Menschenrechte und Außenpolitik
Dabei schließe ich an die seit einigen Jahren voranschreitende kritische Historisierung der siebziger Jahre an, jenem „sozialdemokratischen Jahrzehnt“, dessen Entscheidungen bis heute auf vielfältige Weise die politische Landschaft prägen. Abschließend formuliere ich einige Konsequenzen, die sich aus diesem Blick zurück für das sozialdemokratische Selbstverständnis ergeben. Ziel ist es, die Debatte über die Außenpolitik des vereinten Deutschland historisch zu fundieren und inhaltlich voranzutreiben. Schließlich ist es eine der vornehmsten Aufgaben historischer Reflexion, das Nachdenken über die Zukunft zu fördern.
Es ist in der zeithistorischen Forschung unbestritten, dass die Neue Ostpolitik nach der Adenauerschen Westintegration die bundesdeutsche Staatsräson erst komplettierte. In der Rückschau ist ihre Kernzeit der Jahre 1969 bis 1973 eine beeindruckende Erfolgsgeschichte, eine diplomatische Meisterleistung. Die Ostpolitik verfolgte klare Ziele und hatte eine realistische Strategie: Den Gestaltern der Neuen Ostpolitik war klar, dass Bonn ohne die Zustimmung Moskaus zu keiner Übereinkunft mit den anderen kommunistischen Regimen kommen könnte. Das Primat der UdSSR war deshalb ein Grundzug ihrer diplomatischen Herangehensweise. In wenigen Jahren gelang es, die Beziehungen zu den Staaten Osteuropas auf eine neue Grundlage zu stellen und das Berliner Problem zu entschärfen. Durch die Gewaltverzichts- und Grenzanerkennungsverträge mit Moskau, Warschau und Prag verminderten sich die Spannungen in Europa beträchtlich; die historisch belasteten Beziehungen erhielten eine neue Form. Der Frieden in Europa wurde sicherer und die Bundesrepublik hatte bewiesen, dass sie trotz ihrer eingeschränkten Souveränität auf schwierigem diplomatischen Parkett handlungsfähig war. Dies geschah dennoch nicht als nationaler Alleingang, sondern als Teil transatlantischer Entspannungspolitik, die vom westlichen Bündnis abgesichert wurde. Die Bundesrepublik half, Misstrauen abzubauen und wurde zu einem Partner, dem auch die Regierungen Osteuropas zunehmend Vertrauen schenkten. Dies alles geschah schließlich, ohne dass eigene Grundüberzeugungen – wie etwa das Einheitsgebot des Grundgesetzes – preisgegeben wurden.
Die Neue Ostpolitik war mehr als eine Realpolitik, die auf die Anerkennung der Nachkriegsgrenzen zielte. Sie war zugleich eine moralische Anstrengung mit der die Bundesregierung auf diejenigen Staaten zuging, die in besonderer Weise unter Besatzung und Vernichtungskrieg gelitten hatten. Der Kniefall Willy Brandts im ehemaligen Warschauer Ghetto steht bis heute als Symbol für einen Willen zum Neubeginn ohne Vergessen. Der demütige Kanzler prägte ein neues Bild Deutschlands. Bereits zeitgenössisch wurde anerkannt, dass Brandt damit Adenauers historische Aussöhnung mit Frankreich ergänzte. In diesen Jahren löste sich Bonn von einem außenpolitischen Denken, dem allein nationale Interessen zu Grunde langen. Die Ostpolitiker handelten, in den Worten Brandts, „als deutsche Patrioten in europäischer Verantwortung“. Eine Verringerung der Spannungen und die Festigung des Friedens in Europa waren ihr Leitmotiv. Nationale Interessen bestimmten allerdings die Beziehungen zur DDR. Egon Bahr wollte von „Deutschland retten, was zu retten ist“ und dies konnte nur im Dialog mit der SED geschehen. Mit dem Grundlagenvertrag von 1972 einigten sich Bonn und Ost-Berlin auf einen tragfähigen Kompromiss, der das Fundament einer neuen Deutschlandpolitik bildete. Schließlich wurden die bilateralen Abkommen der Bundesrepublik mit Osteuropa durch das Abkommen über Frieden und Zusammenarbeit ergänzt, das im Sommer 1975 in Helsinki von den Staaten Europas und Nordamerikas unterzeichnet wurde. Im berühmten „Korb III“ der KSZE-Schlussakte wurde die Entspannungspolitik explizit mit der Frage der Menschenrechte verknüpft.
