Steilvorlage für die Populisten
Dem Vorschlag von René Cuperus, eine breiter angelegte Debatte über das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten einzuleiten, ist gerade im Vorfeld der anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament wenig entgegenzuhalten. Allerdings widerspreche ich entschieden seiner Analyse und der daraus abgeleiteten Verengung des Reformdialogs auf Zuständigkeitsfragen. Denn bereits seine Behauptung, dass „die Mehrheit der Wähler die Idee eines mehr denn je zentralisierten und vereinten Einheitseuropa nach dem Prinzip one size fits all nicht unterstützt“, unterstellt eine Integrationstendenz, für die es keine empirische Grundlage gibt. Wohl aber steht sie im Einklang mit Behauptungen mitgliedsstaatlicher Politik jenseits des populistischen Lagers, wonach „Brüssel“ – gemeint ist damit meistens die Kommission – überregelt, überfordert und zentralisiert. Die damit einhergehende Antagonisierung von Mitgliedsstaaten und EU hat zwei Ursachen, die hier näher beleuchtet werden sollen.
Erstens unterliegen Mitgliedsstaaten im EU-Entscheidungssystem gegen qualifizierte Mehrheiten im Ministerrat. Die hierbei anzuwendenden Verfahrensregeln, einschließlich der mit dem Lissabonner Vertrag geschaffenen Obstruktionsrechte für die nationalen Parlamente, sind nicht „von oben“ diktiert, sondern von allen Mitgliedsstaaten über den Akt der Vertragsratifikation autorisiert. Nun spricht nichts dagegen, dass staatliche Regierungsvertreter ihre im Ministerrat unterlegene Minderheitsmeinung nach außen tragen. Insofern sind Übungen wie die niederländische „Subsidiarity Review“ eine Möglichkeit, Positionsbestimmungen zur funktionalen Reichweite und Eingriffstiefe europäischen Rechts offen zu artikulieren und gegebenenfalls zu überprüfen.
Der Mythos vom Brüsseler Wasserkopf
Wenig nachvollziehbar ist aber, warum Teile der unterlegenen Minderheit vorschnell den Hammer auspacken und auf „Brüssel“ beziehungsweise die Kommission einschlagen. Denn im Falle der Mehrheitsentscheidung diktiert nicht die Kommission den Gesetzgebungsertrag, sondern eine übergroße, qualifizierte Mehrheit der mitgliedsstaatlichen Regierungen, oftmals im Verbund mit einer Mehrheit des Europäischen Parlaments. Die Kommission autorisiert nur insoweit Verordnungen oder Richtlinien, wie sie hierzu durch Ministerrat und Parlament im so genannten „Grundakt“ explizit ermächtigt wird. Und selbst im Fall der delegierten Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte liegt die Kommission an der Kette der Mitgliedsstaaten und agiert unter dem Kontroll- und Rückrufvorbehalt des Europäischen Parlaments und des Rates. Der Brüsseler „Wasserkopf“ besteht also nicht aus der Kommission. Der Ministerrat, die Mitgliedsstaaten und das Europäische Parlament sitzen nicht nur im gleichen Boot, sondern bestimmen gegenüber der Kommission über Richtung und Schlagzahl. Diese führt als Maschinenraum „nur“ aus!
Gewiss haben viele ein anderes Bild von der EU. Schuld daran ist die Vermarktungsstrategie des Binnenmarktprogramms, die bis heute ein Zerrbild der Kommission als nichtlegitimierter Exekutivbürokratie nährt, weil der maßgebliche Impuls zum Binnenmarkt in einem Weißbuch der Kommission gesehen wird. Dass dieses auf nahezu gleichlautende Papiere des European Roundtable of Industrialists unter Führung der Firmenchefs von Philips, Volvo und anderen zurückgeht, haben Kommission und Mitgliedsstaaten verschwiegen, um das Narrativ der erfolgreichen Wirtschaftsintegration zu pflegen.
Zweitens agieren die Mitgliedsstaaten im EU-System kontinuierlich im Schatten „nicht-intendierter Konsequenzen“ ihrer gefällten Beschlüsse. Politische Entscheidungen entfalten unter bestimmten Bedingungen Eigendynamiken in der Verwirklichung, die seitens der autorisierenden Akteure nicht oder nur unzureichend kalkuliert werden können. Ein Beispiel: Die Normierung des Krümmungsgrades von Gurken oder der Qualitätsmerkmale von Tomaten geht auf gewinnmaximierende Bestrebungen der Verpackungsindustrie und des Güterverkehrssektors zurück, die ihrerseits in der Lage waren, die Kommission und eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten von der Notwendigkeit entsprechender Harmonisierungsvorschriften zu überzeugen.
