Möglichkeiten und Grenzen deutscher Außenpolitik
Zum ersten Mal hat Deutschland in einem großen internationalen Konflikt eine Führungsrolle übernommen. In der Ukraine-Krise laufen die Fäden nicht in Washington, Paris oder Brüssel zusammen – sondern in Berlin. Dabei wurden nicht nur die Stärken, sondern auch die Schwächen Deutschlands als außenpolitischem Akteur offenbar. Auf der diplomatischen und ökonomischen Ebene spielt Deutschland in der globalen Liga mit. In der militärischen Dimension von Macht sind Deutschlands Optionen jedoch beschränkt.
Aus drei Gründen wurde Deutschland zum führenden Akteur. Erstens stieg Deutschland nach der Wiedervereinigung machtpolitisch auf: Deutschland ist das wirtschaftlich stärkste und bevölkerungsreichste Land im Zentrum Europas, und es ist tief in der Europäischen Union und dem transatlantischen Bündnis verankert. Zweitens war die Ukraine-Krise für Deutschland von zentraler Bedeutung, weil sie das Verhältnis zu Russland und Mittel- und Osteuropa infrage stellt. Drittens war niemand anders als Führungsmacht verfügbar: London hat sich selbst aus dem Zentrum der EU katapultiert; Paris ist ökonomisch geschwächt und fällt machtpolitisch hinter Deutschland zurück; Washington ist froh, wenn andere die Bürde der Verantwortung übernehmen. Und Brüssel spielt außenpolitisch nur eine marginale Rolle, da die großen Mitgliedsstaaten nicht bereit sind, wichtige außenpolitische Fragen an die EU zu delegieren.
Merkels Entschlossenheit kam überraschend
In dieser Gemengelage war es nicht verwunderlich, dass Deutschland eine wichtige Rolle in der Krise spielen würde. Und dennoch war die Entschlossenheit überraschend, mit der Berlin diese Rolle übernahm. Angela Merkel hatte zuvor keine großen außenpolitischen Führungsambitionen gezeigt. Sie tendierte eher dazu, die gewachsene Macht Deutschlands zu nutzen, um die Initiativen anderer zu bremsen, anstatt eigene voranzutreiben. Das zeigte sich während der Libyen-Intervention 2011 wie auch in Bezug auf den Bürgerkrieg in Syrien. Der Aufruf von Frank-Walter Steinmeier, Joachim Gauck und Ursula von der Leyen für eine aktivere deutsche Außenpolitik auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Januar 2014 richtete sich auch an die Kanzlerin.
Als die Ukraine-Krise ausbrach, kam nun zweierlei zusammen: Zum einen hatte Merkel bereits im Zuge der europäischen Schulden- und Finanzkrise Führungserfahrung innerhalb der EU erworben. Zum anderen stand für Deutschland schlicht zu viel auf dem Spiel, als dass man sich hätte heraushalten können. Seit 1990 hat sich Deutschland von einem Frontstaat in ein Land verwandelt, das umringt von Freunden ist. Wenn Russland nun wieder imperiale Gesinnungen zeigt und einen Nachbarstaat angreift, ist das von existenzieller Bedeutung für die deutsche Sicherheit und Prosperität.
Die deutsche Führung in der Ukraine-Krise hat einen kooperativen und multilateralen Charakter. Die Aufgabe, eine gemeinsame Position des Westens zu entwickeln, hat für Merkel und Steinmeier immer drei Dimensionen: in Deutschland Unterstützung zu gewinnen, in der EU eine kritische Masse hinter sich zu vereinigen und alle wichtigen Schritte mit den Vereinigten Staaten zu koordinieren.
