Nur auf uns selbst kommt es an!
Harald Welzer packt an. Vor allem uns alle: „Nur auf Sie kommt es an.“ Immer wieder adressiert der Autor direkt den Leser, etwa wenn er individuelle Bequemlichkeit als eigentliches Hindernis für den Übergang in eine nachhaltige Zukunft darstellt: Wir leben in zu großen Wohnungen, essen zu viel Fleisch, reisen zu häufig, verbrauchen zu viel Energie. Und wir denken viel zu wenig darüber nach, dass endloses Wachstum auf einem begrenzten Planeten physikalisch unmöglich ist.
Welzers Buch ist gespickt mit scharfsichtiger und historisch-kulturell differenzierter Dekonstruktion von gesellschaftlichen Institutionen, Praktiken, Idealen und Lösungsansätzen. Dadurch bricht er mit den allzu oft vorgetragenen geschichtsvergessenen Argumentationen, die den Status quo als unsterbliche Normalität ansehen. Es fällt schwer, dieses assoziativ und anekdotisch geschriebene Manifest zusammenzufassen. Vier Botschaften sind zentral.
Letzte Ausfahrt Anthropozän?
Erstens: Wir sind im Anthropozän angekommen. Dieser Begriff wird von Geowissenschaftlern für ein neues Zeitalter verwendet, das sich von den vorherigen Epochen darin unterscheidet, dass der Mensch Wirkungen entfaltet, die das Erdsystem verändern. Sowohl die Inanspruchnahme von Umwelt und Ressourcen pro Kopf als auch die Anzahl der Köpfe haben so rapide zugenommen, dass menschliches Verhalten die natürlichen Kreisläufe aus der dynamischen Balance zu bringen droht. Von diesem Ausgangspunkt aus entwickelt Welzer das wichtige Argument, dass der Klimawandel nur eine relativ gut erforschte Dimension von mehreren „planetaren Grenzen“ darstellt, die durch expansive kapitalistische Industriegesellschaften gesprengt werden.
Öko-Alarmismus ist Teil des Problems
Zweitens: Unser Entwicklungsmodell ist nicht nachhaltig. Die tieferliegende Grammatik der „expansiven Moderne“ besteht darin, dass die Natur als Mittel zur Befriedigung unendlicher menschlicher Bedürfnisse verstanden wird und soziale wie ökonomische Institutionen diesem Ziel dienen. Die nach Rendite strebende Finanzwelt, globale Wettbewerbsstrukturen sowie eine „immer-alles-Kultur“ bilden eine Allianz, die sogar warnende Ökos zu Komplizen macht: Der Alarmismus in Bezug auf begrenzte Ressourcen befeuert deren weitere Ausbeutung. Warum?
Zu erwartende Engpässe führen zu erhöhten Preisen, weshalb möglichst schnell möglichst viele Ressourcen gesichert werden sollen, und zwar sowohl zur Versorgung als auch zur Spekulation. Welzer betont, dass wir diesen Mechanismus nicht als Dysfunktionalität betrachten, sondern ihn als normale Entwicklung unter den gegebenen Strukturen diskutieren und hinterfragen sollten. Häufig sind „Lösungen“ in Wirklichkeit nur Verlängerungen dieser Grammatik: Beispielsweise ist die Macht der Konsumenten zwar ein wichtiges Instrument, aber dennoch eine reine Reaktanzmacht am Ende der Wertschöpfungskette ohne wirkliche Gestaltungskraft, wenn es um die Frage geht, was denn überhaupt produziert wird.
Drittens: Nachhaltige Gesellschaften brauchen andere Lebenswelten. Über veränderten Konsum hinaus müssen transformative Lösungen deshalb beim Alltagsverstand der Menschen (den „mentalen Infrastrukturen“) und dem gesellschaftlich geprägten Sinn- und Selbstverständnis (den „kulturellen Bindungen“) ansetzen. Es kommt darauf an, so Welzer, grammatikalisch anders gestrickte Alternativen aus der Praxis intelligent mit einer Geschichte darüber zu verbinden, welche Qualität von Beziehungen zwischen Menschen sowie zwischen Mensch und Natur entstehen kann.
