Maulesel auf Bergspitze
Die politische Lehre der langen internationalen Einsätze auf dem Balkan und in Afghanistan lautet: Nicht so schnell wieder! Darüber scheint eine stillschweigende Übereinkunft zwischen allen Kräften im Bundestag zu bestehen. Niemand ist scharf auf neue Mandate. Das wiedervereinigte Deutschland hat seine Rolle in der Welt gefunden – als guter Bündnispartner in Nato, EU und den Vereinten Nationen. Der deutsche Sonderweg ist Geschichte.
Nun aber gehen die Balkan-Missionen zu Ende, unspektakulär, doch erfolgreich. Bei der EUFOR in Bosnien-Herzegowina, für die der Bundestag einmal einen Beitrag von 3.000 Soldaten genehmigt hatte, sind die letzten 124 Uniformierten gerade dabei, das Licht auszumachen. Das einstige Bürgerkriegsland strebt in die EU. An den heftig umstrittenen Mazedonien-Einsatz (2001 bis 2003) erinnert sich kaum noch jemand. Und die einst 65.000 Mann starke KFOR-Truppe der Nato im Kosovo ist auf heute 5.000 Mann geschrumpft, davon noch 1.500 Deutsche. In zwei, drei Jahren dürfte hier Schluss sein. Um das operative Geschäft kümmert sich die EU-Rechtsstaatsmission EULEX mit 1.700 Polizisten, Richtern, Staatsanwälten und Verwaltungsbeamten. Auch das inzwischen unabhängige Kosovo strebt unter das europäische Dach, gemeinsam mit dem ehemaligen Kriegsgegner Serbien.
Sogar für Afghanistan ist ein Ende in Sicht, jedenfalls in Aussicht genommen. Laut Bundestagsmandat unterstützt Deutschland die erklärte Absicht der afghanischen Regierung, die Sicherheitsverantwortung im gesamten Land bis 2014 selbst zu übernehmen. Barack Obamas Ankündigung, die Truppen noch einmal zu verstärken (USA auf 100.000, Deutschland auf 5.350), um 2011 mit deren schrittweisen Reduzierung beginnen zu können, folgt auch die Bundesregierung. Im Jahr 2014 oder 2015 könnte, sollte und müsste ISAF, der Nato-geführte Einsatz von 44 truppenstellenden Nationen, auslaufen. Populär ist die Mission am Hindukusch zu Hause schon lange nicht mehr.
Die Wehrpflichtfrage bleibt offen
Und dann? Was bleibt der Bundeswehr am Ende dieser ersten beiden Post-Cold-War-Jahrzehnte zu tun? Die seeseitige Sicherung der Küste des Libanon (Unifil, seit 2006) wird dann gewiss erledigt sein, ebenso die Teilnahme an der übrig gebliebenen Antiterror-Flottille am Horn von Afrika (OEF, seit 2001) und die Nato-Bündnisfall-Manöver im Mittelmeer (Active Endeavour, seit 2001). Was wohl bleibt, sind die Piratenjagd vor Ostafrika als Daueraufgabe und mögliche Missionen im EU- oder Nato-Rahmen zur Ausbildung, Stabilisierung oder Friedenserzwingung im UN-Auftrag, immer bündnisgemeinsam, nie nur national.
In dieser Lage hat Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg sich an die Spitze der schwarz-gelben Konsolidierungspolitik gesetzt und die Reduzierung der Bundeswehr um bis zu 100.000 Soldaten (auf dann 150.000) in Aussicht gestellt; dazu die Abschaffung der Wehrpflicht. Vom Kabinett bekam er den Auftrag, bis zu 40.000 Zeit- und Berufssoldaten einzusparen und von 2011 bis 2014 auf insgesamt acht Milliarden Euro zu verzichten. Die Wehrpflichtfrage bleibt offen. Eine Wehrstrukturkommission, die unter Vorsitz des Arbeitsagentur-Chefs Frank-Jürgen Weise ihre Arbeit bereits aufgenommen hatte, soll bis zum 1. September Vorschläge für die neue Bundeswehr machen. Alles, was bisher reformiert wurde, hieß „Transformation“. Was morgen kommt, wird „Strukturreform“ heißen.
Im Vergleich zu 1989 ist Deutschland heute geradezu entmilitarisiert. Damals standen neben 500.000 Bundeswehrsoldaten noch einmal 500.000 Alliierte in Westdeutschland unter Waffen, im Osten 400.000 Rotarmisten plus 170.000 NVA-Soldaten – zusammen mehr als anderthalb Millionen Menschen. Heute sind noch gut 50.000 Alliierte im Land, und die Bundeswehr hat eine Stärke von 252.000 militärischen Dienstposten.
