Neuer Realismus in der Energiedebatte
In den zwei Monaten seit dem Erscheinen des Schwerpunktheftes zur Energiewende hat sich die Stimmung, die in den meisten Beiträgen zum Ausdruck kommt, fast zum Mainstream entwickelt: dass nicht alles so läuft wie versprochen. Deshalb sind sogar erste prominente politische Opfer zu beklagen. In ihrem Beitrag zitiert Jeanne Rubner einen Beitrag von mir aus der FAZ, der Mitte März unter dem Titel „Die Energiewende zwischen Mythos und Wirklichkeit“ erschien. Ich teile also den skeptischen Grundton schon länger, der nahezu alle Beiträge durchzieht. Viele der Probleme und Inkonsistenzen sind weiß Gott nicht neu, zum Beispiel der schleppende Netzausbau oder der Reformbedarf bei der Förderung der erneuerbaren Energien. Deshalb sind die offenen Baustellen des Projektes Energiewende weniger spannend als die Frage, welche Ideen zur Lösung der Probleme vorgeschlagen werden.
Was muss sich ändern? In Bezug auf konkrete Vorschläge gibt es auch unter den Autoren der Berliner Republik eine Vielfalt von zum Teil nicht deckungsgleichen Forderungen. Während der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Garrelt Duin die erneuerbaren Energien als „verlässlichen Jobmotor“ charakterisiert und feststellt, das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) habe sich bewährt und könne als Basis für den Umstieg dienen, sehen die Autoren Rubner, Winterhagen, Hiesinger, Höhn und Fischer einen erheblichen und dringlichen Reformbedarf. Dass es in der Solarbranche inzwischen reihenweise Insolvenzen mit gewaltigen Jobverlusten gegeben hat, sollte man nicht nur den Chinesen anlasten und mit protektionistischen Strategien sowie weiteren Subventionen beantworten. Wenn man der Bundesregierung etwas vorwerfen kann, dann dass sie den Umbau des EEG zu spät und zu erratisch, zu wenig vorausschauend und dauerhaft angepackt hat.
Woher Autor Hilmar Höhn die Erkenntnis nimmt, dass die Förderung der Einspeisung des Solarstroms „zum Glück“ ausläuft, bleibt mir angesichts des Geschachers zwischen Bund und Ländern im Vermittlungsausschuss schleierhaft. Zuzustimmen ist ihm als Vertreter der Gewerkschaften allerdings ausdrücklich, wenn er anprangert, dass „Arbeiter, kleine Angestellte und Empfänger von Arbeitslosengeld II über ihre Stromrechnung die Gewinne von Menschen finanzieren, die sich Solardächer leisten können“. So etwas will in Berlin noch immer kaum jemand hören – trotz der Tatsache, dass bei der Solarförderung für 20 Jahre schon an die 100 Milliarden Euro fest zugesagt sind und alle bisherigen Kürzungsrunden den explosionsartigen Zubauboom nie gestoppt haben. Im Gegenteil wächst die Zahl derjenigen, die jetzt nicht nur international agierenden Fonds, sondern auch immer mehr die Bürger am „Reibach“ (so kürzlich der Bayerische Landwirtschaftsminister Helmut Brunner im Fernsehen) beteiligen wollen, um der Energiewende zu mehr Akzeptanz zu verhelfen. Statt oligopolistischer Gewinne soll auf diese Weise eine neue Zeit der Demokratisierung und Vergesellschaftung der Stromproduktion eingeläutet werden.
Die Stunde der Wahrheit, dass die von der Bundeskanzlerin versprochene Höchstgrenze der EEG-Umlage von 3,5 Cent pro Kilowattstunde nicht gehalten werden kann, steht allerdings kurz bevor. Die offiziellen Mittelfristprognosen weisen alle nach oben und der Wert wird im Jahr 2013 eher über als unter vier Cent landen. Angesichts dieser Entwicklung weisen Heinrich Hiesinger und Garrelt Duin zu Recht auf die Gefahren steigender Strompreise für Industrie und Gewerbe und damit für den gesamten Wirtschaftsstandort Deutschland hin. Anstatt die Kostensteigerungen wirksam zu stoppen, hat man ein – nur noch von wenigen Experten zu durchschauendes – System der Befreiungen von EEG-Umlage und Netzentgelten für stromintensive Produktionen geschaffen und ständig erweitert. Da die Kosten aber durch Ausnahmen und Befreiungen nicht einfach verschwinden, werden sie von Anderen zusätzlich bezahlt, nämlich von den privaten Verbrauchern, den kleinen und mittleren Gewerbetreibenden sowie den Handwerkern. Kein Wunder, dass sich diese Verlierer des Verschiebebahnhofs mittlerweile immer häufiger zu Wort melden. Langsam merken sie, dass Steuern, Abgaben und Umlagen, die der Staat und die Kommunen verursachen, der größere Kostenblock der Strompreise mit dynamisch wachsender Tendenz sind. Nicht die Scheichs oder die Weltmarktpreise für Energie lassen die Stromkosten explodieren, sondern der Staat selbst ist der Hauptkostentreiber. Der staatliche Anteil am Strompreis beträgt 45 Prozent. Er hat sich seit 1998 mehr als verzehnfacht, ist von 2,3 auf 22,7 Milliarden Euro angestiegen.