Die Neue Ostpolitik war ebenso populär wie umstritten. Sie durchzusetzen bleibt eine bedeutende Leistung der Regierung Brandt. Es war keine Politik, die bequem zu verteidigen war – weder im Plenum des Deutschen Bundestages noch in der deutschen Öffentlichkeit. Gerade die Vertriebenen, deren Illusionen über Jahrzehnte genährt worden waren, leisteten Widerstand gegen die Ostverträge. Diesen innenpolitischen Konflikt nicht gescheut zu haben, ist auch ein Verdienst der damaligen Regierung. Die emotionsgeladenen Kontroversen dieser Jahre erscheinen in der Rückschau teilweise anachronistisch; festzuhalten bleibt jedoch, dass sich die Öffentlichkeit und insbesondere die Intellektuellen an der außenpolitischen Debatte mit einer Leidenschaft beteiligten, die heute kaum noch vorstellbar ist. In der Berliner Republik wird die Außenpolitik in weit größerem Maße den Beamten, Experten und Kommentatoren der Tagespresse überlassen. Eine mit der Debatte über die Ostverträge vergleichbare Diskussion über die Frage, wie Deutschland sein vergrößertes Gewicht produktiv und gerecht in Europa und der Welt einbringen kann, ist bis heute unterblieben.
Neue Ostpolitik und Menschenrechte: Ansätze zur kritischen Historisierung
Der Diskurs über die Menschenrechte geht auf die naturrechtlichen Vorstellungen der Aufklärung, die amerikanische und die französische Revolution zurück. In ihrem Kern sollen sie jedem Menschen ein Leben ohne Unterdrückung und in körperlicher Unversehrtheit ermöglichen; sie bedeuten die Abwesenheit staatlicher Willkür und Gewalt und in ihrer sozialen Dimension den Schutz vor Hunger und Deprivation. Das Universalisierungsprinzip und das Differenzierungsverbot gebieten ihre uneinschränkbare Gültigkeit. Die so genannte „Menschenrechtsrevolution“ in der internationalen Politik fällt hingegen erst in die Nachkriegszeit und ist mit der Gründung der Vereinten Nationen verbunden. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde am 10. Dezember 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedet. Hier wurde erstmals anerkannt, dass nicht nur Staaten, sondern auch Individuen – unabhängig von ihrer Nation, Rasse oder ihrem Geschlecht – Subjekte des Völkerrechtes sind. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit einflussreicher Mitglieder der Vereinten Nationen wie etwa in der Stalinschen Sowjetunion war diese Deklaration jedoch Makulatur. Diktaturen und autoritäre Regime verletzten und verletzen sie tagtäglich. Doch auch in Demokratien musste und muss um die Einhaltung grundlegender Rechte immer wieder gekämpft werden. Es gehört zur Natur der Menschenrechte, dass sie im Konflikt durchgesetzt werden.