Und es geht darum, aufzuzeigen, dass die „expansive Moderne“ viel Ruhe, Gesundheit, Kreativität, menschliche Beziehungen und Sicherheit kostet. Ohne die Vorstellung von Lebensentwürfen, Kooperationsmustern und Wertesystemen einer „reduktiven Moderne“ bleiben die Bemühungen um nachhaltige Lösungen in der ewig expansiven Grammatik gefangen und werden immer wieder unterwandert, wie etwa Finanzspekulationen auf Kohlendioxid- oder Lebensmittelmärkten zeigen.
Als Beispiele nennt Welzer Bewegungen, denen es um „Postwachstum“, Gemeinwohlökonomie, „Commoning“ oder „Transition Towns“ geht. Ihr gemeinsamer Nenner besteht darin, zunächst die Frage nach dem guten Leben zu stellen und dann zu überlegen, wie dieses möglichst ressourcenschonend verwirklicht werden kann. Hier entstehen Praktiken der Zukunftsfähigkeit.
Viertens: Transformation entsteht durch Achtsamkeit und eine Kultur der Kooperation. Die Meta-Dimension erfolgreicher Veränderung in Richtung einer nachhaltigen Gesellschaft umfasst also auch unsere Art des Reflektierens und Wissen-Schaffens. In einer Zeit, in der die Stabilität vieler bisheriger Trends in Frage gestellt ist, werden Handlungsmaximen zentral wie das Probieren, Abbrechen, Aufhören, Innehalten, Pausieren und Experimentieren. Anstelle linearer Planungen ist ein „Utopisches-bis-auf-Weiteres“ gefragt, das sich an weniger Material, weniger Dreck, weniger Müll, weniger Energie orientiert und von Neugier, Wünschen und Träumen getrieben wird.
Und was heißt das alles für die Politik?
Hier spiegelt das Buch wunderbar den Geist all jener Wissenschaftler wider, die sich in dem wachsenden Feld der Transitions- oder Transformationsforschung versammeln und einen transdisziplinären Forschungsansatz verfolgen: Raus aus dem Elfenbeinturm! Die Wissenschaft hat eine Bringschuld, der Gesellschaft bei der Überwindung beharrlicher Probleme zu dienen, und sollte dafür die Expertise der experimentierenden Praktiker systematisch aufgreifen.
Was heißt all das für die Politik? Für Welzer ist sie in einem Pragmatismus gefangen: Sie sichert sich die Unterstützung von Wählern und Klientelgruppen durch kurzfristige Besitzstandswahrung. Aber wie wollen wir ohne mutige Politik eine ganze Gesellschaft verändern? An diesem Punkt bleibt der Autor leider sehr ungenau. Immer wieder spricht Welzer von „uns“ und „man“: „Man“ müsste die neuen Communities of Practice nur sichtbar machen – doch wer genau tut das?
Einmal attestiert Welzer „uns“ alle Freiheiten für Widerstand, erkennt auf der anderen Seite aber an, dass ein Ausstieg aus immer stärker beschleunigten Wettbewerbsstrukturen Angst macht. Mal erklärt er, die Zeit der Belehrungen sei vorüber, dann aber kommt er selbst immer wieder arg oberlehrerhaft daher. Mal behauptet Welzer, die „reduktive Moderne“ biete höhere Lebensqualität, doch an anderer Stelle im Buch fordert er uns allerdings auf, unsere Wohlfühlzonen zu verlassen und auf Wohlstand verzichten.
Das Buch ist somit selbst ein großartiges Beispiel für die Unklarheiten und Suchprozesse in einer Zeit, in der die alten Sicherheiten bröckeln. Es ist eine tolle Ansammlung von Einladungen, wie man anders denken, bewerten und agieren kann. Der Band gibt vielen Pionieren eine Bühne, die das Risiko der Normabweichung auf sich nehmen und die Leser bekommen Ideen, wo sie das in ihnen selbst schlummernde revolutionäre Potenzial einbringen können.
