Maschine kaputt?
Zombieunternehmen und Banken mit faulen Krediten in den Bilanzen, abschmierendes Wirtschaftswachstum, ein dramatischer Rückgang der Importe und ein Exportboom, der an seine Grenzen stößt – China ist nicht das einzige Land unter den aufstrebenden kapitalistischen Volkswirtschaften, das zunehmend ins Stolpern gerät. All dies wäre vielleicht gar nicht so schlimm – die Umstellung von der „nachholenden Modernisierung“ durch Exportwachstum hin zu einer Ökonomie, die vom Binnenkonsum lebt, muss genauso wenig eine Katastrophe sein wie eine gewisse Normalisierung der Wachstumsraten. Die Krisentendenzen in China sorgen aber deshalb für Panik, weil kaum jemand weiß, wie man den globalen Kapitalismus noch aus seiner Krisenphase bringen soll. Da kann man weitere Hiobsbotschaften nicht gebrauchen.
Brasiliens »Wunder« ist zu Ende
In Brasilien hat die Wirtschaftskrise derweil dramatische Ausmaße angenommen. Die Industrieproduktion ist im vergangenen Jahr um rund acht Prozent geschrumpft. Aus der wirtschaftlichen Krise hat sich mittlerweile eine politische Krise entwickelt. Die konservativen Eliten sehen ihre Chance gekommen, mit der linken Arbeiterpartei PT abzurechnen – mit Präsidentin Dilma Rousseff und ihrem charismatischen Amtsvorgänger Lula da Silva. Brasiliens demokratisch-sozialistisches „Wunder“ ist zu Ende. Noch vor kurzem unvorstellbar, steckt Brasilien heute in einer handfesten Demokratiekrise.
Das sind nur zwei Schlaglichter. Die Hoffnung, die BRIC-Staaten könnten den trudelnden globalen Kapitalismus wieder in Schwung bringen, erweist sich als trügerisch. Es ist auch nicht sonderlich überraschend: Wenn in den entwickelten Ländern die Konsumnachfrage zusammenbricht, sind logischerweise auch jene aufstrebenden Länder betroffen, deren Wachstum vor allem auf Exporten basiert.
All dies ist uns bisher nicht richtig aufgefallen, weil wir hier in Europa mit unseren eigenen Krisen beschäftigt sind. Diese sind jedoch ihrerseits lediglich Erscheinungsformen der globalen Turbulenzen: auf der einen Seite die Wirtschaftskrise der Eurozone, auf der anderen Seite die Kriege an der Peripherie und die damit verbundenen Flüchtlingsströme.
Viel spricht dafür, dass der globale Kapitalismus in einer viel tieferen Krise steckt, als die allermeisten wahrhaben wollen. In den vergangenen acht Jahren, die auf den Beinahe-Crash des Weltfinanzsystems folgten (und den daraus resultierenden Konjunktureinbrüchen), erlebten wir eine Wiederauflage ökonomischer Kontroversen, die manchmal wie Schattenboxen wirkten.
Die Anhänger der wirtschaftsliberalen Strömung setzten auf eine flächen-deckende Austeritätspolitik und das Mantra von der „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit“. Weitere Nachfrageeinbrüche waren die Folge, denn diese „Idee“ fußt auf dem Irrglauben, dass sich das verordnete Leiden auf irgendeine mysteriöse und karthartische Weise in neue Prosperität übersetzen würde – eine Entwicklung, der man in etwa so häufig begegnet wie dem Yeti.
Die Anhänger der keynesianischen oder sozialreformerisch orientierten Kriseninterpretation sind da natürlich deutlich näher an der Realität. Ihre Kritik lautet in etwa, dass eine falsche Politik – die Deregulierung der Märkte, die Entfesselung des Finanzsystems, die Verschlankung des Staates und das skandalöse Wachstum der Ungleichheit – ursächlich für die Destabilisierung des Systems ist. Dass also, knapp gesagt, seit 30 Jahren eine falsche Politik betrieben wird und sich auch seit Ausbruch der Finanzkrise daran nichts geändert habe. Das System könne aber stabilisiert werden, wenn nur die richtige Politik gemacht würde.