Es war der Kerngedanke von Egon Bahrs Konzept des „Wandels durch Annäherung“, das die theoretische Grundlage der Neuen Ostpolitik bildete, die kommunistischen Regime als schwache Regierungen anzusehen, die sich wegen der fehlenden Legitimität ihrer Herrschaft auf Gewalt stützen. Indem man den äußeren Druck auf diese Staaten verminderte, so Bahrs These, werde es ihnen ermöglicht, ihren Bürgern größere Spielräume zu lassen. So sollten nicht nur die Gesellschaften des Westen, sondern auch die Bürger hinter dem Eisernen Vorhang von der Entspannung profitieren. Die Erfahrungen der siebziger und achtziger Jahre zeigen, dass diese Annahme voreilig war. Während die außenpolitischen Meriten der Entspannungspolitik unumstritten sind, wird in der zeithistorischen Forschung kritisiert, dass insbesondere die Bundesregierung aus der ausbleibenden inneren Liberalisierung im Ostblock und in der DDR keine Konsequenzen zog. Sie setzte den Dialog bis zum Herbst 1989 auch dann fort, wenn sie die Situation der Menschen im Ostblock verschlechterte. Westliche Politiker, so die klassische Kritik von Timothy Garton Ash, seien so auf die Stabilität der bestehenden Ordnung fixiert gewesen, dass sie die Freiheit der Subjekte kommunistischer Herrschaft aus den Augen verloren. Inwieweit trifft diese Kritik zu?
Die Diplomatie ist kein Raum für deutliche Sprache. Ein Blick in die Quellen verdeutlicht, dass dies in besonderem Maße für die Verlautbarungen der Entspannungspolitik der späten siebziger und achtziger Jahre gilt. Die Floskeln von Frieden, Stabilität, Partnerschaft und Entspannung, die zur Annäherung nützlich waren, verselbständigten sich und verkleisterten zunehmend die grundlegenden Unterschiede zwischen den politischen Systemen. Es gab eine Scheu, Konfliktlagen – und sei es nur in Andeutungen – öffentlich zu machen. Dies galt insbesondere für die Menschenrechtslage unter kommunistischer Herrschaft, die bis 1989 ein Thema war, dass alle Parteistaaten Osteuropas gern totgeschwiegen hätten. Freiheitsbewegungen wie in Polen wurden primär als Krisen und Bedrohungen wahrgenommen, die zu Instabilität führen könnten. Es gab selbst dann von westdeutscher Seite deutliches Entgegenkommen, als die polnischen Machthaber im Dezember 1981 die Protestbewegung Solidarnosc mit dem Kriegsrecht unterdrückten. Trotz der Panzerkolonnen auf den Straßen und Plätzen Polens beendete Bundeskanzler Helmut Schmidt sein Treffen mit SED-Chef Erich Honecker am Werbellinsee nicht. Bonn war nicht bereit, durch symbolischen Protest die deutsch-deutschen Beziehungen zu gefährden. So entstand bei der polnischen Opposition der Eindruck, dass die Bundesrepublik europäische Stabilität mit der Aufgabe ihrer Freiheiten erlangen wolle.
Am repressiven Charakter der SED-Herrschaft änderte sich nichts
Auch in der DDR selbst führte die Neue Ostpolitik nicht zur erhofften Liberalisierung. Gewiss konnte die Bundesrepublik gegenüber Ost-Berlin die Menschenrechte nicht zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Politik machen. Aus berechtigtem nationalen Interesse wurde der deutsch-deutsche Dialog fortgeführt. Auf dem Verhandlungswege konnten einige wichtige Erleichterungen für die Menschen in Ost und West durchgesetzt werden – doch der repressive Charakter der SED-Herrschaft änderte sich nicht. Im Gegenteil: Die SED-Führung beantwortete die Entspannungspolitik mit einer verschärften Abgrenzung gegenüber dem Westen. Das engmaschige Überwachungsnetz der Staatssicherheit wurde ständig erweitert und die Grenzsicherungen ausgebaut. Auch andere repressive Tendenzen, wie etwa die innere Militarisierung der DDR-Gesellschaft, verstärkten sich in den siebziger und achtziger Jahren. Noch schwerwiegender als die ausbleibende Liberalisierung war die Tatsache, dass westdeutschen Politiker zunehmend der Maßstab dafür abhanden kam, mit wem sie es auf der Gegenseite