Konturen einer sozialen und demokratischen Wirtschaftsunion
Eine Revision der wirtschafts- und sozialpolitischen Instrumente der Europäischen Union gerät zunehmend ins Hintertreffen. War das europäische Krisenmanagement bislang vor allem von technokratischen und intergouvernmentalen Entscheidungen geprägt, verfestigt der nun im so genannten Fünf-Präsidenten-Bericht eingeschlagene Weg die integrations- und demokratiepolitischen Probleme weiter. Die Autoren fordern lediglich, die Wirtschaftsunion um eine Banken-, Fiskal-, und Finanzunion zu ergänzen.
Die Wirtschaftskrise der Eurozone hat tiefe Gräben zwischen den Staaten und Bürgern der EU hervorgebracht: Nord gegen Süd, selbsterklärte „Geber“ gegen „Nehmer“, Realwirtschaft gegen Finanzindustrie. Zwanzig Jahre nach Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages tritt nun zu Tage, dass die 1993 geschaffene Asymmetrie zwischen supranationaler Währungsunion und intergouvernementaler Wirtschaftskoordinierung an ihre Grenzen stößt, wenn Marktteilnehmer ganze Volkswirtschaften gegeneinander ausspielen. Die vertragsändernden Regierungskonferenzen der vergangenen zwei Jahrzehnte hielten jedoch explizit an dieser gewollten Unwucht der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) fest. Erst 2009 begannen Regierungen und Parlamente, das selbst auferlegte Moratorium, die wirtschaftspolitischen Bestimmungen nicht anzutasten, zu hinterfragen.
Um die bestehende Asymmetrie zwischen europäischer Wirtschafts- und Währungspolitik auszugleichen, müsste eine ernst gemeinte und umfassende Reform die fiskal-, wirtschafts- und sozialpolitischen Funktionen von EU, Eurozone und Mitgliedsstaaten verändern. Dabei ginge es nicht nur um die vermeintliche Vollendung von Kapital-, Banken- und Fiskalunion, sondern auch darum, bei zentralen Konflikten tragfähige Kompromisse zu erarbeiten. Zu diesen Konflikten gehört die Frage der funktionalen Eingriffstiefe und Durchschlagskraft neuer Souveränitätsteilungen, um das Verhältnis der Gesamt-EU zur heutigen und zur künftigen Eurozone (sowie zu Großbritannien, Dänemark und Schweden) sowie um das Thema der demokratischen Legitimierung politischer Entscheidungen. Aus progressiv-sozialdemokratischer Sicht dürfte sich ein solches Reformvorhaben nicht mit den im Präsidentenbericht angesprochenen Feldern begnügen: Anknüpfend an Björn Hackers Kritik an der Leisetreterei der SPD halte ich die Diskussion darüber für geboten, ob wir die Wirtschaftsunion nicht notwendigerweise um eine Sozial- und Nachhaltigkeitsunion ergänzen müssen. Das würde konkret bedeuten, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Belange nicht durch Verfahren zu berücksichtigen, die weitgehend auf Koordination beruhen, sondern danach zu fragen,
• wie als Gegenstück zur selbst auferlegten Schuldenbremse eine „Sozialabbaubremse“ (Michael Roth) rechtsverbindlich verankert werden könnte,
• wie als Gegenstück zur Kapitalunion eine Politik formuliert werden könnte, die Steuervermeidungspraktiken der Unternehmen und Steueroasen der Staaten glaubhaft bekämpft,
• wie parallel zur Bankenunion eine gesellschaftlich akzeptable Union aussehen müsste, die der Casinomentalität der Banken einen sicheren Riegel vorschiebt und die „System-relevanz“ von Banken durch die Option ihrer Verstaatlichung einpreist,
• wie eine Wirtschafts- und Sozialunion auf den Weg gebracht werden könnte, die dem in den EU-Verträgen verbürgten Ziel einer nachhaltigen, gerechten und solidarischen Union gerecht wird.
Sicher, die Präsidenten sprechen sich dafür aus, dass „gemeinsame Standards für Arbeitsmärkte, Wettbewerbsfähigkeit, Rahmenbedingungen für Unternehmen und öffentliche Verwaltung sowie bestimmte Aspekte der Steuerpolitik“ geschaffen werden. Sie fordern auch, dass man sich künftig stärker auf die Gebiete Beschäftigung und Soziales „fokussieren“ müsse. Doch ihre Vorschläge bleiben vage und konzentrieren sich auf die bisherigen Empfehlungen der Kommission. In der Summe läuft dieses Konzept darauf hinaus, dass die Sozialpolitik nicht auf Augenhöhe mit der Wirtschaftspolitik verregelt, sondern in der Koordination zerredet wird. Sozialpolitik hat sich mit dem Trostpflaster ihrer „gebührenden Berücksichtigung“ zu begnügen, während die Autonomie der mitgliedsstaatlichen Regierungen und Parlamente durch die fiskalpolitischen Regelungen des Europarechts massiv beschränkt wird. Ein auf zehn Jahre angelegter Plan zur Reform der WWU hätte sich sehr viel konkreter mit Fragen der Bekämpfung von Sozialdumping und Sozialbetrug auseinandersetzen können, mit der Schaffung eines sozialen Fortschrittsprotokolls, mit der Bekämpfung, Sanktionierung und Schließung von Steueroasen sowie mit der Haushaltsstabilisierung über die Einnahmenseite (Mindeststeuersatz bei Unternehmensgewinnen, Finanztransaktionssteuer, Besteuerung von Vermögen und so weiter).