Im Zuge des ersten Binnenmarktprogramms (1986 bis 1992) wurde eine Vielzahl vergleichbarer Verordnungen und Richtlinien erlassen, um im Zeichen der massiven Deregulierung Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Marktakteuren zu reduzieren und Verbraucherinteressen zu schützen. Das zentrale Element dieser Grundverordnungen ist die Delegation von Umsetzungskompetenzen an die Kommission, die gemeinsam mit mitgliedsstaatlichen Akteuren und unter Aufsicht des Europäischen Parlaments Anpassungen im Hinblick auf Produktspezifikationen, Maße, Grenzwerte und Güteklassen vornehmen soll. Entsprechend konkret und detailliert sind die jeweiligen Umsetzungsakte.
Was Brüssel beschließt, hat meist auch den Haag unterstützt
Die unmittelbar betroffenen „Rechtsanwender“ werden folglich über die Zeit mit „Vorgaben aus Brüssel“ konfrontiert, die im Einzelfall zwar nachvollziehbar sind, aus Sicht der das „große Ganze“ im Blick behaltenden Politik aber als weitgehend irrelevant betrachtet werden. Wenn dann der Boulevard aufschreit und sich über die spezifische Regelungstiefe einer Umsetzungsnorm mokiert, erliegt die um Wählergunst bemühte „Großpolitik“ gern der Versuchung, sich zum Sachwalter der „einfachen Bürger“ gegen den „Wasserkopf Brüssel“ aufzuschwingen und gegen die Kommission loszutreten.
Im Endeffekt fallen sich Regierungen dabei selbst in den Rücken. Allein der Faktor Zeit – die zwischen Grund- und Umsetzungsakt vergeht – erlaubt es ihnen, bereitwillig in die Antagonisierungsfalle zu tappen. Ehrliche Politik müsste eingestehen, dass sich das von Populisten gern zugespitzte Detail immer – ausnahmslos! – auf Akte zurückführen lässt, hinter denen zumindest eine breite Mehrheit der Staaten steht. Das große Manko der „Subsidiarity Review“ besteht somit darin, dass die niederländische Regierung keine Stellung zur eigenen Normverantwortung bezieht und stattdessen so tut, als sei sie das Opfer einer wild gewordenen Brüsseler Bürokratie, die quasi als 29. EU-Staat Zentralisierungszumutungen erlässt. Eine aufrichtige Normüberprüfung müsste in jedem Einzelfall wenigstens anzeigen, wie sich die um Streichung und Renationalisierung bemühten Akteure ursprünglich zu dem betreffenden Akt verhalten haben und warum sich ihre Position dazu geändert hat. Der Verweis auf „die Populisten“ hilft hier wenig, da es in der Regel Vertreter des politischen Mainstreams sind, die der populistischen EU-Kritik den Boden bereiten.
Die Subsidiarität lebt und gedeiht
Das seit der Kommission Santer von 1994 bis 1999 angestimmte Mantra einer Europäischen Union „mit Maß“ (ursprünglich: „less but better regulation“) hat den Bürgern mittlerweile eine EU beschert, die sich in immer mehr fadenscheinigen Politik-ansagen der Staats- und Regierungschefs zur Kompensation ausbleibender, rechtsverbindlicher Gesetzgebung verliert. Im Mittelpunkt dieser Vorgehensweise steht der Europäische Rat. In ihrem Zentralorgan (die Architektur des neuen Europäischen Ratsgebäudes hat Ähnlichkeiten mit Darth Vaders Todesstern) verlesen die Staats- und Regierungschefs großspurige Ankündigungen und feiern die Verabschiedung immer konkreterer, operativer Politikprogramme.
Geht die Kommission diesen Aufträgen der Chefs sodann nach und kommt auch noch auf den Gedanken, ihrer Prüfung einen veritablen Vorschlag für eine gesetzgeberische Maßnahme anzuhängen, fällt der Startschuss für ein Gesetzgebungsverfahren, an dem die Mitgliedsstaaten über den Ministerrat und das um ihn herum aufgezogene Netzwerk mitgliedsstaatlicher Beratungsgremien immer und in allen Stadien beteiligt sind. Bei etwa 40 Prozent aller Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse autorisieren die Minister den finalen Rechtsakt alleine, in den anderen Fällen gemeinsam mit dem Europäischen Parlament.
Dem Subsidiaritätsprinzip tragen hierbei alle beteiligten Organe Rechnung: Die Kommission tut das, indem sie ihre Vorschläge und besonders die gewählte Rechtsgrundlage entsprechend begründet und den nationalen Parlamenten in jedem Einzelfall – und nicht erst nach Erreichen der vertraglich vorgeschriebenen Schwelle einer qualifizierten Minderheit der Parlamente – Rede und Antwort steht, wenn diese Bedenken entlang ihrer Interpretation des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips geltend machen. Das Europäische Parlament trägt dem Subsidiaritätsprinzip Rechnung, indem alle nationalparlamentarischen Eingaben zu einem Gesetzgebungsvorschlag bereits auf der Ebene der Fachausschüsse begutachtet werden. Und auch der Ministerrat prüft bei der Abstimmung etwaiger Änderungen des Kommissionsvorschlags sowohl diesen als auch die bis dahin eingegangenen Änderungen des Parlaments entlang des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips. Hinzu kommen eigenständige Prüfungen seitens des Ausschusses der Regionen und Unmengen an Lobbyinitiativen, die ihre Befürwortung, Änderung oder Ablehnung einer „Idee“ des Europäischen Rates oder eines Vorschlags der Kommission im Rahmen ihrer Interpretation des Subsidiaritätsprinzips begründen.