zu tun hatten. Helmut Kohls Empfang Erich Honeckers als Staatsgast im September 1987 in Bonn mag noch in der Logik der Entspannungspolitik gelegen haben. Zur gleichen Zeit reiste jedoch eine Generation junger SPD-Politiker mit einer Selbstverständlichkeit nach Ost-Berlin, die aus heutiger Perspektive befremdlich ist. Enge persönliche Verbindungen mit autoritären Machthabern unterminierten die eigene Glaubwürdigkeit – eine Erfahrung, die in Menschenrechtsfragen auch heute noch gültig ist. Während viel von der deutschen Verantwortung für den Frieden die Rede war, wurden die Menschenrechte – wenn überhaupt – hinter verschlossenen Türen angesprochen. Hier ist den Kritikern zuzustimmen, dass besonders die Nebenaußenpolitik, die von der SPD aus der Opposition betrieben wurde, von einem bedenklichen Verlust westlicher Werte gekennzeichnet war. Kritik an diesem Kurs kam allerdings zeitgenössisch auch von einer Minderheit in der Partei selbst. So warnte Gesine Schwan bereits 1987, dass man mit Schmeichelei bei den kommunistischen Machthabern nichts erreichen werde. Sie und andere mahnten die SPD, dass die deutsche Außenpolitik ein Mindestmaß an Druck auf autoritäre Regime ausüben müsse, um Veränderungen zu bewirken. Allein mit Entgegenkommen konnte kein Wandel erreichet werden.
Am Ende herrschten Erstarrung und moralische Indifferenz
Kurzum: seit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan und der polnischen Krise kam die Epoche der Détente an ihr Ende. Das galt jedoch nicht für ihre deutsche Spielart, die Entspannungspolitik. Wie bereits erwähnt, gab es ein überragendes nationales Interesse an der Fortsetzung des Dialogs; doch es existierten Schwerpunktsetzungen, die von anderen westlichen Staaten abwichen und teilweise bis heute fortwirken. Jimmy Carters Menschenrechtskampagne stieß in Bonn eher auf Skepsis und Befremden. Mittlerweile hatte sich die deutsche Entspannungspolitik von ihren moralischen Wurzeln entfernt und war zur Realpolitik geworden. Mit ihrer Konzentration auf Moskau und auf die deutsche Frage stand sie dabei durchaus in einer langen Tradition preußisch-deutscher Außenpolitik. Die deutsche Außenpolitik insgesamt, aber insbesondere auch die Opposition, die weit weniger an die Staatsräson gebunden war, versäumte es in den achtziger Jahren, breite Kontakte zu den Dissidentenbewegungen in Osteuropa und der DDR aufzubauen. Im Gegenteil: Der politische Dialog mit ihnen wurde häufig vermieden, weil man den Konflikt mit den Machthabern scheute. Diese Kurzsichtigkeit rächte sich nach 1989, als die Christdemokraten häufig die besseren Kontakte und das höhere Prestige bei den Dissidenten hatten, die nun in Ostmitteleuropa in den Schaltstellen politischer Macht saßen. Die Entspannungspolitik, die als ein phantasievoller Ansatz begonnen hatte, endete in Erstarrung und moralischer Indifferenz. Sie versäumte es, sich rechtzeitig aus der einseitigen Fixierung auf die Korridore der Macht zu befreien und auch den Dialog mit der Opposition zu suchen. Im Gegensatz zu den Dissidenten konnte sich die deutsche Politik bis in den Herbst 1989, keine andere Ordnung als die von Jalta mehr vorstellen. Dies war eine Konsequenz ihrer einseitigen Ausrichtung auf die parteistaatlichen Machthaber. Menschenrechtspolitik bedeutet, dass die Mächtigen kritisiert und die Machtlosen gehört werden. Beides unterblieb in den achtziger Jahren.
Das erhoffte Zeitalter des Friedens in Europa, das auf das Ende des Kalten Krieges folgen sollte, ist nur dort Wirklichkeit geworden, wo die Menschenrechte durchgesetzt wurden. Auch nach 1990 fällt eine Bilanz deutscher Außenpolitik gemischt aus: Neben der Erfolgsgeschichte der EU-Erweiterung in Osteuropa steht die bestenfalls ambivalente Rolle Deutschlands und Europas in den neuen Kriegen der neunziger Jahre und im Kampf gegen den radikalen Islam nach dem 11. September 2001.