So wie die schwarz-gelbe Koalition in Berlin nun ihre Haushaltsschwerpunkte setzt, wird dieser Umfang noch einmal drastisch reduziert. Um beschlossene und künftige Steuersenkungen zu finanzieren, kürzten die Koalitionshaushälter schon vor Monaten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion fast eine halbe Milliarde Euro aus dem chronisch knappen 31-Milliarden-Euro-Etat des Verteidigungsministers für 2010. Gleichzeitig hat das personalstärkste Ressort der Bundesregierung die vereinbarten Gehaltserhöhungen und die Verteuerung des Transportflugzeugs A400M zu bezahlen. Für das Jahr 2014 rechnet die Regierung jetzt mit Minderausgaben im Verteidigungsbereich in Höhe von 4,3 Milliarden Euro. Die Begründung ist rein finanzpolitisch. Sicherheitspolitische Argumente scheinen zurzeit nicht in Mode zu sein. Zu Guttenbergs Ministerium verbreitet offiziell: „Der mittelfristig höchste strategische Parameter, quasi als conditio sine qua non, unter dem die Zukunft der Bundeswehr gestaltet werden muss, ist das globalökonomisch gebotene und im Verfassungsrang verankerte Staatsziel der Haushaltskonsolidierung, also die ‚Schuldenbremse‘.“
Die Schrumpfung des Budgets wird gravierende Auswirkungen auf Organisation und Fähigkeiten der Bundeswehr haben. Dabei ist gegen eine erneute Überprüfung der Struktur auch aus Sicht der Opposition nichts einzuwenden, nicht wegen der Haushaltspolitik, sondern weil die Welt sich weiter verändert. Nicht alle früheren Reformmodelle haben sich wirklich bewährt, und die Einsatzerfahrungen legen nahe, dass nachgesteuert wird. Ob allerdings unsere Nato- und EU-Partner mit vergleichsweise kleineren Volkswirtschaften, etwa Großbritannien oder Italien, viel Verständnis dafür hätten, wenn Deutschland mit einer drastisch geschrumpften Bundeswehr künftig weniger Truppen bereithalten wollte als sie, mag bezweifelt werden. Und das ist nicht nur eine Frage der eleganten Diplomatie, sondern der fairen Lastenverteilung in Europa. Deshalb müsste einer neuen Bundeswehrplanung eine europäische Verständigung über Umfänge, Fähigkeiten und Strukturen vorausgehen – mit dem Ziel, in der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik effizienter, arbeitsteiliger und europäischer zu werden.
Es gilt das Prinzip „drunter und drüber“
Wie es aussieht, verfolgt der gegenwärtige Verteidigungsminister stattdessen streng das Prinzip „drunter und drüber“. Erst die Wehrdienstverkürzung, dann die Strukturreform, dann vielleicht Europa. Gleichzeitig soll noch eine im Koalitionsvertrag versprochene Kommission über Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung des Dienstes in den Streitkräften sinnieren. Kosten darf das ganz bestimmt nichts.
Was die Gliederung der Bundeswehr angeht, so zeigt ein Organigramm des Heeres anschaulich, nach welcher Logik Reduzierung und Transformation der Bundeswehr bisher betrieben wurden. Es war eine Art In-sich-Schrumpfung. Alles bleibt, es wird nur weniger: fünf statt zwölf Divisionen, aber mit Panzertruppe, Panzerartillerie und Panzergrenadieren; drei Gebirgsjägerbataillone, vier Fallschirmjägerbataillone, Logistik, schwere und leichte Pionierbataillone, reichlich ABC-Abwehr, dazu Aufklärung, Jäger, Transport- und Kampfhubschrauberregimenter, Spezialkommandokräfte, Flugabwehr, Raketenartillerie, Fernmelder und Fernspäher. Mein Lieblingssymbol auf dieser Übersicht ist ein Maulesel, der auf einer Bergspitze steht, vor grünem Hintergrund: die „Tragtierkompanie 230“ in Bad Reichenhall.
Universalarmee im Bonsai-Format
Unsere Bundeswehr ist mit allem, was sie hat, eine Universalarmee, wenn auch im Bonsai-Format. Seit 1990 hat sie kaum Fähigkeiten aufgegeben, aber etliche dazugewonnen: Satelliten, Tankflugzeuge, Kommando Spezialkräfte. Auf den ersten Blick wirkt die Struktur so, als solle sie „aufwuchsfähig“ sein; alles ist noch da und könnte verdoppelt oder verdreifacht werden – auf die alte Stärke und darüber hinaus. Der zweite Blick zeigt, dass dafür aber weder Material noch Personalstrukturen vorhanden wären. Und auch eine Bedrohungslage, die einen solchen Aufwuchs erfordern könnte, ist kaum mehr vorstellbar.
