Mein Vater, der Lokomotivführer
Es gibt zwei Lesarten des Lokführerstreiks. Die eine besagt, dass Lokführer eine privilegierte Arbeitnehmergruppe sind, die in Zeiten der Vermarktlichung und Deregulierung des Arbeitsmarktes zulasten anderer Beschäftigter ihre gruppenegoistischen Interessen immer besser durchsetzen können. Demnach sind spezifische Berufsgruppen wie Piloten oder Ärzte, Fluglotsen oder Lokomotivführer, die wirtschaftliche Schlüsselbereiche kontrollieren, Vorreiter eines Trends, der sich fortsetzen wird. Die Tarifeinheit und die Sozialpartnerschaft, auf die die deutschen Gewerkschaften so stolz waren, stehen auf dem Spiel.
Die andere Lesart spielt in den Medien keine Rolle. Sie ist bahnspezifisch und geht so: In den achtziger Jahren hatte die Bundesbahn mehr als 300.000 Beschäftigte. Als 1989 mehr als 200.000 Mitarbeiter von der Reichsbahn übernommen wurden, war die Bahn nicht mehr überlebensfähig. Daher entschloss sich der Vorstand 1994 zu einer umfassenden Restrukturierung, die auch die Tarifstrukturen der Beschäftigten betraf. Die Bahn baute Arbeitsplätze ab und entzog den Lokführern einige Privilegien, etwa ihren Beamtenstatus und ihre vergleichsweise hohe Entlohnung. Alle diese Neuerungen galten jedoch nur für das zukünftige Personal der Deutschen Bahn.
In den vergangenen 13 Jahren hat die Bahn die Zahl ihrer Beschäftigten halbiert. Und das Gehalt eines jungen Lokomotivführers hat sich drastisch reduziert. Vor zehn Jahren verdiente mein Vater in der Endgehaltstufe netto fast 2.500 Euro, zuzüglich 200 Euro Aufwandsentschädigungen. Heute verdient ein angestellter Lokführer nach Angaben der GDL rund 2.100 Euro brutto.
Die jungen Lokführer verbittert, dass ihr Beruf innerhalb weniger Jahre radikal entwertet wurde, während ihre beamteten Kollegen weiterhin den alten Status genießen. Ein stolzer Berufstand, aufgrund seiner Bedeutung für den Verteidigungsfall sogar in den Beamtenstatus erhoben, wurde zu Facharbeitern degradiert, vergleichbar mit LKW-Fahrern. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich die traditionell konservative und statusorientierte GDL heute kämpferischer gibt als die DGB-Gewerkschaft Transnet – und ihre Mitgliederbasis hauptsächlich unter den angestellten Lokführern der neuen Bundesländer findet.
In dieser Lage wird Bahnvorstand Mehdorn von zwei Gewerkschaften in die Zange genommen: Die GDL hat der Bahn empfindlichen Schaden zugefügt. Transnet hingegen unterstützt den Umbau der Bahn ebenso wie die Teilprivatisierung. Eine Einigung mit der GDL ginge automatisch zulasten von Transnet. Bekommt die GDL ihren Tarifvertrag, wird Transnet mit eigenen Forderungen nachziehen – oder dem Vorstand die Freundschaft aufkündigen. Langfristig hat das für die strategische Ausrichtung des Konzerns in Richtung Teilprivatisierung schwerwiegende Folgen. Der Beschluss des SPD-Parteitages für die Volksaktie hat, gerade weil er den Börsengang erschwert, die Bedeutung von Transnet für den Bahnvorstand weiter erhöht.
Der monatelange Machtkampf ist also eine komplizierte Dreiecksgeschichte. Die Hauptdarsteller: der Vorstand und zwei konkurrierende Gewerkschaften. Der einen kann man vorwerfen, im Bemühen um sozialpartnerschaftliche Lösungen die Interessen der Lokführer aus dem Blick verloren zu haben. Der anderen sind die Interessen der übrigen Beschäftigten nicht so wichtig. Eine Lösung im Interesse einer funktionierenden Sozialpartnerschaft müsste beim Verhältnis der beiden Gewerkschaften zueinander ansetzen. Hier treffen sich die beiden Lesarten des Lokführerstreiks: Gruppenspezifische Sonderinteressen werden dann tarifpolitisch virulent, wenn man die Eigenheiten der betreffenden Gruppen über längere Zeit vernachlässigt. Das gilt für Ärzte wie für Lokführer.