Nach 1990 gab es zunächst keine zwingenden Gründe zu einer Revision deutscher Außenpolitik. Auch das vereinte Deutschland trat für Frieden und Stabilität ein. Trotz neu gewonnener nationaler Souveränität blieb die deutsche Außenpolitik zurückhaltend – und der entspannungspolitischen Tradition verpflichtet. Bald zeigte sich jedoch, dass anstelle des voreilig diagnostizierten „Endes der Geschichte“ neue Herausforderungen traten. Doch wie schon in den siebziger und achtziger Jahren fiel es der deutschen Diplomatie schwer, bei Menschenrechtsverletzungen Partei zu ergreifen und das Gewicht des eigenen Landes in die Waagschale zu werfen. Dies zeigte sich zuerst beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens, wo erst das amerikanische Eingreifen eine neue Friedensordnung erzwang und wiederum unter US-Führung, aber unter deutscher Beteiligung, dem Milosevic-Regime der entscheidende Schlag versetzt wurde. Schwerer wiegt die problematische Haltung zur Entwicklung in Russland, dem auch in den neunziger Jahren ein besonderer Schwerpunkt deutscher Bemühungen galt. Hier wurde darauf verzichtet, Kritik zu üben, Alternativen aufzuzeigen und den Dialog mit der Zivilgesellschaft zu pflegen.
Gute Beziehungen zu Russland – um welchen Preis?
Gute Beziehungen zu Russland sind seit jeher ein Imperativ deutscher Außenpolitik. Seit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums erscheint eine unipolare Ostpolitik, die primär die Beziehungen zu Moskau pflegt, jedoch antiquiert. Russland ist zwar bei weitem die größte Macht östlich unserer Grenzen, aber die Staaten Ostmitteleuropas und die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, deren Interessen sich oft signifikant von denen Russlands unterscheiden, sind ebenfalls potente Partner der Bundesrepublik. Seit der Herrschaft Michail Gorbatschows hat die Bundesrepublik immense Anstrengungen unternommen, zunächst die UdSSR und dann das postkommunistische Russland zu stabilisieren. Damit stand die Außenpolitik nach 1990 insofern in der Tradition der Neuen Ostpolitik als den Beziehungen zu Moskau erneut eine Vorrangstellung zukam. Wie in den Jahren des Kalten Krieges scheute die deutsche Politik zudem davor zurück, Menschenrechtsverletzungen in Russland zu kritisieren. Was vor 1990 noch als deutschlandpolitisches Kalkül durchgehen konnte, wirkt mittlerweile wahlweise als unreflektierte Verlängerung des überkommenen Entspannungsparadigmas oder als zynische Realpolitik, die im besten Fall dazu dienen kann, vermeintliche Sicherheiten bei der Energieversorgung zu erlangen. Bereits während des ersten Tschetschenienkrieges hielt sich Deutschland, das zu diesem Zeitpunkt einer der wichtigsten Gläubiger Russlands war, mit Kritik zurück, und selbst als nach Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges deutlich wurde, dass in Russland Bestrebungen bestanden, die Liberalisierungen der neunziger Jahre zurückzunehmen, kam aus Berlin kein vernehmbarer Widerspruch. Im Namen der Stabilität – ein Begriff, der mittlerweile Einzug in die Selbstdarstellung der russischen Elite gefunden hatte – wurde der massive Abbau demokratischer Rechte beschwiegen. Wie im Kalten Krieg scheute sich die Bundesregierung, Menschenrechtsverletzungen beim Namen zu nennen. Und wiederum führte diese Politik der Besänftigung nicht zu einem Rückgang der Repression, sondern zu ihrer Steigerung. Der Abbau demokratischer Freiheiten, die Rückkehr willkürlicher Gewalt, die Schauprozesse und die neoimperiale Rhetorik hätten Grund genug sein sollen, nicht nur von einer privilegierten Partnerschaft zu sprechen.
