Law and Order
I m Berliner „Admiralspalast“ stellte der Philosoph Richard David Precht dem SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier folgende Frage: „Können Sie sich eine Welt vorstellen, in der die Banken keinen Gewinn machen dürfen?“ Der konnte sich so etwas partout nicht vorstellen und beschied dem vollen Saal: „Es geht doch nicht darum, ob ich mir das vorstellen kann.“ Vielleicht geht es aber gerade darum: um das politisch Vorstellbare um Visionen. Nach der Veranstaltung musste ein Genosse enttäuschte Zuhörer besänftigen: „Frank-Walter ist eben ein Bohrer dicker Bretter.“
Tja, Max Weber klingt immer gut. Doch müsste seine Metapher in diesem Fall zu Ende gedacht werden: Was will der Pragmatiker Steinmeier aus seinen dicken Brettern zimmern? Ein Büchergestell von Ikea kann es nicht sein. Da sind alle notwendigen Löcher bereits vorgebohrt. Vielleicht eine ganze Gesellschaft? Für einen Sozialdemokraten wäre es das Naheliegende, sind die Genossen doch mit eben diesem Ziel in die Geschichte eingetreten.
Aber was für eine Gesellschaft soll es denn bitte sein? Natürlich eine andere als die real existierende, eine bessere selbstredend. Nur, wie sähe die aus? Sozialistisch kann sie nicht mehr sein. Der Traum endete als Alptraum. Wenn es aber Sozialismus nicht ist, und auch nicht dessen aufgehübschte Version des demokratischen Sozialismus – was wäre dann das Ziel?
Vielleicht hilft ein Blick in die Geschichte. Die historische Leistung der Sozialdemokraten, nicht nur der deutschen, war die Modernisierung der bürgerlichen Gesellschaft, man könnte provokativ auch sagen: des Kapitalismus. Ist ein moderner Kapitalismus, ist eine moderne Demokratie, ist ein moderner Rechtsstaat denkbar ohne die Kämpfe der Genossen um Libérté, Égalité, Fraternité? Lenin glaubte, die Französische Revolution zu vollenden. Soziale Demokraten – überall in Europa – haben sie mit der bürgerlichen Gesellschaft kompatibel gemacht. Die SPD will es nicht wahrhaben, aber es ist doch wahr: Sie steht für die bürgerliche Gesellschaft. Und das bedeutet auch: Die SPD ist eine durch und durch bürgerliche Partei. Weiß die Partei das? Und: Weiß diese bürgerliche Partei, dass die bürgerliche Gesellschaft zur Disposition steht, und zwar überall in Europa, auch in Deutschland?
Die Naturwissenschaftlerin Angela Merkel hat sich die Formel von der „marktkonformen Demokratie“ zurechtgelegt: „Wir werden Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist.“ Jens Weidmann, ihr Bundesbankpräsident, verdeutlicht es so: „Die Märkte müssen weiterhin die Richterfunktion zur Disziplinierung der südeuropäischen Länder ausüben.“ Also zur Disziplinierung von Demokratien! Nur der südeuropäischen? Natürlich nicht. Der Demokratien überhaupt!
Im gleichen Kontext sei noch der Politiker-Flüsterer Josef Ackermann zitiert, zehn Jahre lang Chef der Deutschen Bank: „Die Finanzmärkte sind – ungeachtet der Tatsache, dass auch sie irren können – die beste Schuldenbremse.“ Das wäre dann: die Oberhoheit der Märkte über die Budgethoheit der Parlamente. Montesquieus drei Gewalten hat sich eine vierte hinzugesellt: die Finanzwirtschaft, in Deutschland an erster Stelle die Deutsche Bank. Im Grundgesetz ist das global spekulierende Institut zwar nicht vorgesehen. De facto aber regiert es im Kanzleramt mit.
