Mit linken Illusionen ins Abseits
Tiefe Niedergeschlagenheit, Pessimismus und düstere Prognosen über das Ende der Labour Party als prägende Kraft – diese Reaktionen dominierten die Tage nach den britischen Unterhauswahlen am 7. Mai 2015. „Could Labour die?“, fragt der Labour-Abgeordnete Steve Reed. „Die Antwort muss ja lauten.“ Nur im linken Gewerkschaftsflügel, der in der Parlamentsfraktion stärker als zuvor vertreten ist, waren trotzige Stimmen zu vernehmen. Die Rettung für die Partei sieht er in einem noch schärferen Linkskurs.
Folgte man diesem Flügel, würde sich Labour noch entschlossener in die klassische Komfortzone linker Parteien zurückziehen als ohnehin schon. Dieser Versuchung erliegen eigentlich alle progressiven Parteien nach dem Verlust von Regierungsmacht. Das Verhaltensmuster ist wohlvertraut: Nur selten akzeptieren Mitglieder und Aktivisten die Abstriche von der reinen Lehre, die das Regieren zwangsläufig abverlangt und die Mehrheitsfähigkeit oft überhaupt erst ermöglicht hatte. In der Opposition wirken sie dann stets wie befreit. Nun lassen sich Ideale hochhalten und Forderungen stellen, die das gute Herz der Partei beweisen sollen. Nun braucht man sich nicht länger mit der lästigen Frage abzuplagen, wie die hehren Absichten zu bezahlen sind. Nun lässt sich der politische Gegner – ob Konservative oder Christdemokraten – nach Belieben als hart, zynisch und unsozial verdammen.
Rückzug in die linke Komfortzone
So war es nach Tony Blairs Abgang 2007. Und noch deutlicher vollzog sich dieser Prozess in der deutschen Sozialdemokratie nach der Wahlniederlage von 2005. Flugs distanzierte sich die SPD von der Agenda 2010 und den Sozial- und Arbeitsmarktreformen, obwohl sie Deutschlands relative Stärke im krisengeschüttelten Europa begründeten, und fuhr andere Reformen zurück, etwa die Einführung von Studiengebühren. Das Resultat: Bei den Bundestagswahlen 2009 und 2013 erhielt die SPD noch einmal rund zehn Prozentpunkte weniger als im Jahr 2005.
Nach ähnlichem Muster verlief es seit 2010 in der Labour Party unter Ed Miliband. Die Staatsschulden und das riesige Haushaltsdefizit? Alles die Schuld skrupelloser Banker! Die Kürzungsbeschlüsse der Regierung Cameron/Clegg? Ein grausamer Kahlschlag, dem es sich zu widersetzen gilt! Labour leugnete jede Verantwortung für die desolate finanzielle Situation des Landes bei Ausbruch der internationalen Krise. Bezeichnend dafür war Milibands Freudsche Fehlleistung, als er bei seiner letzten Parteitagsrede vor der Wahl schlicht vergaß, Schulden und Defizit zu erwähnen – ein Versäumnis, das ihn anschließend zutiefst deprimierte, wie jetzt der Guardian enthüllte. In diesem Augenblick scheint Miliband die Unabänderlichkeit der dräuenden Niederlage bewusst geworden zu sein.
Andere hatten das vernichtende Urteil der Wähler von Beginn an erwartet, aber dies nur im privaten Kreis verlauten lassen. Denn fünf Jahre lang war Einigkeit das Motto der Partei gewesen. Die „Blairites“ fürchteten eine Art Dolchstoßlegende und vermieden, wie schwer es auch fiel, öffentliche Kritik. Selbst die moderaten Linken und dezidierte Anhänger des Linkskurses von „Red Ed“ zogen es vor, bis zum Schluss über Unzulänglichkeiten und Schwächen ihres Parteiführers zu schweigen, der das Etikett „Studentenpolitiker“ nie loswurde, das ihm David Cameron während eines Rededuells im Parlament verpasst hatte.
Niemand wollte sich vorwerfen lassen, die Niederlage herbeigeredet oder Schuld am Wahldesaster zu haben. Das mag erklären, wie rasch die Schuldzuweisungen nach dem 8. Mai 2015 auf Miliband selbst einprasselten. Auch Vertreter des linken Flügels konnten es kaum abwarten, sich von seiner Politik zu distanzieren. Es war beinahe unwürdig, wie eilig sogar engste Berater und Mitglieder seines Schattenkabinetts die Serie von Fehlern im Wahlkampf auflisteten. Und die mansion tax auf Häuser im Wert von mehr als 2 Millionen Pfund verschwand selbst aus den Forderungskatalogen linker Bewerber um den Parteivorsitz.
