Nachhaltige Industriepolitik und soziale Gerechtigkeit
Industriepolitik muss nachhaltig werden. Anders als andere industriepolitische Konzepte behandelt eine nachhaltige Wirtschafts- und Industriepolitik ökonomische, ökologische und soziale Erfordernisse gleichrangig. Sie verknüpft wirkungsvoll qualitatives Wirtschaftswachstum, wettbewerbsfähige Unternehmen und ein leistungsfähiges soziales Sicherungssystem und stärkt zugleich die Ökologie. Ich bin der Auffassung, dass nur so auch die ökologischen und demografischen Herausforderungen zu meistern sind. Einer leistungsfähigen Volkswirtschaft und einer ausgebauten sozialen Sicherung kommt daher eine Schlüsselfunktion für eine nachhaltige Entwicklung zu. Die Balance zwischen Ökologie, Ökonomie und sozialen Forderungen zu finden und zu fördern ist das Ziel einer nachhaltigen Industriepolitik, wie sie moderne Gewerkschaften vertreten.
Eine auf Nachhaltigkeit angelegte Industriepolitik ist nicht kritiklos gegenüber der Industrie. Ebenso wie sie soziale Standards wie eine Betriebsverfassung und Mitbestimmung erforderlich macht, verlangt sie, dass der Schutz von Natur und Menschen Beachtung findet. Aber nachhaltige Industriepolitik macht die Industrie auch nicht zum Sündenbock – weil sie weiß, dass die Stärkung der industriellen Basis in Deutschland eine wichtige Voraussetzung für ökologischen und sozialen Fortschritt ist. Ökologie und Ökonomie sind kein Widerspruch, sondern wechselseitig aufeinander angewiesen. Deshalb sind Bestrebungen der Deindustrialisierung Deutschlands zugunsten einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft die falsche Perspektive für die Zukunft. Eine moderne Industrie, die soziale und ökologische Errungenschaften berücksichtigt, war und ist die Erfolgsvoraussetzung des Modells Deutschland und des Dienstleistungssektors.
Denn die „Dienstleistungsgesellschaft“ gedeiht auf einem starken Fundament, nämlich der Industrie, die Kern aller Wertschöpfung ist. Ohne industrielle Entwicklung kann auch der Dienstleistungssektor nicht weiter wachsen. Schließlich ist in keinem anderen Land Europas der Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung so hoch wie in Deutschland. Zum Beweis kann man auch den DAX heranziehen, den wichtigsten deutschen Börsenindex: Mehr als die Hälfte der 30 Werte sind Industrieunternehmen, darunter BASF, Bayer, Merck, Linde, Fresenius oder Volkswagen. Und auch der M-Dax, der zweitwichtigste Börsenindex in Deutschland, liest sich wie das Who’s who der deutschen Industrie, ob Lanxess, Wacker Chemie, Stada oder SGL Carbon. Dass Deutschland, und hier vor allem die Unternehmen der Maschinenbau-, Automobil- und Chemieindustrie, seit Jahren Exportweltmeister ist, unterstreicht nur mit anderen Worten die Bedeutung der Produktionsunternehmen für den Standort Deutschland.
Das Modell Deutschland gibt die Richtung vor
Dieser nachhaltige Erfolg hat einen einfachen Grund: das Modell Deutschland mit seiner sozialen Marktwirtschaft und deren Kernelementen Tarifautonomie, Mitbestimmung und Betriebsverfassung sowie soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Dass wir angesichts von Megatrends wie der Globalisierung, der Individualisierung und dem demografischen Wandel vor der Notwendigkeit stehen, dieses Modell weiterzuentwickeln, steht außer Frage. Entscheidend ist jedoch: Das Modell Deutschland selbst gibt die Richtung der Weiterentwicklung vor.
Wer nun die Industrie in ihrer ganzen Breite und Vielfalt weiterentwickeln und fördern will, sieht sich umgehend mit Themen wie neuen industriellen Technologien und Branchen konfrontiert. Dazu gehören auch Zukunftstechnologien wie die Bio-, Nano- und Mikrotechnologie sowie die Umwelttechnik in all ihren Facetten. Das Potenzial dieser Technologien ist für eine langfristige Standortsicherung nicht zu unterschätzen. Das gilt auch für die Entwicklung aller Technologien zum Umwelt- und Klimaschutz und zur Senkung des Ressourcenverbrauchs – sei es durch den Einsatz alternativer Energien oder durch mehr Energieeffizienz, die für manche bereits als die entscheidende Energiequelle überhaupt gilt. Auch hier sind deutsche Unternehmen weltweit führend.
Zum Glück gibt es Stimmen, die zur Vernunft mahnen
Trotz des unbestreitbaren Erfolgs des Modells Deutschland haben die CDU und die Neoliberalen in der FDP in der Vergangenheit und auch im Bundestagswahlkampf immer wieder die Mitbestimmung infrage gestellt. Könnten sie, wie sie wollten, würden sie die Mitbestimmung am liebsten abschaffen oder wenigstens stark einschränken. Zum Glück gibt es auch Stimmen, die zur Vernunft mahnen. Die alte und neue Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich auf dem 4. Ordentlichen Kongress der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) im Oktober 2009 erneut für den Erhalt der Mitbestimmung, auch mit Blick auf Europa, ausgesprochen.
Nicht weniger, sondern mehr Mitbestimmung ist der richtige Weg zu mehr Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit. Denn um weiter voranzukommen, bedarf es mehr denn je der Information, der Beteiligung und qualifizierten Mitbestimmung der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften am Arbeitsplatz, im Betrieb und im Unternehmen. Nicht von ungefähr rücken heute Bildung und Weiterbildung in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Denn Bildung ist nicht nur unerlässlich für ein stabiles demokratisches Gemeinwesen und den wirtschaftlichen Erfolg nationaler Industrien im Wettbewerb der Weltwirtschaft. Von der Bildung hängt für viele Menschen ab, ob sie die Grundwerte Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Solidarität verwirklichen können und ob sie die Chancen auf ein anständiges Einkommen, sozialen Aufstieg und die Teilhabe am politischen und kulturellen Leben nutzen können.
Der Nachhaltigkeitsfaktor Bildung kann erst dann seine Kraft entfalten, wenn die Menschen ihre Qualitäten in die Arbeit einbringen können. Ich habe den Eindruck, dass wir häufig noch ein gutes Stück weit davon entfernt sind, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren Fähigkeiten gemäß beschäftigt werden. Die IG BCE hat deshalb gemeinsam mit dem Bundesarbeitgeberverband Chemie den so genannten Wittenberg-Prozess auf den Weg gebracht, um in den Unternehmen die Bedingungen für gute Arbeit und eine beteiligungsoffene Unternehmenskultur zu schaffen. Nachhaltigkeit verlangt gute Arbeit in Unternehmen und die Anerkennung der Menschen als Erfolgsfaktoren für die Unternehmen.
Wenn wir also mit einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik die technologie- und demografiebedingten Herausforderungen im Interesse der Menschen und der Unternehmen meistern und gestalten wollen, müssen wir in Arbeit und in die Fähigkeiten der Menschen investieren. Wir müssen die Bildungschancen und die Mitbestimmung als Elemente einer modernen Beteiligungskultur stärken und ausbauen. Denn gut ausgebildete und informierte Menschen sind nicht nur für die Unternehmen die produktiveren Mitarbeiter, sondern auch für das Gemeinwesen die aktiveren Bürgerinnen und Bürger. «