Nostalgie ist keine Lösung
1. Franz Müntefering ist zuzustimmen, wenn er fordert, dass die SPD „sich verändern muss“. Der Vizekanzler muss sich allerdings fragen lassen, warum er diesen Veränderungsprozess nicht eingeleitet hat, als er als Bundesgeschäftsführer, Generalsekretär, Vorsitzender und Chef der SPD Nordrhein-Westfalen die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Die einzige Veränderung, die Franz Müntefering zu verantworten hat, ist die Zerschlagung der nordrhein-westfälischen Bezirke zugunsten eines zentralen Landesverbandes – eine fatale Fehlentscheidung und eine der Ursachen für den Machtverlust der SPD in Nordrhein-Westfalen.
2. Wer etwas verändern will, muss zunächst eine ungeschönte Bestandsaufnahme machen. Dazu ist die gegenwärtige Führungsspitze der SPD scheinbar nicht willens. Sie blendet die Realität weitgehend aus und ignoriert die Tatsache, dass ein großer Teil der verbliebenen Wähler mit der Bildung der Großen Koalition nicht einverstanden war und mit der Art und Weise unzufrieden ist, wie die SPD seither mitregiert. Mehr als 40 Prozent der SPD-Wähler haben sich mittlerweile von der SPD abgewandt. Umfragen, die ein permanentes Stimmungstief belegen, werden jedoch nicht als Alarmsignale gewertet, sondern als „Kiki“ (Franz Müntefering) oder „Horrormeldungen“ (Kurt Beck) abgetan.
Während die Union ihre Wahlniederlage im Jahr 2005 zumindest registrierte (auch wenn über die Ursachen des Stimmenrückgangs nicht diskutiert werden durfte), verdrängt die SPD, dass sie bei der Bundestagswahl nur noch von einem Viertel (26 Prozent) aller Wahlberechtigten gewählt worden ist. Noch schlechter schnitt die SPD lediglich bei den Bundestagswahlen 1949 und 1953 sowie bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 mit Oskar Lafontaine als Spitzenkandidat ab.
Die Partei verdrängt auch die Tatsache, dass sie ihre regionale Verankerung und das Vertrauen vor Ort weitgehend verloren hat. Wählten bei den Landtagswahlen zwischen 1983 und 1987 immerhin noch 31 von 100 Wahlberechtigten die SPD, sank dieser Anteil zwischen 1994 und 1998 (also vor Gerhard Schröders Regierungszeit!) auf 24 Prozent aller Wahlberechtigten. Auf Landesebene verlor die SPD innerhalb eines Jahrzehnts rund ein Viertel ihrer Wählersubstanz. Der Wählerschwund wird noch deutlicher, wenn man die positiven Ergebnisse in Niedersachsen herausrechnet, wo die SPD mit Gerhard Schröder an der Spitze in den Jahren 1990 und 1994 auf 32 Prozent, 1998 auf 35 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten kam.
Deutschland war noch nie so schwarz
Auf Landesebene setzt sich der Wählerschwund übrigens auch nach 2005 fort, obwohl sich Gerhard Schröder, der in der SPD für die Niederlagen bei regionalen Wahlen verantwortlich gemacht wurde, aus der Politik zurückgezogen hat. In der Summe büßte die SPD bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin im Vergleich zu den jeweils vorherigen Wahlen nochmals ein Viertel ihrer Wähler ein; im Schnitt wählten nur noch 17 von 100 Wahlberechtigten die SPD.
Darüber hinaus hat die Sozialdemokratie auch bei den Kommunalwahlen ihre dominierende Stellung eingebüßt. Ehemalige rote Hochburgen wie Frankfurt am Main, Hamburg oder Duisburg werden heute von CDU-Oberbürgermeistern regiert. Seit 1949 war Deutschland nie so „schwarz“ wie heute.
3. Zu einer nüchternen Bestandsaufnahme gehört auch eine adäquate Analyse der Ursachen dieser Krise. Vor allem muss mit dem Märchen aufgeräumt werden, die Ursache für den Niedergang der SPD sei Gerhard Schröders Erneuerungs- und Modernisierungspolitik. Zum einen begann der Wählerschwund der SPD auf Bundes-, Landes- und lokaler Ebene schon lange vor 1998. Zum anderen gewann Schröder entgegen dem landesweiten Trend nicht nur in Niedersachsen, sondern er konnte auch bei den Bundestagswahlen 1998 und 2002 mit 33 beziehungsweise 30 Prozent deutlich mehr Wahlberechtigte mobilisieren als die SPD bei den Landtags- und Kommunalwahlen zwischen 1998 und 2002 beziehungsweise zwischen 2002 und 2005. Bei der Bundestagswahl 2005 wählten in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin 3,5 Millionen Wahlberechtigte (das sind 24 Prozent) die Schröder-SPD. Bei den dortigen Landtagswahlen votierten dann nur noch knapp 2,5 Millionen Wahlberechtigte (oder ganze 17 Prozent) für die SPD ohne Schröder. Die SPD vor Ort war 2006 demnach mehr als eine Million Stimmen weniger wert, als es die SPD unter Gerhard Schröder gewesen war. Die SPD steckt also nicht wegen Schröders Reformpolitik in der Krise, sondern weil die Partei diese Politik, die die Mehrheit der Bürger als notwendig akzeptierte, nicht mittragen wollte.
