Noch träumen die Deutschen von Genscher

Deutschland ist ein Land mit wenig außenpolitischer Erfahrung und einer Bevölkerung, die Außen- und Sicherheitspolitik mit Distanz und Misstrauen verfolgt - keine guten Voraussetzungen für eine tatkräftige Wahrnehmung deutscher Interessen in Europa und der Welt. Denn die Zeiten werden härter

Die Sorgen und Befürchtungen, die in vielen europäischen Nachbarländern und in Deutschland nach dem Fall der Berliner Mauer existierten, haben sich nicht erfüllt: Die Bundesrepublik ist nicht die europäische Zentralmacht mit weitergehenden Ambitionen geworden, wie es ihr 1989/90 in London und in Paris unterstellt wurde. Es darf an dieser Stelle durchaus in Erinnerung gerufen werden, dass nur die Vereinigten Staaten vom ersten Augenblick an den Weg zur Einheit voll und ganz unterstützten und dass es in Europa lediglich vom damaligen spanischen Ministerpräsidenten Felipe González und vom damaligen Präsidenten der EU-Kommission, Jacques Delors, Zuspruch gab.

Seitdem hat Deutschland einen Weg zurückgelegt, den man als Lauf in Etappen auf dem Weg zur Normalität bezeichnen darf, den man jedoch auch als ein ständiges Auf und Ab, als ein Schwanken zwischen Traum und außenpolitischer Realität charakterisieren kann. Denn festzuhalten bleibt auch, dass Deutschland nach wie vor ein Land mit geringer außenpolitischer Erfahrung ist, mit einer kaum als solche zu bezeichnenden politischen Klasse und einer Bevölkerung, die zwar Weltmeister im Reisen ist, die jedoch das Geschäft der Außen- und Sicherheitspolitik mit Distanz und Misstrauen verfolgt. Seit den Tagen von Helmut Schmidt werden die außenpolitischen Zusammenhänge nicht länger erklärt, wird um Mehrheiten bei schwierigen Zusammenhängen und vor schwerwiegenden Entscheidungen nicht ernsthaft geworben. Das hat eine Reihe von Ursachen. Unter solchen Umständen ziehen es die Parteien vor – besonders augenfällig die amtierende Kanzlerin Angela Merkel –, Außen- und Europapolitik im Stil der Kabinettspolitik und Geheimdiplomatie des 19. Jahrhunderts zu betreiben. Die Folge: Die deutsche Außenpolitik wirkt kraftlos und uninspiriert. Das Ziel der Europäischen Union droht außer Sicht zu geraten.

Stattdessen führt man Scheindiskussionen. So wurde es in der Amtszeit von George Bush dem Jüngeren zu einem beliebten Gesellschaftsspiel zu raten und zu rätseln, ob der Niedergang der USA als Weltführungsmacht schon eingesetzt habe oder nicht.  Die viel wichtigere Frage, wer denn an die Stelle Amerikas treten könne oder solle, wurde nicht erörtert. Gleichzeitig entwickelte sich das alte, sentimentale Verhältnis Deutschlands zu Russland aufs Neue.  Es war für die politische Kultur des Landes nicht gut, dass ein sozialdemokratischer Bundeskanzler einen Autokraten als „lupenreinen Demokraten“ bezeichnete und mit ihm eine enge persönliche Freundschaft zelebrierte. Und es zeugt von wenig Fingerspitzengefühl, im September 2009 zu einem Ball des russischen Botschafters in Berlin zu gehen, in einer Woche, in der Polen der letzten Teilung des Landes zwischen Hitler und Stalin 70 Jahre zuvor gedenkt.