Amerika war froh, dass Deutschland voran ging
Washington war froh, dass Deutschland die Führung übernahm; Obama und Merkel haben ihre Aktivitäten stets eng koordiniert. Der zweite Schlüsselpartner Berlins ist Paris. Die Einbeziehung Frankreichs war auf der Ebene der EU entscheidend. Gemeinsam besitzen Deutschland und Frankreich in Europa „kritische Masse“: Sind beide sich einig, stehen die Chancen gut, dass die übrigen 26 Mitgliedsstaaten zustimmen. Zugleich repräsentiert Frankreich auch diejenigen Länder des Südens, die vor einem härteren Kurs gegenüber Russland zurückschrecken. Ein deutsch-französischer Kompromiss ist auch ein Kompromiss zwischen diesen beiden europäischen Lagern. Grünes Licht kam auch von den Briten, die sich meist im Hintergrund hielten: London zeigte sich mit der deutschen Führung in der Krise grundsätzlich einverstanden. Der britische Außenminister Philip Hammond sagte kürzlich, Merkel sei eine der „Waffen”, die die „freie Welt” in der Ukraine-Krise einsetze.
In der Ukraine-Krise besteht der Ansatz Berlins aus drei Elementen: Erstens diplomatische Bemühungen, um permanent die Bereitschaft Moskaus auszuloten, eine diplomatische Lösung zu finden, zweitens Sanktionen gegen Russland, und drittens Unterstützung für die Ukraine.
Mit den Sanktionen werden gleich mehrere Zwecke verfolgt. Auf der einen Seite ging es darum, innerhalb des Westens einen Konsens aufzubauen, der zunächst fraglich war und immer wieder neu gefunden und bestätigt werden muss. Damit demonstrierte die EU den eigenen Öffentlichkeiten und dem Kreml gegenüber Entschlossenheit und Geschlossenheit. Die russische Führung musste erkennen, dass die EU die Annexion der Krim und den militärischen Angriff auf die Ostukraine geschlossen verurteilt und bereit ist, für Gegenmaßnahmen einen ökonomischen Preis zu zahlen.
Auf der anderen Seite besteht der Zweck der Sanktionen darin, die Optionen Moskaus in der Ukraine zu begrenzen. Jede neue Runde von militärischer Aggression durch Russland wurde mit weiteren Sanktionen beantwortet. Verstärkt durch den Fall des Ölpreises haben die Sanktionen in Russland eine Wirtschaftskrise ausgelöst, die in eine Legitimationskrise umschlagen könnte. Ob die Sanktionen dazu geführt haben, den Vormarsch der von Russland kontrollierten und bewaffneten Truppen in der Ukraine zu verlangsamen, ist umstritten. Immerhin hat der russische Oppositionelle Alexej Navalny in Le Monde die Auffassung vertreten, ohne die Sanktionen wäre die russische Armee bis nach Odessa durchmarschiert.
Im Gegensatz dazu handelte Deutschland in Bezug auf die militärische Dimension des Konflikts mit Russland äußerst zögerlich. Dass der Westen der Ukraine nicht aktiv dabei helfen würde, den russischen Angriff zurückzuschlagen, war von Beginn an klar. Dennoch umfasste die westliche Reaktion immer auch eine militärische Dimension: die Antwort der Nato auf die neue Lage im Osten sowie die Frage der Bewaffnung und des Trainings für ukrainisches Militär. Während Deutschland bei Diplomatie und Sanktionen führte, bremste es in allen militärischen Fragen.
Nimmt Berlin das Beistandsversprechen ernst?
Als Polen und Balten im Vorfeld des Nato-Gipfels in Wales im September 2014 forderten, die Nato müsse zum Schutz ihrer Ostflanke permanent Truppen in ihren Ländern stationieren, blockte Merkel gleich ab. Berlin machte sich dafür stark, ersatzweise eine kurzfristig mobilisierbare „Schnelle Eingreiftruppe“ aufzubauen. Aus der Sicht der Nachbarn im Osten ist das jedoch ein schwacher Ersatz. Nur die dauerhafte Stationierung von westlichen Truppen kann in ihren Augen garantieren, dass im Kriegsfall tatsächlich die Beistandspflicht des Artikels 5 zur Geltung kommt; eine Auffassung, die die Westdeutschen im Kalten Krieg, als sie selbst Frontstaat waren, übrigens teilten.
