Mehr Intellekt! Mehr Freude! Mehr Interesse!



1 1. Die SPD (oder zumindest ihr zurechnungsfähiger Teil) wollte zwar nie DDR- oder gar Sowjetsozialismus. Trotzdem ist ihr der Wegfall des Systemkonflikts nicht gut bekommen – wahrscheinlich, weil mit seinem Ende jede Vorstellung einer Alternative zum Kapitalismus verschwand (ob man die nun als Drohung oder als Hoffnung verstanden hatte). Die SPD braucht aber irgendeine Art von Alternative, von Transzendenzversprechen; ein Bild von einer besseren Welt.

2. 15, 20 Jahre ungebremster Neoliberalismus als gesellschaftliche Leitideologie sind außerhalb wie innerhalb der Partei nicht ohne Folgen geblieben. Arbeitnehmer haben die marktradikalen Werte der Arbeitgeberseite und die neuen Flexibilitätserwartungen verinnerlicht. Sie suchen den Grund für beruflichen Erfolg oder Misserfolg bei sich selbst und verstehen den sozialdemokratischen Solidaritätsgedanken immer weniger. Und viele in der SPD glauben auch nicht mehr recht daran, finden es inzwischen eher peinlich, von Solidarität zu sprechen – und sind ihrerseits Privatisierungs- und Flexibilisierungsmoden hinterhergelaufen. Die Folge: Identitätskrise.

3. Die Partei insgesamt wird älter. Da die meisten Menschen dazu neigen, ihrer Jugend nachzutrauern, breitet sich eine kollektive Altersdepression aus: Früher war alles besser. Das ist leider für junge Menschen überhaupt nicht attraktiv.

4. Es gibt eine Reihe von auf den ersten Blick unpolitischen gesellschaftlichen Trends – galoppierende Zahlen bei Scheidung und Trennung, Informationsüberforderung, stets gefährdet erscheinende Arbeitsverhältnisse –, die trotz ihrer privaten Anmutung zu einer Aversion gegen den Staat, das politische System, die Parteien führen. Privates Unglück fördert politische Unzufriedenheit. Das schadet auch der SPD.

5. Journalisten – nicht alle, aber viele – begegnen der SPD mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung. (Eine Studie der Ebert-Stiftung über Journalistenschüler liefert mögliche Gründe: Der Berufsstand wird herkunftsmäßig immer homogener – und es geht meist nicht um sozialdemokratische Herkunft.) Das ist schlecht für die SPD.

6. Irgendetwas klappt überhaupt nicht mit der Personalauswahl der Partei: Die Spitzenfunktionäre strahlen unheimlich wenig Stolz, Freude, Intellektualität, Witz oder Nachdenklichkeit aus. Eine private These (für die ich mich gern massakrieren lasse): Das könnte auch eine Folge der Quote (und natürlich des restlichen Proporz-Quatsches) sein. Es gibt in der SPD zu viele Leute – ich habe besonders Frauen vor Augen –, denen ihre jeweilige Position immer schon rein proporztechnisch sicher ist. Das macht offenbar intellektuell faul, träge – und leider auch noch oft unverschämt im Umgang mit dem Publikum (das man für doof hält). Außenwirkung: eine geradezu programmatisch wirkende Unterdurchschnittlichkeit.

7. Die Diskussionskultur ist im Eimer: Bundesparteitage sind Applausometer-Veranstaltungen.

8. Die aktuelle Parteireform-Debatte zeigt, wie wenig die Funktionäre ihre Basis mögen. Jedes Nichtmitglieder-Votum scheint ihnen attraktiver als die Meinungen der gebrauchten Genossen. Aber wer soll wild darauf sein, bei einer Partei mitzumachen, die sich selbst nicht mag?

