Nachbarschaft und Bildungschancen
Seit den achtziger Jahren geht die Zahl der Sozialwohnungen in Deutschland zurück und die Wohnungsversorgung wird zunehmend über den Markt geregelt. Die Folge: In attraktiven Lagen gibt es immer weniger günstige Wohnungen; die sozial gemischten Quartiere verschwinden. Soziologen nennen diesen Prozess „soziale Segregation“. Dadurch entstehen in den Städten auf der einen Seite Wohngebiete mit überwiegend wohlhabenden Einwohnern, auf der anderen Seite bilden sich sozialstrukturell schlechter gestellte Nachbarschaften heraus. Verantwortlich dafür sind neben den Gesetzen des Marktes auch Machtstrukturen, individuelle beziehungsweise kollektive Präferenzen und historische Entwicklungen. Diese Entmischungsprozesse beschreiben Sören Bartol und Joan Mirbach in der Berliner Republik 1/2012. Aber welche Folgen hat die soziale Segregation der Nachbarschaften auf die Bildungschancen der dort lebenden Kinder?
Beispiel Berlin: Vergleicht man die Bezirke als Einheiten miteinander, fällt die sozialräumliche Segregation kaum auf. Erst ein Blick auf die einzelnen Nachbarschaften zeigt eine ausgeprägte soziale Spaltung. Vor allem in Nord-Neukölln, Wedding, Moabit, Kreuzberg, aber auch in Teilen Spandaus und Marzahns ballen sich sozial benachteiligte Gruppen. Dort leben besonders viele Personen, die Sozialleistungen beziehen. Im Gegensatz dazu weisen große Teile Zehlendorfs, Pankows, Köpenicks und Charlottenburg sehr günstige Sozialstrukturen mit sehr wenigen Transferempfängern auf.
Diese Entwicklung sollte uns ernste Sorgen bereiten. Das Wohnumfeld wirkt sich massiv auf die Bildungschancen der dort lebenden Kinder und Jugendlichen aus. Erstens führt das Zusammenleben in Nachbarschaften zu „Kompositionseffekten“: Wohnen in einem Viertel verhältnismäßig viele Kinder aus Akademikerfamilien, erzielen die dortigen Schüler im Schnitt bessere Bildungsergebnisse als in Nachbarschaften mit weniger Kindern von Hochschulabsolventen. Das ist wenig verwunderlich. Die Ursache sind die individuellen Voraussetzungen der Kinder. Der Vergleich zeigt: Kinder von Akademikern aus sozial günstigen Nachbarschaften erbringen ähnliche schulische Leistungen wie jene aus sozial ungünstigen. Kein Zufall, dass sich die durchschnittlichen Mathematikkompetenzen der Schüler in Pankow oder Steglitz-Zehlendorf bereits in der zweiten Klasse von jenen in Neukölln, Berlin-Mitte oder Friedrichshain-Kreuzberg deutlich unterscheiden – ganz einfach weil dort mehr Kinder aus Akademikerfamilien leben.
Wäre diese Statistik noch kleinräumiger verfügbar, würden die Unterschiede deutlich größer ausfallen als auf der Ebene der Bezirke. Umgekehrt bedeutet das: Ein Kind aus einer sozial benachteiligten Familie in Pankow kann nicht automatisch besser rechnen als in Neukölln. Es gibt in Neukölln nur viel mehr sozial benachteiligte Familien, deren Kinder den Mittelwert des gesamten Bezirks drücken.
Aber zweitens – und das ist besonders wichtig – lassen sich auch „Kontexteffekte“ beobachten: Wo sich sozial benachteiligte Kinder mit ungünstigen Lernvoraussetzungen in Schulen ballen, sinken die Bildungschancen zusätzlich. Woran liegt das? Zum einen fehlen offensichtlich positive Vorbilder unter den Schülern. Und die Lehrer müssen stärker auf individuelle Defizite eingehen als in anderen Schulklassen und Schulen, was den Lernerfolg ganzer Schulklassen mindert. Zum anderen lässt sich nachweisen, dass die soziale Zusammensetzung der jeweiligen Nachbarschaft selbst eigenständige Auswirkungen auf den Bildungserfolg der Kinder hat – und zwar unabhängig von der sozialen Lage der Eltern.
