Nachtleben...Kein Mensch fährt nach Stettin? Nicht ganz

Kein Mensch? Nicht ganz. Eine lange Nacht bei den Nachbarn gleich hinter der Grenze

In Berlin gibt es nette polnische Restaurants. Schön, wenn man sich gleich nebenan kulinarisch über die Polen informieren kann. Lernt man sie so nicht alle kennen? Die Italiener, die Chinesen, die Bayern? Vielleicht nicht so richtig. Also Stettin. Polen ganz authentisch. Das kann man sich nicht bloß erzählen lassen.

Es hätte auch Warschau sein können. Aber Warschau liegt zu weit weg. Ab Berlin Mitte nach Stettin brauchen wir im Auto nur zwei Stunden. Hinter der Grenze wird die Autobahn gleich besser, danach kommt die Stadt. Überfüllte Straßenbahnen quietschen durch großzügige Allen zwischen Gründerzeithäusern in den Feierabend. Im Park genießen Familien den Sonnenschein.

Das Hotel ist eine alte Polizeikaserne. Unkompliziert. Einfach. Günstig auch. Das Dreibettzimmer kostet 120 Zloty, also 70 Mark. Weil die Ostsee vor der Tür liegt, starten wir in einem einfachen Fischrestaurant. Die Imbiss-Atmosphäre kommt uns gerade recht: Ohne die Kenntnis polnischer Fischfachausdrücke (100 Gramm zwischen 80 Pfennig und 1,20 Mark) wählen wir mit dem Zeigefinger. Für12 DM lassen wir es uns hier gut und ausreichend schmecken.

Wir biegen in die Buguslawa ein. Schirmüberdachte Kneipen veredeln die Fußgängerzone zur Biergartenallee. Zu unserem Sonnenschirm gehört die Biermarke Z′ywiec. Fruchtig-herb perlt es die durstigen Kehlen hinab, der finanzielle Gegenstrom hält sich mit 3,50 Mark für den halben Liter im Rahmen. Berlins Schultheiß im Gedächtnis sehnt man die zügige Osterweiterung herbei. Freunde des deutschen Reinheitsgebots hätten wenig Freude am Bier-Likör-Gemisch, das junge Polinnen gern per Strohhalm konsumieren. Viele von ihnen sind auffallend sexy gekleidet - für die Männer gilt das eher weniger. Allenthalben sitzt junges Publikum beisammen und schnattert zufrieden. Offenbar verabredet man sich für den frühen Abend eher gleichgeschlechtlich.

Wir aber betreten die Boston Bar

Auf dem Weg zum Oderstrom zieht es uns in ein altes Stadttor das nun das Brama Jazz Cafe beherrbergt. Nette Bistro-Café-Atmosphäre zieht die wenigen Touristen an. Unter selbst gebastelten Lampenschirmen gibt es hier Omeletts (7 Mark), Salate (8,50 bis 10,50 Mark) oder Hauptgerichte (Hähnchen, Steak für 15 Mark). Cocktails sind erhältlich, auch wenn die Zusammensetzung eines Long Island Ice Tea (9 Mark) erst im Schatten des Tresen recherchiert werden muss. Andere trinken bereits ortsüblichen Wodka (4 Zentiliter zu 2,80 Mark). Ein deutsch-polnischer Student auf Elternbesuch gesellt sich zu uns: "Aus Berlin kommt ihr? Ihr seid Pioniere. Kein Mensch fährt nach Stettin!"

Uns gefällt diese Rolle und wir setzten unseren Stadtrundgang fort. Aus dem Schloss der Pommerschen Herzöge kommen uns die Gäste einer Kulturveranstaltung unter freiem himmel entgegen. Am Oderufer entdecken wir zwei Schiffe mit der Aufschrift "Pub" und "Disco". Doch menschenleere Gartenstühle verraten uns, das zu wenig Wochenende ist für einen Besuch. Wir biegen in die Altstadt ab. Am alten Rathaus, hieß es, gebe es nette Bars und Bistros. Das Viertel ist bunt renoviert. Baustellen und leere Geschäfte deuten darauf hin, dass hier ein touristischer Anlaufpunkt geplant ist. Doch uns zieht nichts in leere Kneipen.

