Mehr Mut zur Politik
Gutgegangen. Am Ende ist die Wahlentscheidung immer konkret. Der, die, das: Der eine Kanzler oder der andere? Die eine Partei oder eine andere? Das eine Lager oder das entgegenstehende?
Die Mitte-Links-Koalition aus SPD und Grünen hat gegenüber der Erdrutschwahl von 1998 einen halben Prozentpunkt verloren, von damals 47,6 auf jetzt 47,1 Prozent. Bei den bürgerlichen Oppositionsparteien CDU/CSU und FDP gibt es eine tüchtige Erholung von zusammen 41,4 auf jetzt 45,9 Prozent. Damit verringert sich der Abstand zwischen Rotgrün und Schwarzgelb von 6,2 (1998) auf 1,2 Prozentpunkte. Die Verringerung des Abstands um fünf Prozentpunkte entspricht ziemlich genau dem Anteil der zusätzlichen Oppositionspartei PDS (1998: 5,1 Prozent), die dieses Mal an der Fünf-Prozent-Sperrklausel gescheitert und nur noch durch zwei Wahlkreismandate im Bundestag vertreten ist. Der Vorsprung der beiden Koalitionsfraktionen vor den drei Oppositionsfraktionen war 1998 mit 345 zu 324 Sitzen knapp (am Ende der Legislaturperiode 341 zu 326), und er bleibt knapp: 306 zu 297 Mandate im neuen Vier-Fraktionen-Bundestag. Bei beiden Wahlen spielten auch Überhangmandate eine die Mehrheit verstärkende Rolle.
Die SPD bleibt mit 38,5 Prozent (minus 2,4) äußerst knapp stärkste Partei - zum dritten Mal in den fünfzehn Bundestagswahlen seit 1949. Im Osten enorm gestärkt, im Norden einigermaßen stabil hat die Partei vor allem im Westen und im Süden Deutschlands (Bayern: minus 8,4 Prozentpunkte) gegenüber der Union Boden verloren. Neben der regional sehr unterschiedlichen Popularität der konkurrierenden Kanzlerkandidaten gibt es auch politische Stärken und Schwächen, die Mobilisierung und Demobilisierung des SPD-Potenzials in den einzelnen Ländern erklären helfen. Trotz der Enttäuschung über die insgesamt nicht unerheblichen Verluste von 1,7 Millionen Stimmen - die SPD hat ihre drei Wahlziele erreicht: Sie ist die stärkste Partei, Gerhard Schröder bleibt Bundeskanzler, und die Koalition mit den Grünen kann fortgesetzt werden. Wer Erst- und Zweitstimmenverhalten analysiert, sieht im Übrigen, dass dieses Mal zum Teil sehr bewusst gesplittet worden ist, um die lange in den Umfragen schwächelnden Grünen gegenüber der FDP zu stärken. In zwölf von 16 Bundesländern liegen die Sozialdemokraten vor der Union. Die SPD ist in Ostdeutschland (39,8 Prozent) inzwischen ebenso stark wie in Westdeutschland (38,3 Prozent), hat annähernd gleiche Werte in allen Altersgruppen wie auch in den sozialen Gruppen der Arbeiter, Angestellten, Rentner, Beamten, Arbeitslosen sowie bei den Lehrlingen und Studenten. Damit steht die SPD mehr als je zuvor in der Mitte des Volkes. Nur Katholiken und Selbständige sind in der SPD-Wählerschaft deutlich unterrepräsentiert.
Verdamp lang her, dass es Grüns so wohl war
Die CDU richtet sich mit 38,5 Prozent (plus 3,4) im gesamtdeutschen Fünf-Parteien-System unterhalb der 40-Prozent-Linie ein. Sie erreicht mit 38,5 Prozent ihr drittschlechtestes Ergebnis seit 1949. Wie die Sozialdemokraten haben die Unionsparteien 2002 nicht unter einem Mangel an Geschlossenheit gelitten. Sie traten unter Stoiber und Merkel geeint auf. Damit dürfte es nun angesichts des verfehlten Wahlziels "Machtwechsel" vorbei sein. Das exorbitante CSU-Ergebnis in Bayern (58,6 Prozent, plus 10,9) könnte zum Sprengsatz werden. Die Union steht vor internen Machtkämpfen, denn viele glauben: Auch Merkel kann es nicht.
