. Da ist es nicht verwunderlich, dass nur 25 Prozent der Deutschen der Meinung sind, Deutschland sei ein kinderfreundliches Land. Die Franzosen hingegen halten ihr Land zu 60 Prozent für kinderfreundlich.
Zweitens werden Kinder nicht als eigenständige Menschen angesehen. Sie sind Mittel, um etwas zu erreichen, sie sind bestenfalls Objekte der Fürsorge. Sie sind Mittel, um das Wirtschaftswachstum zu erhöhen, Mecklenburg-Vorpommern wieder zu bevölkern, die Rentenfinanzen zu stabilisieren oder künftige Alte zu pflegen.
Nur ganz selten werden sie als eigenständige Individuen begriffen, die ihre eigenen Bedürfnisse artikulieren und ihre Rechte einfordern – wie es beispielsweise bei der Formulierung des Nationalen Aktionsplans für ein Kindergerechtes Deutschland 2005–2010 geschehen ist. Ein Aktionsplan, den „zügig umzusetzen“ die Bundesregierung mit dem jüngst verabschiedeten Koalitionsantrag „Gesundes Aufwachsen ermöglichen ...“ ein weiteres Mal aufgefordert wurde. Ebenso verhält es sich bei der UN-Kinderrechtskonvention. Unzählige Male wurde die Bundesregierung bereits aufgefordert, diese Konvention voll umzusetzen. In der Vergangenheit scheiterte dies am Bundesrat. Vielleicht gelingt es ja in der Großen Koalition, den noch bestehenden Vorbehalt endlich zurückzunehmen.
Jedes Kind hat ein Recht auf Entwicklung
Daraus leiten sich die erforderlichen Maßnahmen ab. Ich beginne gar nicht mit den zweifellos notwendigen verbindlichen Einladungen zu Vorsorgeuntersuchungen, einer stärkeren Vernetzung von Behörden, der besseren Ausstattung von Jugendämtern, der schnelleren Reaktion von Familiengerichten – dies alles sind richtige und zielführende Maßnahmen, die punktuell helfen. Wirksamer Kinderschutz muss aber schon früher beginnen. Nämlich bei einem Mentalitätswechsel der Gesellschaft. Den kann die Politik nicht alleine bewirken, aber sie kann mithelfen – auch mittels einer Grundgesetzänderung und der Diskussion darüber. Der Artikel 6 unseres Grundgesetzes könnte wie folgt ergänzt werden: „Jedes Kind hat ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit, auf gewaltfreie Erziehung und auf den besonderen Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung. Die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte des Kindes und trägt Sorge für kindergerechte Lebensbedingungen.“
Dies ist nicht nur abstrakte Juristerei, sondern hätte konkrete Auswirkungen auf Entscheidungen von Familiengerichten, beispielsweise in Bezug auf die Betreuungssituation von Kindern oder Hilfsmaßnahmen. Der Text wäre nicht nur ein Postulat, sondern er würde konkrete Handlungsaufträge an alle gesellschaftlichen Institutionen beinhalten. Diese Handlungsaufträge hätten bei der Ausformulierung von Gesetzen eine verpflichtende Wirkung.
Kinder wären dann nicht mehr nur Objekte der Fürsorge ihrer Eltern, sondern Subjekte und Träger eigener Rechte. Sie wären nicht mehr Bestandteil einer Gruppe – der Familie –, sondern ihren besonderen Bedürfnissen würde eigenständig Rechnung getragen.
Natürlich gelten die in unserer Verfassung niedergelegten allgemeinen Menschenrechte auch für Kinder. Aber auch für Frauen, und dennoch hat es der Verfassungsgeber für nötig gehalten, den besonderen Bedürfnissen der Frauen in der Verfassung mit eigenständigen Rechten nachzukommen.
Niemand behauptet, mit einer Verfassungsänderung allein wären die Probleme gelöst. Aber die Verfassung ist mehr als nur bedrucktes Papier, sie beeinflusst die öffentliche Meinung, das Handeln von Institutionen und Organisationen sowie Gerichtsentscheidungen. Natürlich ist nicht in jedem Einzelfall kontrollierbar, ob jeder Buchstabe der Verfassung eingehalten wird. Das kann aber nicht den Verzicht auf die notwendige – im Sinne von „Not zu wenden“ – Ergänzung unseres Grundgesetzes sein.
Verändertes Recht, veränderte Mentalität
Auch Gewalt in der Ehe ist nicht zu kontrollieren, doch ihre Strafbarkeit hat zu Mentalitätsveränderungen geführt. Eine Verfassungsergänzung um die Grundrechte von Kindern sollte also ein erster Schritt für ein kinderfreundliches Deutschland sein. Sie kann nicht mit der Begründung vom Tisch gewischt werden, es fehle die Mehrheit im Bundesrat, hat sie doch eine breite Mehrheit im Bundestag und in der Bevölkerung. Beides gilt es zu nutzen, um die unverständliche Hartleibigkeit des Bundesrates zu brechen.
Föderalismus kann nicht so verstanden werden, dass zehn, zwölf Ministerpräsidenten alleine eine Verfassungsergänzung zugunsten von Kindern ablehnen – und der Bundestag akzeptiert das einfach. Dieselben Ministerpräsidenten fordern alleine eine Verschärfung des Jugendstrafrechts, und der Bundestag springt über das hingehaltene Stöckchen.