Doch Berlin vertrat die Auffassung, damit würde die Nato-Russland Akte von 1997 verletzt – eine Vereinbarung, die Russland jedoch mit dem Einmarsch in die Ukraine massiv gebrochen hatte. Verstärkt wurde der Eindruck deutscher Zögerlichkeit dadurch, dass Berlin wünschte, die Rückversicherungsmaßnahmen für die östlichen Nachbarn sollten jährlich von allen Mitgliedern neu beschlossen werden – eine Forderung, die Deutschland dem Spiegel zufolge aufgab, nachdem es „ganz alleine stand“.
Die deutsche Seite argumentiert, die permanente Stationierung von Truppen in den östlichen Nato-Mitgliedsländern würde von Russland als Provokation angesehen werden. Das Gegenargument lautet: Der Verzicht auf die Stationierung könnte der Kreml als Hinweis verstehen, dass Deutschland nicht vollständig hinter dem Nato-Beistandsversprechen steht und dass die Allianz schwach und gespalten ist. Eine solche Wahrnehmung könnte einen Anreiz für den Kreml darstellen, die Nato-Solidarität im Baltikum zu testen.
Auch eine militärische Unterstützung der Ukraine durch Waffenlieferungen und die Entsendung von Militärausbildern lehnte Deutschland von Beginn an lautstark ab. Als die Debatte im Januar 2015 an Fahrt gewann, sprach sich Merkel öffentlich dagegen aus. Damit schwächte sie im Vorfeld ihrer Reise mit François Hollande nach Moskau ihre Verhandlungsposition gegenüber Wladimir Putin ohne Not. Die Frage zunächst offen zu halten, wie dies Barack Obama tat, hätte den Kreml zumindest im Unsicheren gelassen.
Wenn es ernst wird, brauchen wir die Amerikaner
Militärisch ist Deutschland als außenpolitischer Akteur offenbar doppelt beschränkt. Zum einen, weil weite Teile der Bevölkerung alles, was mit dem Militär zusammenhängt, entschieden ablehnen. Zum anderen, weil Deutschland von der Sicherheitsgarantie seiner Alliierten abhängig ist. Die deutsche Zivilmacht bleibt essenziell auf die symbiotische Verbindung mit der Militärmacht der USA angewiesen, die Deutschland seinerseits rückversichert.
Russlands Stärke dagegen liegt spiegelverkehrt vor allem im Militärischen. Moskau versucht, diese Stärke in der Ukraine auszuspielen, während Deutschland sich darum bemüht, den Konflikt auf der diplomatischen und wirtschaftlichen Ebene zu lösen – also dort, wo es seine Stärken hat.
Deutsche außenpolitische Macht ist ihrem Wesen nach multilateral, diplomatisch und ökonomisch ausgerichtet. Aufgrund seiner starken Stellung in Europa kann Deutschland die EU und die USA mobilisieren und eine Koalition schmieden. Während der Ukraine-Krise hat Deutschland tatsächlich eine Rolle übernommen, die in der Vergangenheit nur die USA gespielt haben: Es hat die EU außenpolitisch geeint. Zugleich bedarf Deutschland dieses multilateralen Rückhalts, weil seine wichtigsten Instrumente – Diplomatie und Wirtschaftsmacht – nur dann effektiv sind, wenn sie von Deutschlands Partnern gestützt werden.
Die Grenzen deutscher außenpolitischer Führung sind allerdings dort erreicht, wo auf der anderen Seite ein Gegner steht, der nicht bereit ist, sich auf eine solche „postmoderne“ Außenpolitik einzulassen – ein Gegner, der auf militärische Gewalt zur Erreichung seiner Ziele setzt, und bereit und fähig ist, die deutsche Seite einzuschüchtern. Wenn die militärische Dimension der Macht ins Zentrum der Auseinandersetzung rückt, vermag Deutschland einem Aggressor wenig entgegenzusetzen. Deutsche Macht und zivile Instrumente können in einer solchen Auseinandersetzung nur zur Geltung kommen, wenn sie durch die amerikanische Militärmacht komplementiert werden.