Noch immer neigen die Deutschen dazu, auch begünstigt durch knapp 20 Jahre mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher, von einer Welt zu träumen, in der Außen- und Sicherheitspolitik in Brüssel und bei den Vereinten Nationen gemacht werden. Zu einer solchen Welt wird es jedoch niemals kommen. Außen- und Sicherheitspolitik sind durch Machtfragen und die Durchsetzung von Interessen gekennzeichnet, durch den Auf- und Abstieg von großen Mächten und von Machtgruppen, der sich durch Regeln nicht verhindern lässt. Beim Weltklimagipfel in Kopenhagen ist dies auf brutale Weise vorgeführt worden. Nur wenn sich die Europäer enger zusammenschließen, wird ihre Wirtschaft weiter prosperieren, können sie ihre Werte propagieren und die politische Kultur bewahren, die ihnen wichtig ist. Aber die Zeiten werden härter.

Die Politiker sagen den Wählern nicht, was kommen wird


Denn die Politiker sagen den Wählern nicht, dass die Globalisierung in Westeuropa und damit auch in Deutschland Wohlstandsverluste zur Folge haben wird. Wenn wir wollen, dass die Dritte Welt vorankommt, dass Asien sich weiterentwickelt und Afrika auf die Beine kommt, ist das nur konsequent. Denn am Ende werden die Arbeitsstunde und die Dienstleistung weltweit ungefähr dasselbe kosten. Aber das zehrt am eigenen Geldbeutel. Parallel nimmt die Spaltung unserer Gesellschaften zu. Das obere Segment, sehr gut ausgebildet und international vernetzt, kann Wohlstandsverluste vermeiden, seine Position sogar ausbauen. Die Mitte und die neuen Armutsgruppen – bestehend aus schlecht Ausgebildeten, die der Arbeitsmarkt nicht mehr benötigt, sowie aus Einwanderern – können dies hingegen  nicht. Und der Sozialstaat stößt an seine Grenzen. Die Umverteilung klappt unzureichend, erfordert riesige Apparate und ist in diesem Ausmaß nicht länger finanzierbar. Währenddessen nimmt die Individualisierung der Gesellschaft zu, mit bitteren Konsequenzen für die Sozialdemokratie, wie die letzte Bundestagswahl zeigte.

Die öffentliche Meinung muss europäischer werden

Die Herausforderungen für die deutsche Außenpolitik sind daher rasch zu umreißen. Der richtige Gedanke des Bewahrens unserer Welt, die Klimapolitik mit ihrer Mischung aus idealistischer und pragmatischer Politik (neue Energien, neue Antriebe fürs Auto bei gleichzeitigem Einsparen von Energie sorgen für zukunftsträchtige Arbeitsplätze), muss mit europäischer Realpolitik verbunden werden. Die Rettung und Verwirklichung des Lissaboner Vertrages bewahrte die Gemeinschaft gerade in letzter Minute vor einem gefährlichen Stillstand. Aber Europa muss weiter vorangehen und endlich mit der „harten“ Integration beginnen. Die auf Einfluss und Taktieren getrimmten nationalen Politiker werden dies allein nicht bewältigen können. Der europäische Prozess bedarf der kritischen und fördernden Begleitung durch die Zivilgesellschaften, durch die öffentliche Meinung. Die nationale öffentliche Meinung, um die es hinsichtlich der Wahrnehmung der übrigen Welt schon einmal wesentlich besser stand, muss sich endlich in Richtung einer europäischen öffentlichen Meinung entwickeln. Dazu bietet „Lissabon“ einige Möglichkeiten.

Zu den unangenehmen Wahrheiten des künftigen Europas gehört aber auch, sich sicherheitspolitisch zu engagieren: weniger im Irak oder in Afghanistan, wie die letzten zehn Jahre zeigten, als in Europa. Auf dem Balkan und an der Ostflanke der EU gibt es eine Menge zu tun, genauso rund um das Mittelmeerbecken. Hier liegen die Herausforderungen der Europäer – in einer Art von Arbeitsteilung mit Amerikanern und Asiaten im Rest der Welt. Ohne eine führende deutsche Rolle, nicht Führungsrolle, auf gleicher Augenhöhe mit Frankreich und Großbritannien (das sich endlich für Europa entscheiden muss) wird das nicht gehen. «

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