Die Grünen haben mit 8,6 Prozent (plus 1,9) das beste Bundesergebnis ihrer Parteigeschichte erzielt. Ein Teil davon geht sicher zu Lasten der SPD-Zweitstimmen. Die gemeinsame rot-grüne Schröder/ Fischer/BAP-"Verdamp lang her"-Kundgebung am Vorwahlsonntag in Berlin mag dazu beigetragen haben. Rot-Grün wird zum Erfolgsmodell.
Gründet der Quartalsirre seine eigene Partei?
Die FDP hat mit 7,4 Prozent (plus 1,2) ein Ergebnis näher an 1,8 Prozent als an 18 Prozent eingefahren. Geplatzt ist das großkotzige Versprechen von Möllemann und Westerwelle, Wahlresultate herbeireden zu können. Am Ende haben die Liberalen mit ihrem "Kanzlerkandidaten" weniger vom gutbürgerlichen Unbehagen an der Stoiber-Kandidatur profitiert, als sie unter den Antisemitismus-Luftballons ihres stellvertretenden Vorsitzenden gelitten haben. Das Spaßwahlkampf-Getue war sowieso Firlefanz aus den Sammelbändchen irgendeiner gerade modischen Kommunikationstheorie. Ernster zu nehmen ist das andere: Vielleicht gründet der "Quartalsirre" M. jetzt eine eigene Partei.
Die PDS steigt mit ihren 4,0 Prozent (minus 1,1) jetzt in die Regionalliga ab. Sie wurde zum Stoiberverhindern nicht gebraucht. Dass auch PDS-Wählen ein Stoiberrisiko barg - Große Koalition mit kleiner SPD - konnten sich potenzielle PDS-Wähler selbst ausrechnen. Aus der Defensive kamen die SED-Nachfolger nicht heraus (Gysi, Irak). Dass Schröder eine Zusammenarbeit mit der PDS auf Bundesebene kategorisch ausgeschlossen hat, machte die Partei kleiner und unnützer, als sie sich selbst gern gegeben hätte. Sie auch als Partei der Ostinteressen überflüssig zu machen, ist jetzt Chance und Aufgabe der SPD.
Wir leben, allem Nobelverdruß zum Trotz, noch immer nicht in einer Kanzlerdemokratie. Gewählt werden Abgeordnete und Parteien. Wäre es anders, hätte die "Kanzlerpartei" SPD im Extrem mit 71 Prozent der Stimmen rechnen dürfen - das war im Wahlkampf der maximale Zustimmungswert für den Amtsinhaber. Im wirklichen Leben kam Schröders SPD auf etwas mehr als die Hälfte der Schröder-Prozente. Noch immer lautet die Rangfolge der Wahlentscheider: politische Richtung (oder Lager), Partei, Person. Alles andere ist journalistisches Möchtegern.
Mit der kleinen Mehrheit der gewiss zügig zustandekommenden rotgrünen Koalition vier Jahre stabil zu regieren, wird nicht einfach. "Vier mehr als die Mehrheit" ist wenig, wenn es etwa um Auslandseinsätze der Bundeswehr oder Haushaltskonsolidierung geht. Bei Sozialdemokraten ist Disziplin Vertrauenssache, wie die Anti-Terror-Abstimmung im vergangenen November gezeigt hat. Aber bei den Grünen? Ströbele und Hermann heißen die Abgemeierten, die jetzt doch wiederkommen ... Wird die stete Drohung mit der Großen Koalition die kleine Koalition beieinanderhalten, jede der 306 Stimmen, in jeder Abstimmung? Nach der Zitterwahlnacht bleibt es also spannend. Es gibt genug Beispiele, wo knappe Mehrheiten prima durchgehalten haben. Aber: gefragt ist die disziplinierteste Bundestagsfraktionsarbeit aller Zeiten!
Doris ihren Mann seine Partei wählen
Selten gab es in Wahlkämpfen aus den Gliederungen so viel Unmut über und Kritik an der zentralen Wahlkampfleitung des Parteivorstandes wie 2002. Die "Kampa 02" als Remake der 1998 erfolgreichen Kampagnenzentrale "Kampa" war von vornherein ein Inszenierungsflop. Auch in "Medienwahlkämpfen" ist die Selbstthematisierung des coolen Wahlkämpfers bestenfalls ein Hilfsargument - und diesmal war es nicht einmal mehr neu. Daß Stoiber rechts ist oder zu verbergen sucht, dass er es ist (Was hat er gefressen? Richtig: Kreide!), hätten die Medien gern - und vielleicht viel effektiver - selbst "herausgefunden". Manche Botschaft, manches Material war entweder zu plump oder zu durchgestylt, mancher (Praktikanten-?)Text aus der Zentrale schlicht analphabetisch. Dazu unprofessionelles Professionalitätsgequatsche über werbliche Wirkung und viel pseudowissenschaftliches Geraune drumherum. Da wurde gespindoktort, bis die ganze Presse grinste. Und der Partei gab man die Schuld an den schlechten Umfragewerten. Die Basis-Amateure waren angeblich nicht motiviert genug, verschliefen den Wahlkampf, hatten keine Ahnung, worauf es für Wahlsiege im neuen Kampa-Deutschland heute ankommt ...