Eine Flut von langfristigen Studien untermauert scheinbar wissenschaftlich ein großes Mantra: Es handele sich ja nur um vorübergehende Kosten und Abgabenlasten. Diese würden sich mittel- und vor allem langfristig als gute Investition in die Zukunft erweisen. Nicht nur, weil wir das Klima retten, sondern auch, weil die explosionsartig steigenden Kosten fossiler Energieträger die Kosten des staatlichen Förder- und Abgabenbergs übertreffen werden. Pech nur, dass man sich bei langfristigen Prognosen häufig täuscht. So sind die Gaspreise in den vergangenen Jahren aufgrund neuer kostensenkender Fördertechniken dramatisch gefallen. Und die geschätzten Vorräte, die wirtschaftlich auszubeuten sind, haben sich um rund 100 Jahre verlängert. Dies könnte manche Schönrechnerei erheblich ins Wanken bringen und zur Makulatur machen. Verändert man Preise und Zinsen bei Prognosen über 40 Jahre auch nur marginal hinter dem Komma, kann man schnell im Wald landen. Und hier sind wir beim springenden Punkt: Die Deutschen wollen im Guten wie im Schlechten, vielleicht mit Ausnahme des Berliner Flughafens, immer alles zu 100 Prozent perfekt machen. Nur 80 Prozent erneuerbare Energien reichen nicht. Fast im Wochenrhythmus produzieren ein Institut oder irgendein Fachhochschulprofessor neue „Studien“, denen zufolge 100 Prozent erneuerbare Energien machbar sind.
Aber die Streitigkeiten darüber, was in 40 Jahren sein könnte, sind so überflüssig wie ein Kropf. Wichtig ist, was an einem kalten Freitag im nächsten Winter passiert – und da könnte es irgendwann zappenduster aussehen. Warum können wir unsere Eier nicht in mehrere Nester legen? Wenn wir schon auf Kernenergie verzichten wollen, dann sollten wir Gas und Kohle nicht völlig von der Landkarte radieren. Aber Gaskraftwerke werden vorerst kaum gebaut und Kohle gilt vielen als Tabu. Im Bundesrat traut sich kein Ministerpräsident mehr, zumindest die Tür zur Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid (CCS), also zu sauberen Kohlekraftwerken, offen zu halten. Unser segensreiches und viel gelobtes föderales System sollte seine Kräfte lieber bei Schulen, Kultur, Universitäten und vielleicht noch Beamtengehältern austoben, als ausgerechnet die Stromerzeugung zum Gegenstand von Landtagswahlen zu machen.
Die Beiträge von Piotr Buras und Severin Fischer lenken den Blick darauf, dass es sinnvoller wäre, Förderpolitik, Netze und Schwerpunkte der erneuerbaren Energien europaweit festzulegen. Dem stimme ich vollauf zu. Doch das Anliegen von Buras und Fischer wird an der Profilierungssucht unserer Regionalpolitiker scheitern. Dass die von den Besatzungsmächten nach 1945 festgelegten Ländergrenzen quasi prophetisch auch ein optimales Ausbaudesign für erneuerbare Energien festgelegt haben sollten, ist zwar höchst unwahrscheinlich, entspricht jedoch den deutschen Macht- und Kräfteverhältnissen.
Auch ein neuer Minister wird daher eher weiße Salbe über diese Widersprüche kleistern, als einen neuen, stringenten Kurs einleiten. Ohnehin sollen Peter Altmaiers Fähigkeiten ja nicht unbedingt in der Zuspitzung bestehender Widersprüche liegen; erwartet wird von ihm, dass er zuerst seine Parteifreunde in den Ländern und dann die Oppositionsländer im Bundesrat einfängt, um das Thema vor der Bundestagswahl halbwegs zu befrieden.
Ja, dann bleibt noch die Hoffnung der allseits präsenten und von mir geschätzten Claudia Kemfert: Ein Energieminister, der einen zentralen Masterplan ausarbeitet und exekutiert, würde alle „Einzelinteressen“ und Grabenkämpfe mit einem Schlag beenden und lösen. Vielleicht hatte sie sich auch deshalb dem inzwischen bei der CDU zum Sündenbock abgestempelten Norbert Röttgen als Energieministerkandidatin zur Verfügung gestellt, zumindest erst einmal für Nordrhein-Westfalen.
So wenig vorausschauend Kemferts Kandidatur aus heutiger Sicht erscheint, so wenig zielführend ist die Hoffnung auf den einen Retter, der alles richtet und ins Lot bringt. Selbst Angela Merkel, die die Energiewende mittlerweile zur Chefsache deklariert hat, dürfte hier an Grenzen stoßen. Es ist einfach der Preis der Demokratie und am Ende des Vermittlungsausschusses, dass immer zweitbeste Lösungen herauskommen: Je später der Abend oder die Nacht, umso schlechter fällt häufig das Ergebnis aus. Vielleicht ist es nicht vollkommen falsch, wenn angesichts eines Jahrhundertwerks vorerst die gröbsten und offensichtlichsten Fehler der Förderpolitik beseitigt werden, aber in einzelnen Fragen die Vertreter unterschiedlicher Wege und Lösungsvorschläge miteinander im Clinch liegen. Der Ostblock hat mit zentraler Planung ja auch keine guten Erfahrungen gesammelt.
Zum Schluss ein bescheidener Wunsch: Backt einfach ein bisschen kleinere Brötchen. Versucht nicht immer gleich, die Welt zu retten. Fahrt die Rhetorik eine Stufe runter. Achtet auf die Kosten. Und verklärt nicht mit dilettantischen Sprüchen und Nachgeplappere die Stromerzeugung zur Ersatzreligion.