Lohnsubvention im Vergleich

Andere Länder haben schon Erfahrung mit Niedriglohnmodellen

Internet-Boom versus Dienstleistungswüste, Experten-Knappheit versus Jobverlust mangels Qualifikation: In Deutschland wie in allen reifen Industrienationen erzeugt die ökonomische Modernisierung eine ganze Reihe von Verwerfungen. Im Gefolge fortschreitender Internationalisierung, Wettbewerbsdruck und Spezialisierung der Unternehmen entsteht in Bereichen wie der Informations- und Kommunikationsbranche bereits ein Mangel an qualifiziertem Personal, während Arbeitsplätze für Geringqualifizierte rar bleiben und sogar tendenziell weiter verschwinden. Der Weg in die Dienstleistungsgesellschaft sollte einmal die Lösung der Beschäftigungsprobleme bringen. Aber es scheint keinen Automatismus zu geben. Vielmehr müssen die Potentiale der Dienstleistungsgesellschaft besonders im Bereich gering qualifizierter und entlohnter Arbeit gezielt entwickelt werden.

Deutschland gilt immer noch als Dienstleistungswüste schlechthin - und das nicht nur international sondern auch im eigenen Lande. Ungenutzte Beschäftigungspotenziale werden vor allem im Servicebereich vermutet, der in weiten Teilen ein Niedriglohnbereich ist. Die dazu gehörende Debatte - seit zehn, fünfzehn Jahren - lautet: Wir haben Arbeit genug, aber nicht für 50,50 Mark, sondern für 8,30 Mark. Die Kernfrage ist deshalb, ob eine Reform des Niedriglohnbereichs die hier vermuteten Beschäftigungspotenziale erschließen kann. Arbeit soll sich auch im Niedriglohnbereich lohnen. Wie können wir den Anreiz zur Arbeitsaufnahme erhöhen? Und wie kann das Phänomen der "working poor" vermieden werden? Die Einkünfte sollen über dem Sozialhilfeniveau liegen und einen einfachen Lebensstandard ermöglichen. Gegenüber dem Bezug von Sozial- und Arbeitslosenhilfe soll ein zusätzlicher Arbeitsanreiz geboten werden.

Zwei Grundmodelle sind diesem Ziel verpflichtet: Lohnsubventionierung und negative Einkommenssteuer. Während sich letztere am Einkommen beziehungsweise Haushaltseinkommen orientiert, beziehen sich Lohnsubventionen auf das Beschäftigungsverhältnis. Eine ihrer Varianten ist die deutliche Verringerung der Sozialversicherungsbeiträge - zur Senkung der Arbeitskosten und gleichzeitig zur Erhöhung der Nettolöhne. Dadurch sollen schon kurzfristig Anreize entstehen: sowohl zur Schaffung neuer Arbeitsplätze als auch zur Aufnahme einer niedrig bezahlten Tätigkeit.

In Frankreich gibt es bereits ein umfangreiches Programm zur Verringerung der Arbeitgeberbeiträge. Die Ermäßigung beträgt für Gehälter ab dem gesetzlichen Mindestlohn 18 Prozent des Gehalts und geht zwischen Mindestlohn und 130 Prozent des Mindestlohnes kontinuierlich auf Null zurück. Der maximale Zuschuss beträgt damit 360 Mark pro Arbeitsplatz und Monat. Dadurch dass nur bei den Arbeitskosten angesetzt wird, entstehen kurzfristig zwar Anreize zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Unmittelbare Lohnanreize zur Aufnahme neuer Beschäftigung werden aber nicht erzeugt. Immerhin kann mittelfristig durch die zusätzliche Arbeitsnachfrage Lohndruck nach oben entstehen, der dann auch Anreize für potenzielle Arbeitnehmer zur Folge hätte.

In den Niederlanden gibt es ein ähnliches Programm. Die monatliche Förderung liegt bei knapp 300 Mark. Rutscht die Entlohnung eines Arbeitnehmers über die obere Einkommensgrenze, wird die Förderung deutlich reduziert und befristet. Systembedingt entsteht für die Arbeitgeber bei diesem Modell der Anreiz, möglichst viele Arbeitsplätze (zunächst) niedriger als mit dem vorgegebenen Mindestlohn zu dotieren, um von der Förderung zu profitieren - ein kritischer Effekt.