Beide Interpretationen gehen also von der impliziten Überzeugung aus, dass die Maschine wieder flott gemacht werden könne – und zwar mit der „richtigen Politik“. Daneben gibt es noch die Anhänger des „Policy Mix“, die meinen,
Was aber, wenn das Problem genau darin besteht, dass die Maschine nicht mehr so leicht (oder gar nicht mehr) flott zu bekommen ist?
Die Ära der säkularen Stagnation
Der amerikanische Ökonom Robert Brenner hat eine solche Entwicklung schon vor zwanzig Jahren in seinem Buch The Economics of Global Turbulence konstatiert und eine krisenhafte Zukunft vorausgesagt. Brenner war es, der den Begriff der „säkularen Stagnation“, also einer langandauernden Stagnation, prägte – ein Wort, das mittlerweile auch unter Mainstream-Ökonomen in aller Munde ist.
Der Charme von Brenners Analyse liegt darin, dass sie das Ende des Nachkriegsbooms und den Beginn des langsamen Abstiegs seit den siebziger Jahren aus endogenen Tendenzen, also logischen inneren Dynamiken des Kapitalismus erklärt. Und damit liegt der Schluss nahe, dass sich die Krisentendenzen nicht einfach durch eine andere Politik aus der Welt schaffen lassen, ganz einfach weil ein entwickelter Kapitalismus sowohl aus technologischen als auch ökonomischen Gründen an Grenzen stößt, die hohe Wachstumsraten und Produktivitätszuwächse nicht mehr zulassen.
Als Reaktion auf die schwindenden Profitmöglichkeiten durchschnittlicher Unternehmen starteten die Kapitalverbände mithilfe verbündeter Regierungen in den siebziger und achtziger Jahren Angriffe auf Arbeiterrechte und den Wohlfahrtsstaat. Dies hatte zur Folge, dass die Einkommen normaler Leute sanken, während das Problem verschärfter Konkurrenz und ergo schwindender Profitmöglichkeiten aber mitnichten gelöst wurde, da die Konsumnachfrage weiter zurückging. Jede Antwort auf die Krise verschärft sie wiederum.
In einer solchen Situation ist völlig klar, dass sich die Finanzmärkte aufblasen und die Finanzinstitutionen zu den bestimmenden Playern des globalen Kapitalismus werden. Aufgeblähte Finanzmärkte wiederum begünstigen jene intrinsischen Instabilitäten, die bedeutende Ökonomen wie Hyman Minsky analysiert haben. Je mehr an den Märkten gezockt wird, desto mehr steht das Gesamtsystem auf Messers Schneide.
Warum nimmt die Verschuldung so zu?
Wenn wir die vergangenen 20 Jahre einigermaßen nüchtern betrachten, müssen wir feststellen, dass es eine schier gigantische Kreditexplosion gab, das Wirtschaftswachstum aber vergleichsweise mager ausfiel. Die allgemeine ökonomische Lehre nimmt an, dass bei einer derartigen Kreditexplosion das Wachstum erheblich zunehmen würde. Sie würde möglicherweise kritisch anmerken, dass ein solches Wachstum nicht nachhaltig sei, dass das Kapital in falsche Kanäle geleitet würde, aber sie würde fest davon überzeugt sein, dass mit einer Kreditausweitung dieser Dimension erhebliches Wachstum generiert würde. Aber das ist ja nicht geschehen. Das Kreditvolumen wächst, aber das Wachstum schwächelt – und das nicht erst seit gestern.
Eines der am wenigsten beachteten, aber das möglicherweise bedeutendste Krisensymptom ist der allgemeine Verschuldungsgrad kapitalistischer Volkswirtschaften, also die summierte Verschuldung aller Wirtschaftssubjekte in einer Volkswirtschaft: die Verschuldung des Staates, der Unternehmen und der privaten Haushalte zusammengenommen. Die allermeisten Volkswirtschaften weisen heute einen Verschuldungsgrad von 300 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts auf, oft sogar von 400 Prozent. Wie soll man von diesem Verschuldungsgrad wieder herunterkommen, mit einem bestenfalls Mini-Wachstum? Wie sollen die damit verbundenen Zahlungsverpflichtungen jemals finanziert werden?