Ihren Niedergang auf allen Politikebenen hat die SPD selbst verursacht. Seit Ende der siebziger Jahre hat sie ihre Politik immer weniger an den Interessen und Bedürfnissen der Menschen orientiert, sondern an den Dogmen der Funktionärskader. Einerseits hat die SPD in vielen Städten und Gemeinden mit brachialer Gewalt eine völlig unsinnige Verkehrspolitik durchgesetzt – gegen den Unmut der Bürger. Andererseits hat sie notwendige Veränderungsprozesse in der Gesellschaft nicht eingeleitet.
4. Neben einer Politik, die viele Bürger als verfehlt beurteilen, ist auch das personelle Angebot der SPD, das zum Teil als Zumutung empfunden wird, für den Schwund der sozialdemokratischen Wählersubstanz verantwortlich. So kürte die Berliner SPD 1999 Walter Momper zum Spitzenkandidaten für die Senatswahlen, obwohl ihm die Bürger der Stadt schon 1990 die rote Karte gezeigt hatten. In Köln ließ die SPD eine zwielichtige Figur wie Klaus Heugel für das Amt des Oberbürgermeisters kandidieren. Und bei der kommenden Landtagswahl in Niedersachsen wird Wolfgang Jüttner Spitzenkandidat sein, obwohl Umfragen zufolge mehr als die Hälfte der potenziellen SPD-Wähler Christian Wulff als Ministerpräsidenten vorziehen würden. Niemand sollte sich wundern, wenn die potenziellen SPD-Wähler in Scharen zu Hause bleiben.
Die Erneuerung muss von außen kommen
Nur geringe Bindekraft hat auch das gegenwärtige Führungsduo der SPD, Franz Müntefering und Kurt Beck. Von Müntefering tief enttäuscht sind inzwischen selbst die Mitglieder der SPD, deren „Seele“ er ja angeblich ist. So meinte nach dem Rücktritt von Matthias Platzeck vom Parteivorsitz im April 2006 beispielsweise ein Viertel der SPD-Mitglieder, Platzeck sei nicht nur aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten, sondern von Franz Müntefering weggemobbt worden. Unter anderem war von den Mitgliedern über den Vizekanzler wortwörtlich zu hören, Müntefering schade der Partei derzeit mehr als er ihr nütze, er habe menschliche Defizite, sei machtbesessen oder altersstarrsinnig.
Auch das Bild von Kurt Beck, in den viele SPD-Mitglieder bei seinem Amtsantritt große Hoffnungen gesetzt hatten, ist derzeit wenig positiv. Mehr als 90 Prozent aller damals befragten SPD-Mitglieder hielten seine Ernennung zum Parteivorsitzenden für eine gute Lösung; mehr als 70 Prozent glaubten, dass sich die Wahlchancen der SPD bei der nächsten Bundestagswahl mit Beck verbessern würden. Als Mensch bringt man ihm – anders als etwa Rudolf Scharping – durchaus Sympathie entgegen. Doch als Politiker wird er nach seinem ersten Jahr im Amt als eher wenig kompetent bewertet. Nicht einmal 40 Prozent der SPD-Wähler würden sich bei einer Direktwahl für Beck als Kanzler entscheiden, eine ebenso große Zahl würde inzwischen Angela Merkel wählen.
5. Die SPD täte gut daran, sich nicht erst nach der Bundestagswahl 2009, die mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu gewinnen ist, auf die Ära nach Müntefering und Beck einzustellen. Dafür sollte sie systematisch nach Persönlichkeiten Ausschau halten, die als Führungsreserve bei der Besetzung von Ämtern in Ländern und Gemeinden dienen könnten sowie bei der Erneuerung der Partei. Talente sollte sie nicht nur unter den (zu wenigen) jungen Mitgliedern suchen, sondern auch – wie in Hamburg – im weiteren Umfeld der SPD. Nur wenn sich die SPD außerhalb der jetzigen Funktionärs- und Führungskader personell konsequent erneuert, kann sie hoffen, bei den Wählern verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen.
6. Will sich die SPD neu aufstellen, muss sie weit über die Wahljahre 2008 und 2009 hinausblicken und Niederlagen einkalkulieren – ohne sich dadurch auf dem langen Weg der Erneuerung entmutigen zu lassen. Für die bevorstehenden Wahlkämpfe wird man allenfalls taktisch oder handwerklich besser arbeiten können als in der Vergangenheit. So ließe sich zum Beispiel die Wahlwerbung gegenüber der Bundestagswahl 2005 verbessern, bei der die Werbemittel der SPD deutlich schlechter bewertet wurden als die aller anderen Parteien. Und in Niedersachsen wäre es denkbar, im Wahlkampf ausschließlich an die Loyalität der SPD-Anhänger zu appellieren. Jedes Plakat mit dem Konterfei des Spitzenkandidaten hingegen wäre kontraproduktiv, weil es viele potenzielle SPD-Wähler zur Wahlenthaltung motivieren würde.
