Ohne Führung wächst kein Vertrauen

zu Peer Steinbrück, Was Willy wirklich sagen wollte, Berliner Republik 4/2010

Nicht zum ersten Mal plädiert Peer Steinbrück für die Bereitschaft zum Wandel – eigentlich mehr noch für die Befähigung, sich diesem zu stellen, ihn nach Möglichkeit zu steuern, statt von seinen Strudeln hilflos mitgerissen zu werden. Genau das ist gemeint, wenn er Willy Brandt anruft: „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer.“ Von selbst kommen vor allem keine klugen Lösungen für ständig neue Herausforderungen. Begegnen lässt sich ihnen nur unter Besinnung auf die eigene Kraft und die Bereitschaft, auf der Höhe der Zeit zu sein. Völlig zu Recht kritisiert Steinbrück das Gegenteil: Beharrungstendenzen und Zögerlichkeiten in seiner Partei und in der Gesellschaft insgesamt. Eigentlich ereignet sich zurzeit noch mehr, nämlich eine Rolle rückwärts nach ehedem verdienstvoll eingeleiteten sozialpolitischen Reformen. Dabei stellt die Tagesordnung der Zukunft – sie ist längst Gegenwart – fundamentale Fragen, auf die gewohnte Paradigmen und Mentalitäten keine Antworten finden. Sie verlangen Umdenken und Umbrüche im Gewohnten.

Schaffen die Parteien das? Oder werden sie von diesen Transformationsprozessen einfach übergangen? Bringen sie die Kompetenz zur Mitgestaltung auf? Steinbrücks Zweifel an der eigenen Partei lassen sich durchaus auch auf alle anderen ausdehnen. Politische Beharrungstendenzen sind allerdings nicht nur auf politische und intellektuelle Unbeweglichkeiten zurückzuführen, sondern auch auf die Neigung der Wähler, Reformen und Ungewohntes abzustrafen. „Unterm Strich zähl ich“ – eine Maxime, die zukunftsfähige Einsichten verstellt. So wie sich unsere Gesellschaft diesem Problemkreis und dem Begriff „Reform“ nähert, sind auch Zweifel an ihrer Fähigkeit zu rationalem Umgang mit dem Neuen erlaubt.

Das Neue? Eine schrumpfende und alternde Gesellschaft ohne historisches Beispiel, die wirtschaftliche, soziale und nicht zuletzt kulturelle Probleme aufwirft; eine Wissensgesellschaft mit anderen Anforderungen an Bildung und Qualifizierung als die Industrie- und Arbeitsgemeinschaft sie kannte; eine Zuwanderungsgesellschaft mit drängenden Integrations- und Toleranzproblemen; eine Globalisierung, die Intelligenz im Umgang mit Informationen und effizientem Wirtschaften voraussetzt; und jüngst eine globale Finanzkrise, deren Ende und Folgen noch nicht absehbar sind. Ist all das steuerbar? Optimisten behaupten es. Versuche dazu setzen allerdings Einsicht in Realitäten voraus – anstatt jener Verdrängung, in der wir seit Jahrzehnten Meister gewesen sind. Verlangt ist in der Tat jenes Umdenken, das Mehrheiten nicht wollen, und das Parteien ihnen wegen der damit verbundenen Machtrisiken nur zögerlich oder gar nicht zumuten.

Geboten wäre entschiedene politische Führung. Denn ohne Führung, Richtungsanzeige und Zukunftsperspektive „weiß das Volk nicht, wohin Hand und Fuß setzen“ (Konfuzius). Die Kommunikationsleistung der Politik ist in dieser Hinsicht seit langem erbärmlich. In Ungewissheiten, ja im Nebulösen gelassen, ist vom Volk kein Aufbruch zu neuen Ufern zu erwarten. Wo nicht einmal eine Perspektive gewiesen wird, kann auch kein Vertrauen wachsen.

Zudem kommt es nicht nur auf Offenheit für Wandel an sich an, sondern darauf, ihm eine Richtung zu geben. Nicht um  die Verschwisterung mit dem Zeitgeist ist es Brandt in jenem Zitat gegangen, das Steinbrück ausgegraben hat, sondern darum, auf der Höhe zu sein, „wenn Gutes bewirkt werden soll“. Das ist eine entschieden wertorientierte Aussage, die jeder bloß retardierenden oder reagierenden Politik den Boden entzieht, um im Strudel des Wandels nicht normativ unterzugehen. Sie fordert erst recht politische Führungskompetenz, nicht nur psychologisch und kommunikativ, sondern in der bestmöglichen Beherrschung der Sache. Wird diese Kompetenz wenig – bisweilen auch gar nicht – gezeigt, liegt die im Volk allzu weit verbreitete Vermutung nahe, es mangele grundsätzlich an ihr.

Man täusche sich nicht: Ohne beide Dimensionen politischer Führung werden sich weder Mentalitäten noch institutionelle Faktoren, die Steinbrück nicht unerwähnt lässt, überwinden und für die geforderte Dynamik öffnen lassen. Derzeit wenigstens scheint es, als ob die Parteien der „Bewegung“ und der „Beharrung“, die Tobias Dürr vor einem halben Jahrzehnt gegen die überkommenen Strukturen und Kontroversen in den Köpfen entstehen sah, gar nicht mehr im offenen Wettbewerb stehen. Die die Parteigrenzen transzendierende „Partei der Beharrung“ ist, so mein Eindruck, inzwischen wieder weit voraus. Der Wandel wird sich um sie nicht scheren. Er wird sie liegen lassen – links wie rechts und in der Mitte. Das ist es wohl, was Steinbrück uns sagen wollte.  «

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