Die Bürger haben nicht Josef Ackermann gewählt
Oder, wie die Frankfurter Allgemeine schreibt: „Heute ist die internationale Kompetenz der Bank gefragt; ihre Vertreter erklären der Politik, unter anderem, die Zusammenhänge in der globalen Finanzwelt. Inwieweit die Bank daneben gesellschaftliche und allgemein politische Debatten begleitet oder sich lieber auf das eigene Gewerbe beschränken will, muss die Führung entscheiden.“ Im Klartext: Die Deutsche Bank nimmt die Politik an die Hand. Wie und wann, bestimmt nur sie selbst. Und der Bürger kann froh sein, dass die gerissenen Spekulanten den ahnungslosen Politikern die Finanzwelt erklären, was ja neuerdings nichts weniger bedeutet als die Welt an sich. Haben die Bürgerinnen und Bürger Josef Ackermann gewählt, oder Anshu Jain, als sie Angela Merkel wählten, als sie Gerhard Schröder wählten?
Die bürgerliche Ordnung, um die sich Generationen von Demokraten, allen voran Sozialdemokraten, so große Verdienste erworben haben, gerät aus den Fugen. Und daher braucht Deutschland wieder eine bürgerliche Partei! Deren Ziel muss sein: Die Renaissance der Bürgermacht, die Renaissance von Recht und Ordnung. Präzis gefasst in den vier Wörtern: „One man, one vote“.
Alles nur Theorie? Nein, der Ernstfall. Denn die finanzökonomischen Mächte, die gegenwärtig dabei sind, Demokratien, Gesellschaften und Menschen zu ruinieren, folgen der Lehre von Friedrich August von Hayek, dem herausragenden Verfechter des alles beherrschenden Marktes, des Primats der Wirtschaft, heute: der Finanzwirtschaft. Nach seiner Lehre ist Demokratie nichts weiter als „ein durch das Erpressungs- und Korruptionssystem der Politik hervorgebrachtes System“ – nichts als „ein Wortfetisch“.
Für von Hayek stellt auch das bürgerliche Prinzip „One man, one vote“ ein völlig verfehltes Recht dar: „Es kann vernünftigerweise argumentiert werden, dass den Idealen der Demokratie besser gedient wäre, wenn alle Staatsangestellten oder alle Empfänger von öffentlichen Unterstützungen vom Wahlrecht ausgeschlossen wären.“ Kein Wahlrecht für Beamte, kein Wahlrecht für Hartz-IV-Empfänger, kein Wahlrecht für Rentner? In der Neuen Zürcher Zeitung, vor allem in ihrem Wirtschaftsteil eine Art Osservatore Romano der neoliberalen Kirche, wird gerade ernsthaft darüber diskutiert, ob die Demokratie nach dem Grundsatz „One man, one vote“ in jedem Fall noch akzeptabel sei.
Ja, die bürgerliche Gesellschaft steht auf dem Spiel. Doch das Bewusstsein dieser Gefährdung ist schwach ausgeprägt. Die Berliner Republik, Zweimonatsblatt herzensbewegter Demokraten, widmete 2011 ein Heft dem Thema: „Demokratie jetzt“. Der Untertitel: „Zustand, Chancen und Gefährdungen einer Lebensform.“ Lebensform? Die Demokratie ist keine Lebensform. Sie ist eine Staatsform!
Lebensformen gibt es viele. In allen Geschmacksrichtungen. Demokratie dagegen bedeutet: ein Recht und eine Ordnung, festgeschrieben nach bürgerlichen Normen. Aber bezweifelt das jemand? Jeder Politiker jeder demokratischen Partei nickt dazu. Was kann da schon passieren?
Die Bürger allerdings sind nicht eingenickt, ganz im Gegenteil, sie wirken eher aufgeregt: Was soll denn ihr Gang zur Wahlurne, wo doch die Ackermänner auf keiner Liste stehen? Früher schimpften verdrossene Wähler: „Die da oben machen sowieso, was sie wollen.“ Heute müsste der Spruch lauten: „Die da oben machen sowieso, was andere wollen.“
Nieder mit dem »Parteienstaat«, her mit den Nichtparteien!
Springers Welt preist, was leider zum politischen business as usual zählt: „Der enge Kontakt zwischen Politikern, Bankmanagern und Unternehmern ist wichtiger denn je, gerade in Krisenphasen.“ Nach den Wahlen verschwinden die Politiker in der Kulisse – zum Techtelmechtel mit mächtigen Ungewählten, mit den Verursachern der Krise. Die Böcke werden zu Gärtnern berufen. So wird Politik erneut zum garstigen Lied der Deutschen.