Veränderte Mentalitäten und Grundrechte von Kindern in der Verfassung werden zu konkreten Maßnahmen führen. Einige sind bereits in die Wege geleitet, wie die genannten verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen, die bessere Abstimmung von Behörden und das beschleunigte Einschreiten von Familiengerichten.
Noch mehr muss ungeachtet von Zuständigkeiten auf der Bundesebene hinzukommen. Denn: „Für die Erziehung eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf.“ Dieses afrikanische Sprichwort muss mit modernem Leben erfüllt werden. Das Recht und die Pflicht der Eltern, primär für ihre Kinder zu sorgen, wird nicht in Frage gestellt. Aber es darf nicht bedeuten, Eltern mit diesen Rechten und Pflichten alleine zu lassen.
Auch dürfen die Rechte der Eltern nicht über das Wohlergehen des Kindes gestellt werden. Wenn derzeit 500.000 Kinder in Familien mit mindestens einem Elternteil leben, das an einer Psychose leidet, dann ist das vernünftige Aufwachsen dieser Kinder gefährdet und meist nur in einer anderen Umgebung möglich.
Was bedeutet das konkret? Erstens: Ein Kind aus einer bildungsfernen, materiell schlecht gestellten Familie hat eine bis zu sechsfach geringere Chance, Abitur zu machen, als ein Kind aus einer bildungsnahen, gut situierten Familie – bei gleicher Intelligenz und Begabung. Es ist oberste Priorität, diese größte Ungerechtigkeit zu beseitigen. Die notwendigen Instrumente sind möglichst frühe, individuelle, kostenlose, altersgerechte Förderung ergänzend zur Familie, in ausreichend vorhandenen und mit gut qualifiziertem Personal besetzten Krippen, Kitas und Schulen.
Dazu brauchen wir mehr und besser qualifizierte Erzieherinnen und möglichst auch Erzieher, kleinere Gruppen und Klassen, mehr Durchlässigkeit zwischen Kitas und Grundschulen, weniger Sitzenbleiber und Schulabbrecher und mehr Erfolgserlebnisse für die Kinder.
Elternarbeit wie in Finnland oder Dormagen
Wir brauchen zweitens „zugehende Elternarbeit“ wie in Finnland oder auch in Dormagen, wo der Oberbürgermeister gleichzeitig der Vorsitzende des Deutschen Kinderschutzbundes ist. Nicht, um so genannte Problemfamilien zu diskriminieren, sondern um allen Eltern ein Unterstützungsangebot zu machen und ihre Kinder von der Geburt bis zum Schuleintritt zu begleiten, natürlich mit von Familie zu Familie unterschiedlicher Intensität.
Dafür brauchen wir drittens ein Kinder- und Jugendhilferecht, das die Jugendämter stärkt und nicht zum Steinbruch föderaler Interessen wird. Wir benötigen Jugendämter, die gut ausgestattet und deren Mitarbeiter gut qualifiziert sind.
Darüber hinaus müssen wir Kinderarmut wirksam bekämpfen. Dies ist nicht zuerst mit der Erhöhung von Leistungen des Sozialgesetzbuches II zu schaffen, aber ich halte deren Überprüfung in drei Richtungen für geboten: Zum einen vor dem Hintergrund der Inflationsrate; zum zweiten mit der Frage, ob die Höhe der Abschläge vom Regelsatz für Erwachsene, besonders für Heranwachsende gerechtfertigt ist; und zum dritten ist zu prüfen, ob die generelle Pauschalierung nahezu aller ehemaligen Leistungen mit der Lebenswirklichkeit der Empfängerinnen und Empfängern korrespondiert.
Halbierte Kinderarmut in fünf Jahren
Jedoch wird Kinderarmut nicht durch die simple Erhöhung der einen oder anderen Transferleistung beseitigt werden, sondern durch Bildung und die Stärkung der Eltern, indem ihnen Wissen über Erziehung, Haushaltsführung und den Umgang mit Geld vermittelt wird. Für all das gab es erfolgreiche Modellvorhaben, die aus Kostengründen nicht weitergeführt wurden.
Die Zuständigkeiten für all diese Maßnahmen liegen nur sehr eingeschränkt auf Bundesebene, sondern vor allem auf Landes- und kommunaler Ebene. So kommen wir zunehmend zu der folgenden Rollenverteilung: Der Bund wird von der Öffentlichkeit an erster Stelle für einen wirkungsvollen Kinderschutz verantwortlich gemacht; Bundesregierung und Bundestag appellieren mit Anträgen oder nationalen Aktionsplänen an die Länder; aber vor Ort bleibt es den Verantwortlichen überlassen, in welchem Maß ein gutes Aufwachsen von Kindern gelingt.
Gerade deshalb ist die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung als zentraler Bestandteil eines wirksamen Kinderschutzes das Gebot der Stunde. Alle Sachkundigen wünschen sich weniger aufgeregte und kurzatmige Diskussionen und mehr Kinderschutz mit langem Atem. Deshalb brauchen wir einen Kinder- und Jugendgipfel, auf dem sich alle Verantwortlichen auf das Ziel einigen sollten, innerhalb von fünf Jahren die Kinderarmut ebenso wie die Anzahl der Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen zu halbieren. Zumindest teilweise bedingt das eine das andere.