Beschäftigungsbezogene Einkommenshilfen bzw. Steuergutschriften, die eine Variante der Negativen Einkommenssteuer darstellen, werden dagegen in Großbritannien und den USA praktiziert. Das Gehalt von Niedriglohnempfängern mit Familie wird in Großbritannien durch den sog. "Family Credit" aufgestockt. Der Zuschuss richtet sich nach dem Verdienst des Leistungsempfängers und seines Partners, nach der Anzahl der Kinder und der Höhe der Ersparnisse. Die Einkommensgrenze für den vollen Zuschuss liegt mit 239 Mark sehr niedrig. Für jedes Pfund Einkommen, das die Einkommensgrenze überschreitet, wird der "Family Credit" um 70 Pence gekürzt. Nach einer Berechnung des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln läuft die Förderung damit schon bei einem Brutto-Stundenlohn von rund 15 Mark aus.

In den USA setzt der "Earned Income Tax Credit" als Steuergutschrift allein auf der Seite der Arbeitnehmer an. Auch hier sind für die Höhe der Hilfe Verdienst, Familienstand und Kinderzahl entscheidend. Übersteigen die Förderbeträge die Lohnsteuern, wird der über die zurückerstattete Lohnsteuer hinausgehende Betrag als Einkommenssubvention zusätzlich ausgezahlt. Die maximale Förderung pro Person aus den Beihilfeprogrammen in Großbritannien und den USA ist deutlich höher als die Verringerung der Sozialversicherungsbeiträge pro Arbeitsplatz in Frankreich oder den Niederlanden. Der Steuerkredit in den USA ist aber in erster Linie ein sozialpolitisches Instrument. Aufgrund der äußerst niedrigen Lohnersatzleistungen sind die Arbeitsanreize auch ohne Beihilfen recht hoch.

Die OECD hat auf der Basis verschiedener empirischer Studien versucht, die Zahl der durch die Maßnahmen geschaffenen beziehungsweise erhaltenen Arbeitsplätze festzustellen. Ergebnis: Der Beschäftigungszuwachs ist im Verhältnis zu den aufgewendeten staatlichen Mitteln nicht groß. Gleichzeitig ist die Missbrauchsanfälligkeit unübersehbar.

Wenn es um die Erschließung neuer Beschäftigungspotenziale geht, legen die Erfahrungen - bei allen strukturellen Unterschieden - also eine vorsichtige Haltung nahe. Eine vollständige Übertragung auf Deutschland verbietet sich ohnehin. Das hohe Niveau unserer sozialen Mindestsicherung würde beispielsweise die US-Lösung nur zum Preis hoher Subventionen erlauben. Kritisch ist vor allem das Missverhältnis von Aufwand und Ertrag: In der Regel stehen begrenzten Beschäftigungszuwächsen hohe staatliche Subventionen pro Arbeitsplatz gegenüber. Dies trifft sowohl für die Modelle zu, die die Sozialabgaben der Unternehmen senken, als auch für die Einkommenshilfen. Die Erwartung, dass es durch sogenannte Kombilohnmodelle zu einer dauerhaften Reduzierung der Arbeitslosigkeit kommt, hat sich bislang jedenfalls nirgends erfüllt.

Immerhin kann der Einsatz solcher Instrumente in Teilbereichen hilfreich sein, solange man sich darüber einig ist, dass jede Art von Arbeit, auch Arbeit im Niedriglohnbereich, Sinn stiftet. Der Wert einer geregelten Arbeitszeit, von Pünktlichkeit oder anderen im Berufsalltag eingeübten "Sekundärtugenden" ist nicht zu unterschätzen. Menschen, die zum Teil jahrelang keiner geregelten Tätigkeit nachgehen konnten, könnten wieder an die Anforderungen der Arbeitswelt gewöhnt werden.

Kombilohnmodelle haben zudem den Vorteil, dass Langzeitarbeitslose einer Tätigkeit im ersten Arbeitsmarkt nachgehen können. Resultat wäre ein höheres Maß an gesellschaftlicher Normalität - und ein Stück mehr Gerechtigkeit im Arbeitsmarkt.