Diese alternativen Praxisbeispiele liefern Beweise, dass andere Lebenswelten möglich sind – und damit wichtige Argumente für weitsichtige Pioniere der Politik. Denn diese werden gebraucht und verdienen ebenfalls Anerkennung. Schließlich ist auch Harald Welzer überzeugt: Für soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit im globalen Maßstab braucht es andere Modelle des Verteilens, Wirtschaftens und Lebens. Vonnöten ist „die ernsthafte und konfliktträchtige Auseinandersetzung darüber, was man für die Zukunft behalten und was man aufgeben möchte. Und gegen wen man das daran geknüpfte Interesse durchsetzen muss“.
Für einen "Lifestyle of Relief and Fun"!
Es ist deshalb höchst verwunderlich, dass Welzer sich andernorts zu einem Aufruf hinreißen ließ, nicht wählen zu gehen. Denn wer, wenn nicht gewählte Politik soll diese Auseinandersetzungen moderieren und dann in Regeln für Markt und Gesellschaft übersetzen, wodurch Nachhaltigkeitspioniere aus ihrer Nische kommen können?
Die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ hat wichtige erste Schritte der Konsensbildung über die Parteien hinweg geleistet: Sie erkannte an, dass die Grenzen unseres Planeten an einigen Stellen bereits überschritten sind, dass bisherige Effizienzstrategien oft Rebound-Effekte zulassen, so dass der Umweltverbrauch trotzdem steigt, und dass mehr materieller Wohlstand ab einer in Deutschland längst überschrittenen Grenze nicht zu mehr Lebensqualität führt, sondern dafür primär soziale Beziehungen, Wertschätzung und individuelle Gesundheit ausschlaggebend sind.
Im Lichte dessen haben sich SPD, Grüne und Linkspartei in der Enquete-Kommission auf das Ziel einer sozial-ökologischen Transformation geeinigt. Über den besten Weg dahin gibt es zwar noch viele Unstimmigkeiten, aber dieses Ziel hat damit nicht weniger Rückhalt in der Bevölkerung als konservative Ansätze, die sich den Trends im Endeffekt auch nicht verweigern werden können. Die Übernutzung unserer Erdsysteme, die finanzielle Instabilität und inakzeptable Ungleichheiten werden ja nicht verschwinden, nur weil es Deutschland momentan noch vergleichsweise gut geht.
Im Gegenteil: Wir haben die Verantwortung, weniger krisengebeutelte Zeiten für demokratische Prozesse der Veränderung zu nutzen, anstatt auf weitere Schocks von außen zu warten. Die neue Regierung sollte deshalb Räume für Dialoge schaffen, in denen unter breiter Partizipation ein zukunftsfähiger Wohlstandsbegriff für das 21. Jahrhundert und entsprechende Leitziele mit Indikatoren für Politik und Wirtschaft formuliert werden. Bis 2016 steht sowieso eine Revision der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie an, und Angela Merkel hat im Juni einen internationalen Expertendialog zu Lebensqualität veranstaltet – er sollte der erste einer ganzen Reihe sein.
Um in diesem Prozess kreative Aufbruchstimmung zu schaffen, helfen die von Welzer immer wieder angeführten Visionen der zukünftigen Lebenswelten weiter: Wie könnte denn Ihr LORAF aussehen, Ihr „Lifestyle of Relief and Fun“ mit einer 25-Stunden-Woche, in der Sie sich nicht mehr so viel darum sorgen, was abgesichert, verstaut, umgezogen, bezahlt und Instand gehalten werden muss, sondern dies den neuen Geschäftsmodellen der kreislaufbasierten Dienstleistungen überlassen – oder sie gleich selbst mit organisieren?
Harald Welzer, Selbst Denken: Eine Anleitung zum Widerstand, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2013, 336 Seiten, 19,99 Euro