Kann man sich vorstellen, dass der Kapitalismus ein Kaputtalismus ist, also schon das Kainsmal des Niedergangs auf der Stirn trägt? „Das Bild, das ich vom Ende des Kapitalismus habe – ein Ende, von dem ich glaube, dass wir mittendrin stecken –, ist das von einem Gesellschaftssystem im chronischen Verfall“, diagnostizierte bereits vor zwei Jahren der Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck.
Die Symptome dieses Verfalls erleben wir bereits jetzt: eine permanente Quasi-Stagnation mit allenfalls Mini-Wachstumsraten, explodierende Ungleichheit und Privatisierung von allem; endemische Korruption und Plünderei, da normale realwirtschaftliche Profitmöglichkeiten immer geringer werden, ein daraus folgender moralischer Niedergang (Kapitalismus wird mehr und mehr mit Betrug, Diebstahl und schmutzigen Tricks verbunden); ein schwächer werdender, ja, taumelnder Westen und damit verbundene Desintegrationsprozesse an der Peripherie, die weitere Krisen und Brandherde schüren.
Auch der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman zeichnet das Bild vom „permanenten Niedergang“ an die Wand, genauso wie Larry Summers. Der Ökonom und ehemalige Finanzminister unter Bill Clinton – wahrlich kein Feind des neoliberalen Kapitalismus – gebraucht die Phrase von der „säkularen Stagnation“ heute wie selbstverständlich.
Der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Robert J. Gordon hat in einem vieldiskutierten Papier untersucht, ob nicht zumindest für die Vereinigten Staaten „das Wirtschaftswachstum vorbei ist?“. Ihm zufolge haben die Wachstumsraten im Jahr 1750 an Dynamik gewonnen, ihre Hochphase Mitte des 20. Jahrhunderts erreicht und sich danach sukzessive reduziert. Die großen Innovationen, die sowohl Produktivitätsfortschritte als auch Wachstum generieren, seien Geschichte: „Das Produktivitätswachstum hat sich nach 1970 markant verlangsamt.“
Auch die so genannte Dritte Industrielle Revolution mit Computerisierung und den damit verbundenen Arbeitsersparnissen habe ihre wesentlichen Effekte zwischen 1960 und den späten neunziger Jahren gezeitigt. Seit den 2000er-Jahren seien sie praktisch zum Stillstand gekommen. Entgegen unseres oberflächlichen Eindrucks habe es in den vergangen 15 Jahren praktisch überhaupt keine wirklich produktiven Innovationen mehr gegeben: „Die Innovationen seit 2000 haben sich auf Entertainment- und Kommunikationsgadgets konzentriert, die kleiner, smarter und leistungsstärker wurden, die aber die Arbeitsproduktivität nicht mehr fundamental veränderten.“
Vertiefen Innovationen die Krise?
Der amerikanische Ökonom James K. Galbraith bläst in seinem jüngsten Buch The End of Normal nicht nur in ein ähnliches Horn, sondern geht sogar noch einen Schritt weiter. Die Prosperitätsphase zwischen 1850 und 1970 habe in der ökonomischen Zunft die unausgesprochene Gewissheit verankert, dass stetiges Wachstum die „Normalität“, Stagnation und Krise dagegen die „Ausnahmen“ seien. Galbraiths Verdacht lautet nun: „Was unter den Bedingungen der Vergangenheit funktioniert hat, funktioniert aber möglicherweise heute nicht mehr.“
Selbst wenn man Gordons These zur wegbrechenden Innovationsdynamik nicht teilt, könnte es doch sein, dass die heutigen Innovationen eben nicht mehr zur Prosperität des Kapitalismus als Gesamtsystem beitragen, sondern sehr ambivalente Auswirkungen haben. Vor allem haben sie zur Folge, dass Arbeitsplätze vernichtet werden, ohne dass neue entstehen. Die neuen digitalen Technologien haben hauptsächlich den Sinn, Kosten zu reduzieren und neue Märkte auf Kosten älterer Firmen zu erobern.