In Anbetracht dieser Vielzahl an aufeinander bezogenen Überprüfungen ist es vermessen, der EU-Kommission eine Regelungswut zu unterstellen, die diese nie abschließend zu verantworten hätte und die spätestens seit den Hochzeiten der Implementierung des Binnenmarktprogramms längst der Vergangenheit angehört. Europäische Sozialpolitik findet seit geraumer Zeit nicht mehr statt, weil entsprechende Initiativen bereits vor der förmlichen Veröffentlichung verhindert werden. Zugleich bemühen sich Industrie, Banken und exportabhängige Mitgliedsstaaten um einen erneuten, großangelegten Deregulierungsimpuls über das so genannte Transatlantische Freihandels- und Investitionsabkommen.
Nationale Politik greift sich gleichwohl gerne Einzelaspekte der wenigen europäischen Verordnungen aus dem Bereich der positiven, marktkontrollierenden Integration heraus, um dann aus Halb- und Unwahrheiten über „High-Heels-Verbote“, „Duschkopfharmonisierungen“ und „Sozialversicherungsharmonisierungen“ ein angebliches EU-Politikvollprogramm abzuleiten, das es entweder nicht gibt oder das auf die Initiative einzelner Regierungen, Unternehmerverbände oder sozialpartnerschaftlich ausgehandelter Arbeitsschutzvereinbarungen zurückzuführen ist.
An den Haaren herbeigezogene Einzelbeispiele
Insofern ist die Idee der „Subsidiarity Review“ äußerst fahrlässig, denn mit teilweise an den Haaren herbeigezogenen Einzelbeispielen machen demokratische Parteien und Regierungen, die sich selbst „proeuropäisch“ geben, Argumente eines „Wir-gegen-EU-Europa“ hoffähig, die populistische und explizit europakritische Parteien nur noch aufgreifen und zu ihren Gunsten zuspitzen müssen. So geht das angebliche Verbot des Tragens hochhackiger Schuhe in Friseurbetrieben auf eine im April 2012 von den Sozialpartnern des Friseurhandwerks in der EU getroffene Vereinbarung zurück, mit der diese auf der Grundlage eines vertraglich explizit vorgesehenen Verfahrens (Artikel 155 AEUV) der Kommission eine Empfehlung für eine Harmonisierung der Arbeitsschutzvorschriften vorgelegt haben.
Gegen derartige Vorschriften sollte gerade aus progressiv-sozialdemokratischer Sicht wenig einzuwenden sein, da es um den Arbeitsschutz von Personen geht, die in prekären Verhältnissen beschäftigt sind oder zur Scheinselbständigkeit gezwungen werden. Nicht die selbsterklärten Anti-EU-Populisten, sondern etablierte Vertreter deutscher und europäischer Politik wie Edmund Stoiber verkürzen diese Vereinbarung dann aber auf das Tragen „rutschfester Schuhe“. Zentrale Botschaft dieser Übung: Zack – und wieder hat der Brüsseler Leviathan zugeschlagen! Das Populisten derartige sexistisch-antieuropäische Verbrämungen aufgreifen, entspricht ihrer eigenen Wahllogik. Fahrlässig ist, dass der Mainstream die Steilvorlage liefert und in diesem Beispiel auch noch ein von allen EU-Vertragsparteien etabliertes Entscheidungsverfahren der sozialpartnerschaftlichen Zusammenarbeit komplett torpediert.
Die Steilvorlagen spiegeln darüber hinaus einen unterschwelligen Zynismus etablierter Regierungsparteien wieder, der sich gerade im Hinblick auf die anstehenden Europawahlen „auszahlt“. Denn je mehr und je stärker populistische Parteien in das Europäische Parlament gewählt werden, desto schwieriger wird es für die etablierten, weitgehend „proeuropäischen“ Fraktionen, große und überzeugende Mehrheiten für Gesetzgebungsakte zu generieren, die den Ministerrat in den folgenden Verhandlungen zu Kompromissen mit dem Parlament zwingen können. Anders gewendet: Wer als rational handelnder Regierungsakteur das Europäische Parlament nachhaltig schwächen will, hat ein Interesse an seiner Zersplitterung.
Ich unterstelle der niederländischen Regierung nicht, dass sie mit ihrer „Subsidiarity Review“ diese Absicht explizit verfolgt. Aber es ist festzustellen, dass sich der Begründungskomplex der Review und das zusammenhanglose Aneinanderreihen von geltenden Gesetzgebungsakten, nichtlegislativen Mitteilungen und Grünbüchern der Kommission, kombiniert mit Forderungen nach einer effektiven Kürzung der Beamtengehälter, eher als Argumentationsschablone für Populisten eignet statt als Impuls für eine europäische Debatte über das Selbstverständnis der Mitgliedsstaaten in der EU.