Während die russische Gesellschaft längst im „nicht erklärten Ausnahmezustand“ (Michail Ryklin) lebte, nahm die deutsche Politik dies öffentlich kaum zur Kenntnis und ließ die Beziehungen nach dem Prinzip Business as usual weiterlaufen. Weil die Herrschenden nicht provoziert werden sollten, wurde wiederum der Kontakt zur Zivilgesellschaft vernachlässigt. Das russische Beispiel verdeutlicht, dass die kritische Historisierung der Entspannungspolitik die politischen Entscheidungsträger nicht erreicht hat. Die Hoffnung auf Liberalisierung durch Besänftigung bleibt problematisch und auf Stabilisierung ohne Liberalisierung eine Chimäre. In der Ausgabe I/2008 von Foreign Affairs haben die Politikwissenschaftler Michael Mc Faul und Kathryn Stoner-Weiss aufgezeigt, dass die vermeintliche Stabilisierung Russlands durch autoritäre Herrschaft ein Mythos ist. Freilich, so könnte man hinzufügen, ein bequemer Mythos, der in Deutschland gern geglaubt wird. Nach meiner Ansicht gilt es, hier umzudenken und die Erfahrungen zu berücksichtigen, die vor 1989 im Umgang mit autoritären Regimen gesammelt wurden. Dies ist umso notweniger, als die kurzsichtige Fixierung auf die russische Führung ansonsten Deutschlands moralischer Autorität in Mittel- und Osteuropa Schaden zufügen würde. Glaubwürdig kann auf die Dauer nur sein, wer sich zu seinen eigenen Werten bekennt. Und eine Stabilität ohne Menschenrechte bleibt prekär.
Für eine stärkere Betonung der Menschenrechte in der Außenpolitik
Das universale Prinzip der Menschenrechte lässt sich nur unzureichend in nationale Politik übersetzen. Die Außenpolitik eines großen europäischen Staates kann sich nicht vorbehaltlos abstrakten Prinzipien unterwerfen. Natürlich kann man sich in der internationalen Politik sein Gegenüber nicht wählen; Deutschland kann sich jedoch aussuchen, welchen ausländischen Regierungen es demokratische Legitimität bescheinigt und Anerkennung zukommen lässt. Denn der hier unternommene Blick in die jüngste Vergangenheit legt nahe, dass sich deutsche Staatsräson nicht exklusiv auf dem Ziel der Stabilität gründen sollte, sondern auch auf Werten. Friedenspolitik kann und sollte nicht heißen, dass deutsche Außenpolitik aktiv die Stabilisierung autoritärer Regime betreibt. Dies gilt insbesondere für die Sozialdemokratie, die nicht leichtfertig moralische Positionen räumen und der Realpolitik das Wort reden sollte. Ich bin der Ansicht, dass eine größere Betonung der Menschenrechte sowohl außen- als auch innenpolitisch vorteilhaft wäre. Dazu gilt es allerdings eine gewisse Konfliktscheu zu überwinden, die ein problematisches Erbe der Entspannungspolitik ist. Auch wenn es sich angesichts des deutschen Harmoniebedürfnisses um einen Stilbruch handelt, ist mehr Mut zu eigenen Werten, so denke ich, ein überfälliger Schritt. Es wäre schließlich verhängnisvoll festzustellen, dass sich die Sozialdemokratie mit beiden Füßen im Lager der Realpolitker wiederfindet.