Die "Kampa" auf Autopilot
Es war richtig, dass der Parteivorsitzende und Bundeskanzler rechtzeitig vom wirklichkeitsfremden Kampa-Autopiloten auf manuellen Betrieb umgeschaltet und mit politischen Themen den Wahlkampf polarisiert hat (Hartz, Flutfolgenfinanzierung, Irak). Und es war gut, dass da noch eine riesige Mitgliederpartei war, die aus tausend politischen Kämpfen weiß, wie man kämpft: mit Info-Ständen und Veranstaltungen, Wahlzeitungen und Hausbesuchen, Kleinanzeigen, Flugblättern und zum Schluss - wenn alles gesagt ist - mit Rosen.
Die Kampa von unten, das Netzwerk der Mitgliederpartei spricht eine andere Sprache, macht andere Scherze, folgt einer anderen Ästhetik. So kam der bundesweit erfolgreichste Aufkleber der gesamten Kampagne aus dem Wahlkreis Unna I. Kein Logo, kein Schnickschnack, kein richtiges Deutsch, nur ein einziger Satz: "Ich wähle Doris ihren Mann seine Partei."
Und kämpfen lohnt: Dreißig SPD-Stimmen weniger pro Wahlkreis und die SPD wäre nicht wieder stärkste Partei geworden.
Viele Sozialdemokraten haben in diesem Wahlkampf gespürt, dass es nicht materielle Wohltaten für eine Mehrheit von "Zielgruppen" sind, die zum Erfolg führen: niedrigere Steuersätze, höheres Kindergeld, mehr Bafög - alles geschenkt. Da bricht keine Massendankbarkeit aus, der Wahlbürger ist kein homo oeconomicus, kein egoistischer Nutzenmaximierer. Wenn es einem persönlich besser geht, hat man es immer selber gemacht - gibt′s weniger Geld, war′s sowieso der Staat, der es genommen hat. Was vielmehr positiv mit sozialdemokratischer Politik verbunden wird, ist eine politische Haltung, die vielen Deutschen sympathisch ist: Politik muss ausgleichen, das richtige Maß finden, die Balance wahren.
Steht die Ära der Marktprediger vor dem Ende?
In dieser Haltung steckt das klassische sozialdemokratische "Ja, aber", das vernünftige "Einerseits - Andererseits", die reformistische Suche nach dem fairen Kompromiss, nach Gerechtigkeit. Das Gegenteil dazu predigen die Marktliberalen aller Parteien, die gegenwärtig so viel Raum in der öffentlichen Darstellung unserer Zukunftsmöglichkeiten einnehmen, als wäre die Rede von "harten Zumutungen" und "radikalen Rezepten" etwas besonders Attraktives. Manche Medienleute merken allerdings inzwischen selbst, dass ein bißchen sozialstaatliche Sicherheit auch dem stärksten Wirtschaftsmagazin-Yuppie nicht schaden kann - wenn er gerade entlassen worden ist.
Mit dem neuerlichen Mehrheitserfolg der rot-grünen Richtung könnte jetzt vielleicht eine Ära zu Ende gehen, die seit den "Reaganomics" der achtziger Jahre den ideologischen Mainstream des globalen Kapitalismus bestimmt: Das Primat der Ökonomie über alle anderen Lebensbereiche. Sozialdemokraten müssen wissen, dass es unterschiedliche gesellschaftliche Sphären oder Subsysteme gibt, die jeweils ihre eigene Rationalität, ihre eigenen Ressourcen und Erfolgskriterien haben: Wissenschaft, Kirche, Wirtschaft, Staat, Militär, Medien ...
Alles hängt mit allem zusammen. Aber Legitimation für die Definition gemeinsamer Regeln hat nicht die Ökonomie (oder gar die Wirtschaftswissenschaft), sondern in der Demokratie allein die Politik. So weit darf man es mit den "Sachzwängen" nicht kommen lassen, dass sie die politische Selbstbestimmung der Menschen ausschalten. Deshalb: Mehr Mut zur Politik. Wir schaffen das.