Die Frage, ob durch die Entwicklung des Dienstleistungssektors in Deutschland eine dauerhafte Verringerung der Arbeitslosigkeit erreicht werden kann, bleibt zentral. Die Deutsche Botschaft in Washington hat die quantitative Entwicklung der Arbeitsplätze im US-Dienstleistungssektor untersucht und kommt zu einem bemerkenswerten Ergebnis: Ausgehend von einem Gesamtzuwachs an Arbeitsplätzen zwischen 1991 und 1998 von 12,6 Millionen (+ 22,5 Prozent) ist in der untersten Lohngruppe der höchste absolute Beschäftigungszuwachs zu verzeichnen (+ 5,5 Millionen Arbeitsplätze). Die relativ höchste Zuwachsrate an neuen Arbeitsplätzen (26 Prozent) wurde aber bei den höher qualifizierten und besser bezahlten Positionen erzielt. Es ist nicht abschließend geklärt, ob die Förderung eines Niedriglohnsegments neue Arbeitsplätze auch in höher entlohnten Bereichen begründet. Aber die Studie zeigt immerhin, dass es zu einfach wäre, den Dienstleistungssektor pauschal als "low-wage"- und das produzierende Gewerbe als "high-wage"-Sektor zu bezeichnen. Im Dienstleistungsbereich sind nicht nur Wäschereien, Übernachtungsbetriebe, Haushaltsdienste, Kindererziehung und ähnliches zusammengefasst. Es gehören ebenso Computerprogrammierung, Werbung, Produktion von Filmen und Forschung dazu. Das sind hoch bezahlte Dienste, die zum Teil weit über der Entlohnung der Industrie liegen, mit sehr guten Arbeitsbedingungen. Aber auch die Schlussfolgerung, zu der die Studie letztlich kommt, bleibt bedenkenswert: Schließlich würden sich in den USA doch die sogenannten bad jobs zu Lasten der good jobs langfristig durchsetzten.

Es gibt zahlreiche strukturelle Unterschiede zwischen der amerikanischen und der deutschen Wirtschaft. Unter anderem war das hohe Wirtschaftswachstum in den USA in erster Linie bedingt durch die starke Konsumorientierung, nicht durch eine hohe Investitions- und Innovationsquote. Ein konsumorientiertes Wachstum der Wirtschaft ist beschäftigungsintensiv. Da die amerikanische Produktivität weit hinter dem Produktionswachstum zurückbleibt, musste die Zahl der Erwerbstätigen stark ausgedehnt werden (+ 7,9 Prozent), um dieses Wachstum bewältigen zu können.

Die amerikanische Wirtschaft bringt viele Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor (in absoluten Zahlen betrachtet) hervor, die nicht nur sehr gering entlohnt werden, sondern wegen der fehlenden Sozialgesetzgebung auch schlecht oder gar nicht sozial abgesichert sind. Das hat eine sehr ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung zur Folge. Trotz der höchsten Beschäftigungsquote seit 29 Jahren sank die Armut in den USA nur geringfügig. Heute lebt das ärmste Fünftel der Haushalte von durchschnittlich 8 800 Dollar im Jahr - 1977 waren es noch 10 000 Dollar. Diese Schere wird noch weiter auseinander gehen. Ein direkter Zusammenhang zwischen einem absolut am stärksten wachsenden Niedriglohnsektor, der in den USA vor allem im Dienstleistungsbereich angesiedelt ist, und dem gleichzeitigen relativ höchsten Wachstum der gut bezahlten Arbeitsplätze ist nicht ersichtlich. Als Ergebnis der Studie bleibt festzuhalten, dass das starke Wachstum in beiden Lohngruppen eher auf die fehlenden Marktzugangsbeschränkungen und auf die starke Konsumorientierung in der amerikanischen Wirtschaft zurückzuführen ist.

Das Wachstumspotenzial der Dienstleistungsbranche in Deutschland ist bekannt. Wir müssen uns dieses Potenzial zunutze machen für mehr Arbeitsplätze sowohl in den oberen als auch in den unteren Lohngruppen. Die Schere zwischen Arm und Reich darf sich durch ein solches Wachstum nicht weiter öffnen. Die Angst, dass dies durch eine Stärkung des Niedriglohnsektors geschehen könnte, ist in Deutschland unbegründet. Entwicklungen wie in den USA können bei uns schon wegen unserer Bindung an das Sozialstaatsprinzip und an die Tarifautonomie nicht auftreten. Die große Angst in der SPD vor einer Ausdehnung der untersten Lohngruppen - vor allem Kombilohnmodelle stehen im Verdacht, die Ausdehnung des Niedriglohnbereichs zu fördern - ist nicht berechtigt. Der Einsatz von Kombilöhnen ist allenfalls in eng umrissenen Bereichen als sozialpolitisches, nicht aber als wirtschaftspolitisches Instrument sinnvoll.

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