Eine stärkere Betonung der Menschenrechte ginge einher mit einer kritischen Rückbesinnung auf die Verankerung Deutschlands im Westen, auf ein geteiltes Wertefundament, das es zu verteidigen lohnt. Menschenrechtspolitik ist nur im Verbund mit Demokratien möglich, die Autorität der Vereinten Nationen mit ihrer heterogenen Mitgliedschaft ist hier schwach. In aller Regel ist Menschenrechtspolitik eine symbolische Politik. Sie sucht den Dialog, aber verbindet ihn mit dem Mut zu sachlicher Kritik. Doch sie bekennt sich auch zu einem vorsichtig zu gebrauchenden Maßnahmenkatalog, der vom Tadel über die Sanktion bis zum Extremfall der Intervention reicht. Wichtiger als diese konfrontative Seite scheint mir jedoch der Dialog. Menschenrechtspolitik unterscheidet sich insofern von klassischer Diplomatie als sie neben den Dialog zwischen Herrschenden immer das Gespräch zwischen Gesellschaften stellt. Eine Außenpolitik, die sich beim Umgang mit autoritären Regimen allein auf die Herrschenden beschränkt, ist nicht nur unmoralisch, sondern auch unklug. Sie verbaut den Weg zu wichtigen Kontakten mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, die den Wandel in ihren Ländern vorantreiben. Doch eine offensivere Betonung der Menschenrechte hat nicht nur Rückwirkungen auf den Umgang mit autoritären Herrschern. Ihre Aufwertung hilft auch bei der Kritik an westlichen Partnern, die dieses gemeinsame Fundament verlassen. Das Bekenntnis zu universalen Rechten dient so dem Aufbau von Vertrauen und moralischem Kapital.
Auch in der Innenpolitik kann das Thema Menschenrechte zur Profilierung sozialdemokratischer Politik beitragen. Hier geht es zunächst darum, dieses Feld nicht den Grünen und der CDU zu überlassen. Doch es eignet sich auch hervorragend zur Abgrenzung von der Linkspartei, die besonders in der Außenpolitik mit zweierlei Maß misst und mit zweifelhaften Freunden paktiert. Das gespaltene Verhältnis der Linkspartei zu den Menschenrechten manifestiert sich beispielsweise in ihrer Verklärung des kubanischen Regimes („Cuba si!“) oder in der weit verbreiteten DDR-Nostalgie. Deutlicher als in der Außenpolitik lässt sich die Differenz zwischen sozialdemokratischem Selbstverständnis und der Politik der SED-Nachfolger kaum benennen. Dazu gehört, auch wenn das nicht immer populär ist, dass das globale Engagement der Bundeswehr heute ein Symbol der Menschenrechtspolitik Deutschlands ist.
Rückbesinnung auf sozialdemokratische Freiheitstraditionen
Menschenrechtspolitik zu betreiben heißt, sich nicht von vorneherein mit den vermeintlichen Realitäten anderer Länder abzufinden, sondern sich immer wieder universaler Werte zu vergewissern und sie, wenn es klug erscheint, offensiv zu fordern. Es ist ein Trugschluss zu glauben, man komme der Verwirklichung der Menschenrechte primär dadurch näher, dass man aufhört, sie öffentlich einzufordern. Die Erfahrung der Ostpolitik weist in die gegenteilige Richtung. Natürlich sollten die Verantwortlichen sich der Grenzen äußerer Einflussnahme bewusst sein. Doch in einer globalisierten und nicht zuletzt auch medialisierten Welt werden symbolische Gesten, öffentliche Appelle immer größere Bedeutung bekommen, weil ihre Sichtbarkeit alle Akteure zum Handeln zwingt. Eine konsequente Menschenrechtspolitik, die auch öffentlich die Werte nennt, zu denen Deutschland sich bekennt, verärgert sicher manchen Handelspartner. Wenn sie jedoch berechenbar ist und nicht darauf abzielt, andere Staaten zu schulmeistern, zerstört sie keineswegs das Vertrauen dieser Staaten. Vielmehr würde das Gewicht Deutschlands dadurch gestärkt, dass es sich – noch stärker als bisher – moralisches Kapital aufbaut. Deutschland sollte weiter daran arbeiten, eine überzeugende Balance zwischen „Friedensmacht“ und Menschenrechtsanwalt zu finden – dies entspräche nicht zuletzt einer Rückbesinnung auf die Freiheitstraditionen der SPD.