Aus demokratiepolitischer Sicht hat nicht die „Krise“ allein den Streit über die funktionale Reichweite und Dichte der Integration der WWU und der Sozial-, Struktur- und Kohäsionspolitik provoziert. Ein weiterer Grund ist, dass die nationalen Parlamente ihre Gesetzgebungs- und Kontrollfunktion in der Banken- und Wirtschaftskrise nur noch unzureichend ausfüllen konnten. Außerdem beobachten wir einen leisen, aber kontinuierlichen Prozess der wiederholten Beschränkung oder zumindest offenen Hinterfragung der Rechte des Europäischen Parlaments durch die Mitgliedsstaaten und den Europäischen Rat: Zwar hat das Europäische Parlament die gesetzgeberischen Maßnahmen des Six- und Two-Pack und den Einheitlichen Abwicklungsmechanismus – und damit auch den bankenfinanzierten Abwicklungsfonds – auf dem Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens mitentschieden und -verantwortet. Demgegenüber stehen allerdings die weitgehende Ausgrenzung des Parlaments aus den intergouvernementalen Verträgen zur akuten Erstkonsolidierung der WWU (Europäischer Stabilitätsmechanismus und Fiskalpakt) und die komplette Ausschaltung des Parlaments bei allen Beschlüssen über die „Hilfs- und Rettungspakete“. Diese Form der „Re-Intergouvernementalisierung“, die die Haushaltsautonomie der Staaten massiv infrage stellt, bildet die Spitze eines sich verstetigenden Konfliktfelds zwischen dem Europäischen Parlament und den Mitgliedsstaaten.
Die Idee einer wie auch immer gearteten Verdichtung oder gar Auslagerung der Eurozone aus der EU birgt zusätzliches Konfliktpotenzial für den inneren Zusammenhalt der Union – und zwar nicht nur für die Zusammenarbeit zwischen ihren Institutionen, sondern auch für die demokratische Legitimation durch das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente. Der faktische Rückzug einer vermeintlich „voranschreitenden“ Gruppe aus dem Gesamtzusammenhang der EU – ein als „Vertiefung“ gedachter Vorschlag, der zuletzt vor allem in deutsch-französischen Papieren kursierte –, würde unweigerlich die Frage nach dem demokratisch-parlamentarischen Gehalt europäischer Zusammenarbeit in Bezug auf unterschiedliche Formen und Prozesse der flexiblen oder abgestuften Integration aufwerfen. Es müsste daher grundsätzlich geklärt werden, wie und durch wen die Chancen und Risiken mitgliedsstaatlicher „Clusterbildung“ unter Berücksichtigung der Prinzipien der Unionstreue, der Solidarität und der integrationspolitischen Kohäsion kontrolliert und legitimiert werden können.
Hinsichtlich der demokratischen Rechenschaftspflicht weisen die Präsidenten in ihrem Bericht zwar auf die etablierten Mitwirkungsroutinen des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente im Rahmen des Europäischen Semesters hin. Gleichwohl reduzieren die Präsidenten die Rechte der beiden Parlamentsebenen auf bloße Informations- und Kommunikationsfunktionen. Ausgeblendet bleiben sowohl die Frage der effektiven Kontrolle der mit Exekutivbefugnissen ausgestatten Institutionen sowie die Frage der Gewährleistung parlamentarischer Politikgestaltungs- beziehungsweise Gesetzgebungsfunktionen. Es mag politisch nachvollziehbar sein, dass eine mehrheitlich aus Vertretern der Exekutive zusammengesetzte Autorengruppe Parlamente nur als notwendiges Übel und bestenfalls als Legitimationskulisse betrachtet. Politisch tragfähig ist dieses Konzept allerdings nur solange, wie sich stabile Mehrheiten in den Parlamenten der EU weitgehend loyal zu ihren Regierungen verhalten. Die anhaltende Zersplitterung der europäischen Parteienlandschaft deutet darauf hin, dass die von den fünf Präsidenten vorgenommene Verengung der Perspektive auf „sichere Mehrheiten“ in den Parlamenten und die daraus resultierende Verhandlungslogik der Parteiendemokratie zunehmend infrage gestellt werden. Parlamente sollten sich nicht mit „Teilhabe“ durch eloquent vorgetragene Kommentare der exekutiv-technokratisch getriebenen Politik begnügen. Stattdessen müssen sie auf nationaler, europäischer und interparlamentarischer Ebene nach Verfahren Ausschau halten, die verbindliche Entscheidungen ausnahmslos und unmittelbar auf sie selbst zurückführen.