Zurück ins Leben. Die Einkaufsstraße und Flaniermeile ist die ul. Niepodleglosci. Dort sind die teuren Geschäfte, die Nacht-Supermärkte, dort sind McDonalds und die Disco Escape. Wir aber betreten die Boston Bar. Die Verbindung von dunklem Holz und amerikanischen Accessoires erinnert an den Kleinstadt-Pub um die Ecke. Hier steckt Geld drin, keine Frage. Geschniegelte Keeper bedienen betuchteres 35plus-Publikum. Drinks are available.

Unbedingt in die Bar des Hotels Radisson oder ins Cvlvmbus sollten wir gehen, heißt man uns. Wir entscheiden uns für den Oderblick und fahren ins Cvlvmbus mit edlem Schiffsinterieur und Aussichtsterasse. Aber um halb zwölf trinken hier die letzten Pärchen ihren Wein aus.

Ausgestattet mit nützlichen Tipps sind wir dennoch entschlossen, der Werktagsnacht das Abenteuer abzutrotzen. Der Taxifahrer hält unsere Tipps für nutzlos. Alles habe geschlossen, erklärt er, beidhändig gestikulierend, auf Englisch und Deutsch zugleich. Allein, eine Möglichkeit wisse er noch. Wir wollten Tanz, eine Studentenparty? Da gebe es einen "authentischen" Ort mit "authentischer" Musik, "authentischen" Getränken und "authentic students": die Hokus-Pokus-Drink-Bar. Wir sind beeindruckt und geben freie Fahrt. Es geht in einen Vorort, in dem authentisch gewohnt, aber offensichtlich nicht gefeiert wird. Und endlich dämmert uns die Klangverwandtschaft von "authentisch" und "erotisch".

Jetzt sei die Stunde des investigativen Journalismus angebrochen, entscheidet daraufhin der Chefredakteur. Unter Rotlichlampen schlägt das Klischee grausam zu. Unser Taxifahrer bahnt uns den Weg vorbei an freundlichen Amateurboxern und überlässt uns dem authentisch ausgebauten Hobbykeller. Halt verspricht die Kellerbar von OBI. Die Studentinnen sind zahlreich und freundlich und verweisen auf ihren Sektdurst. Dass wir nur in Ruhe ein Bier (0,3 Liter zu 2,90 Mark) trinken wollten, finden sie kurios: Hier werde schließlich gearbeitet. Der Taxifahrer lässt sich nichts anmerken und bringt uns für 14 Mark zurück in die Stadt.

Sollte es das schon gewesen sein? Ein neuer Taxifahrer hilft und wir landen in jener Kneipe, die es so wohl in jeder Stadt gibt: Zwei Menschen an der Bar und bis in den Morgen geöffnet. Im Karczma Zagl′oby wird der Absacker getrunken. Jetzt wollen wir es doch wissen und fragen am Tresen: "Was denkst du über die Deutschen?" Höfliches Schweigen. Ein Wodka später die Gegenfrage des Mannes: "Warum müssen wir uns darüber auf Deutsch unterhalten?" Betretendes Schweigen. Seine Frau wendet sich ab. Doch nach dem nächsten gemeinsamen Wodka ist die Welt bald wieder in Ordnung. Draußen geht die Sonne auf, die Kneipe füllt sich. Wir aber haben wieder einmal alles erlebt.

Rybarex - Fischrestaurant & Imbiss, Ul. Obr. Stalingradu 5 A, (bis 19.00 Uhr)

Colvmbvs - Restaurant Pub, ul. Waly Chrobrego 1

Brama Jazz Café - Cafe Bar, Pl. Holdu Pruskie 1/ul. Boh. Getta W-go 18/2

Karczma Zagl′oby - Absackerkneipe, Al. Bohaterów Warszawy

J + J S.C. Boston Pub - ul. Niepodleglosci 822

Hokus-Pokus-Drink-Bar, ul. Gorlicka 9

Günstige Unterkünfte

Hotel Policyjny - Plac Zwycie2 stwa (ehem. Polizeirevier) 0048/91/433 77 45

Hotel Elka-Sen - ul. 3 Maya 1A, 0048/91/4335604

Hotel Dom Nauczyciela - ul. S′laska 4 , 0048/91/433 0481

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