9. Die Partei hat praktisch jeden Kontakt zu Künstlern, Wissenschaftlern und Intellektuellen verloren. Das zeigte sich am Beispiel des „Heidelberger Appells“, einer Internet-Protestaktion gegen Urheberrechtsdiebstahl im Netz. Die Liste derer, die das Recht auf geistiges Eigentum verteidigten, las sich wie ein Who’s Who der deutschen Kunst, Wissenschaft, Literatur, Verlagswelt. Sozi-Unterschriften fehlten – und die SPD schlug sich in dieser zentralen Frage auf die Seite vermeintlich hipper Netzgemeindeversteher à la Sascha Lobo. Nützen wird das der Partei gar nichts; schaden tut ihr der fast offensive Anti-Intellektualismus enorm.

10. Die Generalsekretärin.

2 1. Die SPD ist ja nicht an allem selbst schuld: weder an der Globalisierung noch am Informations-Overkill, weder an der Individualisierung noch an Google oder an der Alterung der Gesellschaft. Sie kann unsere Welt und unsere Zeit nicht vollkommen verändern – aber vielleicht könnte sie sie besser verstehen.

2. Das heißt mindestens: Mehr intellektuelles und literarisches Interesse! Zu Zeiten, da das „There Is No Alternative“-Denken die SPD im Kern bedroht, könnte gerade Literatur helfen, sich doch Alternativen vorzustellen. Wer Margaret Atwood, Cory Doctorow, Henry Porter, Max Barry oder auch Klassiker wie Stanislaw Lem oder H.G. Wells liest, erlebt, dass man sich Gesellschaften selbstverständlich ganz anders denken kann als in der konsumkapitalistischen Verfassung des Jahres 2011. Leider sind politische Zukunftsromane meist Dystopien: Sie sagen Katastrophen voraus. Aber auch Warnungen können zum Denken außerhalb des Gegenwartskaros verführen. Und politische Utopisten wie der britische Autor Tom Hodgkinson (How to be free) führen uns vor Augen, wie radikal anders das Leben sein kann, wenn es nicht als Hamsterrad verstanden wird. In einer Zeit, in der materielle Überlebensfragen für die meisten Menschen nicht mehr alltagsprägend sind, rücken Fragen des guten, des richtigen Lebens in den Mittelpunkt.

3. Um diese Fragen glaubwürdig und attraktiv diskutieren zu können, müssen die Denk-Institutionen der Partei besser, interessanter, interessierter, unabhängiger, radikaler und humorvoller werden: das Willy-Brandt-Haus, der vorwärts und die Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie alle tun auch jetzt viel – aber so konventionell! So verzagt! Hier muss die Partei einfach mehr von sich verlangen, die Leute hätte sie.

4. Die SPD muss sich bei der Personalauswahl einen Ruck geben: Es geht nicht um interne Bonuspunkte. Es geht um Außenwirkung. Es geht um die Fähigkeit, komplizierte Politik einfach zu erklären, ohne das Publikum zu beleidigen. Es geht um authentische Sprache – nicht um die Fähigkeit zum Aufsagen von Spiegelstrichen.

3 Generellen Kulturpessimismus kann man sich nur leisten, wenn man gelegentlich auch mal optimistisch ist. Also: Sigmar Gabriel sieht alle meine Argumente ein. Er führt eine Besetzung der Denk-Institutionen mit Intellektuellen herbei. Thomas Oppermann wird Fraktionsvorsitzender, und ein Thomas Oppermann-Klon wird Generalsekretär. Gabriel unterstützt und organisiert Peer Steinbrücks Kanzlerkandidatur, weil er weiß, dass nur dieser die Kriterien aus Punkt 2.4 erfüllt und die große Mitte der Gesellschaft gewinnen kann, die eigentlich sozialdemokratisch denkt. Der vorwärts erreicht die gleiche Kioskauflage wie – naja –, sagen wir: Cicero. Die nächste Bundesregierung wird wieder rot-grün. Ist das jetzt total utopisch, oder was? «

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