Wenn die schwarz-gelbe Regierung hier weiter kürzen, schrumpfen und sparen will, dann wird mit Schieben und Strecken nicht mehr gegenzusteuern sein. Fähigkeiten müssen fallen. Deshalb ist die europäisierte Streitkräfteplanung so nötig und sinnvoll. Alle Staaten müssen sparen. Aber in Abstimmung mit den Partnern geht das besser, als wenn man das Zufallsprinzip regieren lässt. Als die Niederlande ihre Fähigkeit zur Seefernaufklärung aus der Luft aufgeben wollten, kaufte die Bundeswehr die holländischen Flieger günstig und ersetzte damit ihre noch älteren Marineaufklärer. Für eine Neuentwicklung war kein Geld vorgesehen, sonst hätte möglicherweise auch Deutschland von dieser Aufgabe Abstand genommen.
So schwierig es wird, militärische Fähigkeiten zu identifizieren, bei denen man sich künftig stärker auf andere EU- und Nato-Partner verlassen will, so einfach ist es aufzuzählen, was nach allen Erfahrungen aus den Auslandseinsätzen die Bundeswehr zusätzlich braucht: mehr Infanteriekräfte, mehr einsatzwillige Ärzte, bessere Aufklärung, mehr Lufttransport. Dabei macht nicht allein die Technik die Musik. Auch alte Hubschrauber sind besser als gar keine. Und Luftfahrzeuge ohne Besatzung fliegen nicht.
Allen Klagen zum Trotz hat die Bundeswehr schon einen enormen Modernisierungsschub hinter sich, was etwa Digitalisierung, Präzisions- und Abstandsfähigkeit der Bewaffnung und Selbstschutz anbelangt, aber vieles auch noch vor sich. Der Airbus A400M, der Hubschrauber NH90, die neuen Panzer Puma und Boxer, neue Luftabwehrsysteme sind bestellt oder in der Entwicklung, aber laufen extrem langsam zu – was nicht nur, aber manchmal auch am fehlenden Geld im Haushalt liegt.
Wo wirklich gespart werden kann
Wo kann dagegen sinnvoll gespart werden? Aus Kostengründen sollen nicht mehr 180, sondern nur noch 143 Eurofighter an die Luftwaffe ausgeliefert werden. Damit kann und muss mindestens ein Kampfgeschwader wegfallen, ohne Probleme: Europa hat keine Jäger- oder Jagdbomber-Lücke. Über die schon bestellten 80 Panzerabwehrhubschrauber Tiger wäre noch einmal nachzuverhandeln. Es gibt keine Panzerarmeen des Warschauer Pakts mehr, die die norddeutsche Tiefebene bedrohen. 40 bis 60 Tiger in einem (statt zwei) Kampfhubschrauberregiment wären dann immer noch sehr schlagkräftig. Schließlich wirkt die Spitzenorganisation der Bundeswehr bis heute ziemlich opulent. Die Redundanz in den Stäben der Inspekteure und nachgeordneten Führungsstäben und Ämtern der Teilstreitkräfte begründet zwar viele hochqualifizierte Dienstposten, produziert aber auch viel Doppel- und Antiarbeit.
Zu prüfen wäre nicht zuletzt die Effektivität mancher Zentralisierung und Privatisierung, etwa bei Logistik und Instandsetzung. Unspektakuläre Lösungen, die funktionieren, sind Hochglanzlösungen vorzuziehen, denen die Voraussetzungen fehlen. Besser 90 Prozent jetzt als 105 Prozent in 15 Jahren.
Bei all dem, was an Strukturrationalität aus Erfahrung gewonnen werden kann, wäre es nützlich, auch neue Gefahren mitzudenken. Cyberwar ist wahrscheinlicher als noch einmal Afghanistan. Marinefähigkeiten werden voraussichtlich stärker gefragt sein als ein deutsches Atombombenabwurf-Geschwader (das wir noch haben). Der Maßstab für die Strukturreform der Bundeswehr sind übrigens nicht die USA. Sie sind kein Konkurrent, sondern Partner. Europa strebt keinen Rüstungswettlauf mit Amerika an. Aber von hier aus könnten, wenn es um zusätzliche Fähigkeiten jenseits der militärischen Sphäre geht, ganz neue Impulse ausgehen für zivile Interventionsfähigkeit bei Naturkatastrophen und Krisen: ein schnell einsetzbares europäisches Grünhelm-Korps mit „Reservisten“ aus den Bereichen Polizei, Justiz, Verwaltung, THW, Feuerwehr, Ärzte ohne Grenzen – das wäre vielleicht die sicherheitspolitische Innovation des 21. Jahrhunderts. «