Der breiten Mitte blieb Miliband fremd
Gewiss erwies sich Milibands Person als ein unüberwindbares Hindernis. Auf die große Mehrheit der Wähler wirkte der Sohn eines marxistischen Professors nie wie ein künftiger Premier. Viele fanden Ed Miliband eigenartig, stießen sich an seiner Stimme und dem starren Blick, auch hing ihm der Ruf des „Brudermordes“ gegen David Miliband nach.
Vor allem auch die working class und die breite untere Mittelschicht konnte mit dem „kulturellen Marxisten“ aus London Islington nichts anfangen. Genau diese Gruppe hatte Tony Blair und Gordon Brown zu drei Wahlsiegen verholfen. Nun stieß sie sich an Labours fehlendem Realitätsinn; sie war genervt von der Jammerarie über die unteren 10 Prozent und den Reichtum des oberen 1 Prozent; sie vermisste Optimismus und Aufstiegsrhetorik; und sie störte sich am exzessiven „Kult der Diversität“ und der politischen Korrektheit, wie sie in den urbanen Kreisen gepflegt wird. Dieser breiten Wählerschicht entging nicht die kaum verhohlene Verachtung für ihre Instinkte und Vorlieben, wie sie viele Labourpolitiker aus der multikulturellen Metropole London zum Ausdruck bringen. Von dieser Haltung profitierte UKIP in den Midlands und im Norden, während Labour im Süden Englands fast ausgelöscht wurde.
Ausschlaggebend aber war, wieder einmal, dass die Partei der guten Absichten als unfähig gilt, verantwortlich mit Geld umzugehen. Milibands offizieller Meinungsforscher William Morris befand: „Da war das übermächtige Gefühl, dass wir zu viel Geld ausgeben werden und dass man uns die Wirtschaft nicht anvertrauen kann.“ Über fünf Jahre hinweg geübte Kritik an Kürzungen und Stellenabbau im öffentlichen Dienst durch die Regierung Cameron – die Hauptstoßrichtung der Wahlkampagne von Ed Miliband – habe „das Gefühl nur noch verstärkt, Labour würde erneut zu viel Geld ausgeben und habe nichts dazugelernt“.
Das Glaubwürdigkeitsproblem der Partei in Wirtschaftsfragen besteht fort. Die britischen Wähler, vor allem in England, bezweifeln nicht nur die ökonomische Kompetenz, sondern auch die Fähigkeit Labours, den Sozialstaat zu reformieren, der in der bisherigen Form nicht mehr bezahlbar ist. New Labour hatte dieses Thema bereits in den späten neunziger Jahren identifiziert, inzwischen ist es wieder deutlich ins Hintertreffen geraten. Dies sollte auch anderen sozialdemokratischen Parteien zu Denken geben.
Eine progressive Mehrheit gibt es nicht
Als Illusion erwies sich die Annahme, die europäische Schulden- und Bankenkrise sowie die wachsende Ungleichheit hätten die politische Landschaft radikal zugunsten einer Politik verändert, die auf Umverteilung, Steuererhöhungen (vor allem für die Reichen) und auf stärkere wirtschaftliche Lenkungselemente wie eine Mietpreis- und Energiepreisbremsen setzt. Die politischen Erfolge linker Parteien im südlichen Europa verstärkten diese Erwartung noch. Ed Miliband hatte den Wahlsieg von François Hollande als „Signal für Europas Linke“ gefeiert. Man darf füglich annehmen, dass Ed Miliband, wäre er denn am 8. Mai in die Downing Street eingezogen, ein ähnlich bitteres Schicksal wie dem französischen Präsidenten beschieden gewesen wäre: Hollande mutierte im ersten Jahr seiner Amtszeit zum unpopulärsten Staatsoberhaupt in der Geschichte seines Landes und war zu einer radikalen Umkehr in seiner verheerenden Wirtschaftspolitik gezwungen.
Doch all das hält einige deutsche Sozialdemokraten nicht davon ab, Syrizas Wahlerfolg in Griechenland als Signal der Hoffnung zu bewerten. In Wirklichkeit ist diese Partei vollkommen disparat; das Spektrum reicht von illusionären Sozialisten bis hin zu nationalistisch-totalitären Elementen. Eine ähnliche Mischung lässt sich übrigens bei den schottischen Nationalisten finden, die Labour in Schottland dezimierten.
Aber selbst ohne die vernichtende Niederlage in ihrer einstigen Hochburg hätte Labour bei dieser Wahl keine Chance gehabt. Die progressive Mehrheit, die Labour immer wieder heraufbeschwor, gibt es in Großbritannien nicht mehr. In Zukunft könnte es für Labour sogar noch schlimmer kommen.