In der wissenschaftlichen Theorie existieren für dieses Phänomen zwei Hypothesen: Vertreter der Ansteckungshypothese gehen davon aus, dass Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status tendenziell ablehnende Haltungen gegenüber Schule und Bildung entwickeln und diese auf die Kinder und Jugendlichen in der Nachbarschaft übertragen. Weil die jungen Menschen entscheidend von ihren Gleichaltrigen geprägt werden, breitet sich negatives Verhalten aus, etwa Schwänzen oder Schulabbruch. Hinzu kommt, dass in sozial schwächeren Nachbarschaften weniger leistungsorientierte Normen gelten beziehungsweise keine Sanktionen existieren, wenn diese Normen nicht eingehalten werden. Jürgen Friedrichs und Jörg Blasius haben für Kölner Nachbarschaften gezeigt, dass die Akzeptanz von normabweichenden Verhaltensweisen in sozial benachteiligten Nachbarschaften ausgeprägter ist als in weniger benachteiligten Nachbarschaften.
Eine zweite Annahme ist die Theorie kollektiver Sozialisation. Ihr zufolge gibt es in „guten“ Nachbarschaften, in denen viele Erwachsene mit hohem Sozialstatus leben, schlicht mehr positive Vorbilder, auch für Jugendliche aus sozial schwächeren Familien: andere Eltern, Nachbarn, Verwandte. Außerdem ist in solchen Nachbarschaften eine stärkere soziale Kontrolle zu beobachten: Üblicherweise kennen sich die Nachbarn größtenteils untereinander, verbringen Zeit miteinander, helfen sich aus und passen wechselseitig auf ihre Kinder auf. Umgekehrt gibt es proportional mehr negative Vorbilder in sozial benachteiligten Gegenden.
Durch diese Kontexteffekte also wirkt sich die Nachbarschaft selbst zusätzlich positiv (in privilegierten Nachbarschaften) oder negativ (in benachteiligten Nachbarschaften) auf die Bildungschancen von Kindern aus. Im Rahmen einer von mir durchgeführten Studie zeigte sich, dass sich durch die soziale Segregation in Berlin soziale Ungleichheiten beim Kompetenzerwerb zwischen Klasse vier und sechs deutlich verschärfen. In diesem Zeitraum sind die Kompetenzen in Mathematik und im Lesen – unabhängig von der jeweiligen sozialen Herkunft – in privilegierten Nachbarschaften mit niedrigen Transferleistungsquoten am stärksten angestiegen.
Auch Studien aus den Vereinigten Staaten, Großbritannien oder den skandinavischen Ländern zeigen immer wieder, dass sich die Nachbarschaft als eigenständiger Faktor auf die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen auswirkt. Hingegen ist Deutschland in Bezug auf die Erforschung dieser Nachbarschaftseffekte noch ein Entwicklungsland. Dies liegt vor allem an den besonders restriktiven datenschutzrechtlichen Regelungen. Die Verknüpfung amtlicher Daten der Meldeämter oder der Bundesagentur für Arbeit mit Daten der Schulforschung ist in Skandinavien gang und gäbe. Bei deutschen Datenschützern führt sie reflexartig zu Schweißausbrüchen.
Doch gerade auf diesem Gebiet brauchen wir größere Forschungsanstrengungen. Besonders in Deutschland wird die soziale Ballung benachteiligter Schüler durch die frühe Aufteilung in verschiedene Schulformen weiter verschärft. Benachteiligte Nachbarschaften gehen mit dem – ebenfalls sozial gestuften – Schulsystem eine verhängnisvolle Wechselwirkung ein. Je größer die Bildungsungleichheiten zwischen den Nachbarschaften sind, desto größer wird die Gefahr sozialer Segregation. Ein Teufelskreis beginnt.