Und in wichtigen und zunehmenden Branchen führen sie zu Entwicklungen, die sich nicht mehr gut in das kapitalistische System integrieren lassen: Sie führen zu einer Peer-to-Peer- und Tauschökonomie. Viele Produkte werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, wie heute schon in der Informations- und Medienindustrie, und morgen vielleicht in der Energiewirtschaft.
Die Einkommen normaler Bürger sinken
Mit Produktivitätsfortschritt und Wachstum sind in der gesamten Geschichte des Kapitalismus auch neue, gute Arbeitsplätze entstanden. Doch in der neuesten Innovationsphase ist das nicht mehr der Fall. Die Ökonomen Erik Bjyrnsolfson und Andrew McAfee zeigen in ihrem Buch The Race Against the Machine, dass spätestens seit dem Jahr 2000 das Produktivitäts- und Wirtschaftswachstum mit dem Beschäftigungswachstum nicht mehr Hand in Hand geht – eine Entwicklung, die sich grafisch auf frappierende Weise darstellen lässt.
Damit unterscheidet sich aber die gegenwärtige Periode von vorherigen Innovationsphasen: Während früher die „schöpferische Zerstörung“ (Joseph Schumpeter) dazu führte, dass im Innovationsprozess alte und oft schlechte Jobs verschwanden (etwa in der Landwirtschaft), dafür aber massenhaft andere, neue und oft auch bessere entstanden (etwa in der Autoindustrie), führen Innovationen heute zu höherer Arbeitslosigkeit für den einen und zu schlechteren, prekären Jobs für den anderen Teil des Arbeitskräftereservoirs. Die Folge: Das aggregierte Einkommen normaler Bürger gerät zunehmend unter Druck und geht tendenziell zurück.
Konventionelle Ideen helfen nicht mehr
Rückkopplungseffekte verstärken die oben beschriebenen Tendenzen: niedriges Wachstum, sinkende Löhne, wachsende Ungleichheiten, steigende Verschuldung und aufgeblähte Finanzmärkte.
Alle Indizien und die hier kurz vorgestellten Analysen gehen in Richtung dessen, was in der englischsprachigen Fachliteratur mit dem Begriff des „stationary state“ beschrieben wird, also eines „stationären Zustands“. Das bedeutet: Volkswirtschaften ohne großes Wachstum.
Klar, man hüte sich vor Zusammenbruchstheorien. Der globale Kapitalismus wurde schon von vielen Leuten totgesagt. Und klar, der Kapitalismus hat sich in den vergangenen 300 Jahren als äußerst vital und adaptionsfähig erwiesen. Aber es kann auch nicht schaden, die Realität mit klaren Augen zu sehen. Dann stellt sich folgendes Bild dar: Acht Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise haben die Vereinigten Staaten durch massive staatliche Investitionen zwar wenigstens ein gewisses Wachstum erreicht, aber um dem Preis weiterer astronomischer Verschuldung. Das amerikanische Bankensystem ist mittlerweile wieder funktionstüchtiger als das europäische, aber die USA sind weit davon entfernt, erneut zu einer globalen Konjunkturlokomotive zu werden. Die Unterbeschäftigung in den Vereinigten Staaten ist auch nach der Krise kaum zurückgegangen. Und die technologischen Innovationen drücken – im Aggregat – die Einkommen. Die Europäische Union hat auf eine Austeritätspolitik gesetzt, die an allen Fronten gescheitert ist: in den „starken Staaten“ stagniert die Wirtschaft, in den Krisenstaaten hat diese Politik zu sozialen Katastrophen geführt. Das Bankensystem ist weiter morsch, während die Europäische Union von der Wirtschaftskrise in eine politische Existenzkrise geschlittert ist. Und die Schulden? Sie sind nicht einmal zurückgegangen. Und mit etwas Verzögerung geraten nun auch die BRIC-Staaten in den Abwärtsstrudel.
Angesichts dieser Entwicklungen sollte man sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass man mit konventionellen Ideen nicht mehr sehr weit kommen wird.
Robert Misik ist Autor des Buches „Kaputtalismus“, das soeben im Aufbau Verlag erschienen ist. Es hat 224 Seiten und kostet 16,95 Euro.