Jetzt kann Cameron Fakten schaffen
Wider Erwarten entpuppte sich die Wahl von 2015 als Zäsur, ähnlich wie die Wahl im Jahr 1945, als Labour gegen Winston Churchill gewann, oder wie die Wahl 1979, als Margaret Thatcher ans Ruder kam. Mit Abstrichen kann noch das Jahr 1997 dazu gezählt werden, als Blairs Serie von Wahlsiegen begann. In allen Fällen bestimmten die Sieger anschließend die Großwetterlage und zwangen dem politischen Gegner Veränderungen auf. So mussten die Tories nach dem Zweiten Weltkrieg den Wohlfahrtsstaat samt universalistischem Gesundheitswesen akzeptieren. Und Margaret Thatcher schuf nach 1979 eine ökonomische Realität, hinter die später Tony Blair nicht zurückfallen konnte.
David Cameron wiederum musste Blairs Hinterlassenschaft hinnehmen: bessere Schulen und Krankenhäuser, den Mindestlohn, eine unabhängige Bank von England und mehr soziale wie kulturelle Toleranz. Nun hat ausgerechnet David Cameron – gewiss kein Überzeugungspolitiker! – die Chance, das Land radikal umzugestalten und neue Fakten zu schaffen, die Labour vor große Probleme stellen wird.
Wahlen werden in der Mitte gewonnen
Der Premier wird fortsetzen, womit er in den vergangenen fünf Jahren begonnen hatte – übrigens durchaus mit Erfolg. Unter Cameron wuchs Großbritanniens Wirtschaft stärker als in allen anderen OECD-Ländern. Das Land schuf zwei Millionen neue Arbeitsplätze im Privatsektor, davon 75 Prozent Vollzeitstellen. Zugleich wurden rund eine Million öffentliche Stellen abgebaut. Nun wird die Regierung auch die begonnenen Sozialreformen weiter vorantreiben. Künftig darf niemand mehr als 23.000 Pfund Sozialleistungen im Jahr beziehen; bislang waren es 26.000 Pfund. Arbeit soll sich noch stärker lohnen und Untätigkeit deutlich weniger lukrativ werden. Diese Maßnahmen stoßen auf Zustimmung bei etwa 80 Prozent der Bevölkerung. Unter Ed Miliband protestierte Labour noch dagegen, doch die kommissarische Parteivorsitzende Harriet Harman sagte jüngst, sie habe „Sympathie“ für die neue niedrigere Obergrenze.
Mit anderen Worten: Der Staat wird schlanker und die Zahl der Empfänger von staatlichen Leistungen und Zuwendungen wird sinken. Dies wird die Wahlchancen von Labour weiter verringern. Die Anwärter auf Ed Milibands Job haben es nicht leicht, mit der rasch verändernden Wirklichkeit Schritt zu halten und eine überzeugende Antwort zu finden. Vielleicht ist es deshalb ratsam, in drei Jahren die Personalentscheidung noch einmal zu überprüfen und womöglich neu zu wählen.
Klar ist: Nichts spricht in Großbritannien derzeit für eine linke Trendwende. Überhaupt widerspricht das Wahlverhalten der Europäer und Amerikaner in den vergangenen zehn Jahren der Interpretation, die Zeit der linken Renaissance sei angebrochen. Zu dieser Renaissance kam es nicht – trotz schamloser Banker und Thomas Pikettys Thesen. Stattdessen haben wir eine Stärkung populistischer Parteien von links wie rechts erlebt, wobei das Vordringen des linkspopulistischen Diskurses bis weit hinein in sozialdemokratische Parteien vielleicht sogar das größere Problem darstellt. Dieser Diskurs verstellt den Blick auf die Realitäten und auf das, was machbar und durchsetzbar ist. Parteien wie Labour und die SPD werden es in Zukunft noch schwerer haben, über ihre Kernwählerschaft hinaus in neue gesellschaftliche Wählerschichten vorzudringen.
Wer erfolgreich sein will, muss die eigene Partei herausfordern. Er muss ihr unbequeme Wahrheiten zumuten und sie ins politische Zentrum führen. Dort werden noch immer die Wahlen gewonnen. Tony Blair und Gerhard Schröder hatten dies verstanden. Dazu gehört auch die Einsicht, dass der Kapitalismus trotz aller ihm immanenten Ungleichheiten und Krisen zugleich Massenwohlstand produziert und ohne Alternative geblieben ist. In Deutschland scheinen viele vergessen zu haben, wie desolat, umweltzerstörerisch und innovationsunfähig der Sozialismus war und wie wenig er für die Menschen getan hat. Vielleicht besteht der tiefere Grund für Labours vernichtende Niederlage darin, dass die Mehrheit der Wähler diese Lehre aus der Geschichte nicht vergessen hat. Deshalb sollten sich Sozialdemokraten auf die soziale Ausgestaltung der Marktwirtschaft konzentrieren. Umso mehr gilt: Wer Wahlen gewinnen will, muss sich von linken Illusionen verabschieden.«