Zudem sollten alle öffentlichen machtpolitischen Überlegungen über etwaige Koalitionen vermieden werden. Nicht nur, dass eine Ampelkoalition schwer zu realisieren wäre, weil die Wähler der FDP und der Grünen trotz aller soziostrukturellen Ähnlichkeiten in den Grundlinien der Politik vollkommen unterschiedlich denken. Auch durchschauen die Bürger derlei Spekulationen als bloße Machttaktik und bewerten sie entsprechend negativ.
7. Für ihre Zukunft ist es von existenzieller Bedeutung, dass die SPD darüber nachdenkt, wie sie wieder in engeren Kontakt zu den Menschen treten kann. Ortsvereins-Nostalgie ist keine Lösung. Das an sich ja vollkommen richtige Wehnersche Konzept eines „Stimmbezirksobmanns“ lässt sich mangels Mitglieder nicht mehr realisieren. Die SPD sollte systematisch vorgehen und überlegen, wie die noch vorhandenen Mandatsträger in den Kommunen, Ländern und im Bund gemeinsam wieder Zugang zu den Menschen finden. Dazu müsste man vorab prüfen, wie die Mandatsträger heute wahrgenommen und welche Erwartungen an sie geknüpft werden.
8. Eine langfristige und dauerhafte Renaissance der SPD kann nur von unten kommen. Deshalb muss die Partei wieder an ihre alten kommunalpolitischen Tugenden anknüpfen. Sie sollte sich darüber Gedanken machen, wie sie auch mit knappen finanziellen Ressourcen den Bedürfnissen der Menschen vor Ort gerecht wird. Möglich wäre zudem eine Analyse der Politik in Städten und Gemeinden, in denen die SPD noch akzeptable Wahlergebnisse erzielt und ein Vergleich mit der Politik, die sie in Städten mit hohen Wahlverlusten betrieben hat. Dabei sollte die SPD unter anderem über die Rolle des öffentlichen Dienstes und über Sinn und Unsinn einer weiteren Privatisierung öffentlicher Leistungen nachdenken.
Nur wenn die SPD vor Ort Vertrauen zurückgewinnt, wird sie für diejenigen Wähler und Bürger wieder attraktiv, die sich auf lokaler Ebene – oft jedoch nur punktuell – für die Partei engagieren würden. Und nur wenn Vertrauen vor Ort entsteht, wird sich mittel- und langfristig auch wieder Vertrauen auf Länder- und Bundesebene bilden.
9. Die SPD und die ihr nahe stehenden Organisationen müssen sich stärker als bislang für breite Schichten der Gesellschaft öffnen. Die etwa in der SPD-nahen Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte zu beobachtende Tendenz, einen ausschließlich „linken Diskurs“ zu führen, ist dabei ebenso wenig hilfreich wie die Tatsache, dass sich die SPD-Mitgliederzeitung Vorwärts viele Jahre lang auf die Bespiegelung der Bedürfnisse der SPD-Mitglieder konzentrierte. Nur wenn die SPD alle Schichten der Gesellschaft anspricht, kann sie sich vielleicht noch einmal als „Volkspartei“ im eigentlichen Sinn des Wortes positionieren.
Dabei helfen allerdings Spekulationen über neue „politische Milieus“ wenig, wie sie etwa die recht einseitig ausgerichtete Sozialforschung der Friedrich-Ebert-Stiftung am laufenden Band produziert. Solche aus dem Marketing für Konsumprodukte hergeleiteten „politischen Typen“ sind heute ebenso albern und wertlos wie vor über zwanzig Jahren, als sie die Partei 1984 mit dem Etikett „Planungsdaten für die Mehrheitsfähigkeit der SPD“ schon einmal mehr verwirrten, als sie zum Wahlsieg beitrugen. Zur Mehrheit verhalf der SPD erst 14 Jahre später bekanntlich nicht diese „Milieu“-Wirrnis, sondern der Kandidat Gerhard Schröder.
10. Auch die sich formierende Linkspartei darf die SPD nicht dazu verleiten, sich weiter „links“ zu positionieren. Die SPD muss eine Partei bleiben (oder wieder werden), die heterogene Wählergruppen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen und Interessen binden kann. Deshalb muss die Partei eine permanente Modernisierung der Gesellschaft und dementsprechend eine Politik im Interesse der Mehrheit der Menschen garantieren. Je attraktiver die SPD für viele Gruppen der Gesellschaft ist, desto eher wird sie auch die heutigen Anhänger der PDS/Linkspartei für sich gewinnen oder zurückgewinnen können.
11. Die SPD hat die jetzigen und künftigen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse oft falsch interpretiert. Es kommt darauf an, auf der Basis einer realitätsnahen Analyse der gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse die Gesellschaft zum Wohle der Mehrheit und nicht zur Befriedigung der Bedürfnisse der SPD-Führungskader zu verändern.