Berlins Tagesspiegel widmete dem Thema kürzlich zwei volle Seiten: „Haben die Parteien eine Zukunft?“ Das Blatt hätte auch gleich fragen können: „Hat die Demokratie eine Zukunft?“ Denn was wäre die Demokratie ohne Parteien? Ein Eldorado der materiell Mächtigen. Ein System der Oligarchen, im Besitz von Politikern und Publizisten.
Für den verdrossenen Bürger ist die Frage nach dem Sinn der Parteien leider bereits die Antwort: Die Parteien sind das Problem, auf keinen Fall die Lösung. Also her mit der Nichtpartei! Überall in Europa wuchern wirkungsvolle populistische Bewegungen, die sich als Anti-Parteien in Szene setzen. Die classe politique ist ihr Feind. Sie waltet in Brüssel. Sie beherrscht die EU. Die Parteien-Demokratie erscheint den Populisten des Front National, der Lega Nord, der Goldenen Morgenröte, der Wahren Finnen, des Vlaams Blok als „ein durch das Erpressungs- und Korruptionssystem der Politik hervorgebrachtes System“, ganz so, wie Friedrich August von Hayek es lehrt. Die neoliberale Rechte hat im Kampf gegen die Demokratie endlich ihren politisch bewaffneten Arm entdeckt: die Rechtspopulisten.
Gottlob gibt es sie in Deutschland nicht. Noch nicht. Die Vergangenheit hemmt die Versuchung, dem „Parteienstaat“ populistisch zu Leibe zu rücken. Doch Populismus der sanften Art ist dennoch gerade „in“, unter anderem im Gewand der pubertär-anarchistischen Piratenpartei. Ist die Netz-Bewegung für die Demokratie unbedenklich? Immerhin fordert sie die Aufhebung eines bürgerlichen Ur-Rechts: des Rechts am geistigen Eigentum. Sie fordert damit die Aufhebung der rechtlich gesicherten Verfügung des Menschen über sein intellektuelles Selbst. Das wäre dann die Auslieferung des Individuums an Facebook und Google – und an wen auch immer, der sich in Zukunft des Netzes bemächtigt.
Wer schützt die Bürger vor Netzmacht und Finanzmacht? Wer schützt die bürgerliche Ordnung vor den Attacken aus dem rechtsfreien Raum? Wer stellt die bürgerliche Ordnung wieder her? Wer, wenn nicht der bürgerliche Staat mit seinen bürgerlichen Parteien? Doch Programm ist das für sie mitnichten. Relativismus ersetzt Rigorosität.
Und zwar nicht nur gegenüber der schönen und neuen und vor allem profitablen Welt von Finanzwirtschaft und Netzwirtschaft. Der Relativismus der bürgerlichen Werte grassiert auch gegenüber allem, was die Aura der Migration umweht: Den edlen Fremden aus armen Welten wird gehuldigt, als verkörperten sie, ganz nach Rousseau, eine unverdorbene Vergangenheit des verdorbenen westlichen Menschen. Plötzlich sind bürgerliche Rechte relativ, mit ehrfurchtsvollem Blick auf den Islam besonders die Frauenrechte. Der verwunderte Bürger kann sich dieses Eindrucks nicht erwehren: Was er für festgefügt hielt, ist ein relativer Zustand, eine „Lebensform“, die den Fremden ihre „Lebensform“ belässt, auch wenn sie das Grundgesetz ritzt, beugt, verachtet, zum Beispiel durch religiös begründete Frauenunterdrückung.
Ja, es fehlt der radikale Respekt für die Rechte, die das Bürgertum über Jahrhunderte hinweg erstritten hat – auch in Deutschland, wenngleich erst 1949 und mit Hilfe des westlichen Sieger. Radikaler Respekt vor Recht und Ordnung bedeutet Résistance für Recht und Ordnung bedeutet Renaissance von Recht und Ordnung.
Kein schlechtes Programm für eine bürgerliche Partei.